„Es soll über alle deutsche Imagination abscheuelig seyn“. Mit diesen Worten empört sich kein Geringerer als Georg Christoph Lichtenberg über die Marseiller Sex-Affäre des Marquis de Sade, der 1772 mehrere Prostituierte mit Kantharidin-Dragées gefügig gemacht hat, um anschließend mit seinem Diener der Sodomie zu frönen. Dumm nur, dass die für die Orgie angeworbenen Damen aufgrund eines übermäßigen Verzehrs von kantharidinummantelten Leckereien das Kotzen bekamen und den Marquis daraufhin verklagten, sie vergiftet zu haben. Obwohl sie aus dem Jahre 1772 stammt, hat die Aussage Lichtenbergs, hält man sie gegen den DSK-Skandal, nichts an Aktualität eingebüßt. Die chose um Dominique Strauss-Kahn ist denn auch tatsächlich, so die Polit-Talk-Größen Will, Illner sowie die Mehrzahl ihrer jeweiligen Gäste, über alle deutsche Maße hinaus abscheulich. In ihr tun sich die schwindelerregenden Abgründe des Sexualverhaltens französischer Machthaber auf. In Frankreich, so eine bei Maybrit Illner eingeladene Französin, pflege man mit solchen Dingen anders umzugehen. Was in Deutschland bereits als Belästigung gelte, sehe man im Nachbarland durchaus noch als mehr oder weniger harmlosen Flirt.
Elisabeth Guigou, ehemalige garde des Sceaux und Mitglied der PS, lässt dagegen schon weniger Rücksicht bezüglich des französischen Balzgehabes walten: Dominique Strauss-Kahn sei ein „libertin“, ein „dragueur“. Damit ist jener ominöse Schlüsselbegriff im auf dem Schlachtfeld der Moral ausgetragenen Kampf zwischen amerikanischem Puritanismus, unterstützt von der deutschen Prüderie und französischem Laxismus, schlussendlich gefallen. Ein Kampf, der einmal mehr deutlich macht, wozu es den neumodischen Beruf des Kulturmittlers überhaupt gibt.
Eric Fassin, Soziologe an der École normale supérieure, erklärt die Idee des libertinen Franzosen und dessen Gegenpart, des puritanischen Amerikaners, sei nichts weiter als ein erst in den 90-er Jahren des 20. Jahrhunderts entstandenes Klischee. Tatsache ist aber, dass die idée reçue des libertinen Franzosen schon wesentlich älter ist. Maßgeblich an ihrer Geburt beteiligt war der oben genannte DAF de Sade, bekannt als Autor philosophisch-pornographischer Werke und zugleich erste Showleiche im Kampf der wohlfeilen bürgerlichen Moral gegen das bedrohlich Andere. Eigentlich ging es aber stets weniger um sein anzügliches Opus als vielmehr um seine Person. Über die Hälfte seins Lebens verbrachte der 1740 geborene und 1814 verstorbene Marquis hinter schwedischen Gardinen, die meiste Zeit ohne Aussicht auf einen Prozess. Die erste Verhaftung erfolgte 1763: Der junge Donatien lockt die Nutte Testard in ein Haus, peitscht sie genüsslich aus und, excusez du peu, uriniert anschließend auf ein Kruzifix. Fünf Jahre später begleitet ihn die Bettlerin Rose Keller in ein Landhaus. Es kommen Fesseln, Messer und Peitschen zu Einsatz. Sade zählt die Hiebe und gießt zu guter Letzt auch noch flüssiges Wachs in die Wunden. Es folgen Anzeige und Vernehmung: Sade versucht zu erklären, er habe doch lediglich ein Mädchen verhauen, was er im übrigen inzwischen bereue. 1772 empören sich Frankreich und Deutschland über besagte affaire de Marseille, die ein Todesurteil de Sades wegen Vergiftung und Sodomie zur Folge hat. Um der Strafe zu entgehen, flüchtet der Marquis nach Italien, wird aber bald aufgegriffen und mittels einer lettre de cachet eingesperrt. Hat sie sonst immer eine schützende Hand über das ausschweifende Leben ihres Schwiegersohns gehalten, wird die einflussreiche bürgerliche Schwiegermutter nun zur Rächerin. Nachdem ihr Plan, die bürgerliche Tochter durch eine Heirat mit dem Spross der ehrwürdigen Familie de Sade zu adeln, aufgrund der Inhaftierung des Marquis gescheitert ist, fleht sie die den König an, das unliebsame Familienmitglied unschädlich zu machen. So beginnt de Sades Odyssee durch die Gefängnisse gleich dreier politischer Regimes. Ihr schmähliches Ende finden wird sie im Irrenhaus von Charenton, in Einzelhaft, unter Entzug aller Spaziergänge und ohne Schreibutensilien, mittels derer er seine schmählichen Schriften niederschreiben und verbreiten könnte. De Sade empört sich über seine missliche Lage: Jede Nutte schütze man, aber ihn, einen Edelmann, lasse man in Gefängnis verrecken... Hatte der Theaterliebhaber vor seiner Haft bereits einige Stücke und Gedichte verfasst, so ist es aber eigentlich erst der Freiheitsentzug, der ihn zum vollwertigen Schriftsteller macht. Aus den Gefängnismauern erhebt sich der homme de lettres Sade (so nennt er sich in seinem Testament) wie Phoenix aus der Asche. Ein dunkler Phoenix allerdings, jener vielzitierte blinde Fleck der Aufklärung. Er schreibt über die niedergeschmetterte Tugend, Justine, ein Stehaufmännchen der Vertu, und über den Triumph ihrer Schwester, der Lasterhaften Juliette. Während letztere auf dem speienden Vesuv tanzt, wird Justine, vom Blitz getroffen, einen elenden Tod sterben. Er schreibt philosophische Geschichten von Sex und Macht, indem er die ihm widerfahrene Realität verkehrt: Sex und Macht enden stets auf der Sonnenseite des Lebens. Justine wird zum versteckten Bestseller der Aufklärung. Das Werk erschüttert die Republik, Sade wird zum meistgehassten Mann Frankreichs. Im Zeitalter der Aufklärung sind erotische Texte nichts Außergewöhnliches, ein Novum ist vielmehr der völlig entfesselte und schonungslose Schreibstil der sadeschen Texte. Kein Werk hat den zivilisierten Menschen derart attackiert, keines die sensibilité derart mit Füßen getreten, die Vernunft in einer solchen Weise befleckt. So etwas darf einfach nicht sein!
Doch der von seiner Unschuld überzeugte Marquis gibt nicht auf: In jedem Brief seiner Frau sucht er nach versteckten Hinweisen auf sein bevorstehendes Freilassungsdatum. Er schreibt einen Brief nach dem anderen, kämpft für jeden Spaziergang. Gegen die Langeweile bestellt er sich, außer den neuesten Büchern, Unmengen von Essen: Schokoladentörtchen, Pasteten, Konfitüren und Marmeladen. Maßlos stopft er alles in sich hinein. Solange er noch Tinte und Papier bekommt, schreibt er Theaterstücke und führt sie mit Anstaltsgefährten auf. Als absolutes fin mot verfasst er drei bis heute kaum bekannte, sehr schickliche historische Romane. 1814 stirbt er schließlich, 74-jährig, fast blind, lungenkrank und äußert fettleibig im Hospiz von Charenton, wo er gegen seinen Willen christlich beigesetzt wird.
Vergessen ist er dagegen bis heute nicht. Justine steht, so der Literaturkritiker aus dem 19. Jahrhundert Jules Janin, in jedem bürgerlichen Bücherregal gleich hinter dem heiligen Chrisostomus. „Solche Männer gefallen mir, meint Gustave Flaubert, solche Ungeheuer verdeutlichen mir die Geschichte.“ Nach Guillaume Apollinaire ist Sade „der freieste Geist, der je gelebt hat“. Wie ein roter Faden zieht sich sein Werk durch dasjenige Balzacs, Baudelaires, Huysmans’ und Prousts. Der vorläufige Höhepunkt der Sade-Rezeption erfolgte 1990: Sade, der Bluthusten der Aufklärung, erscheint unter dem Slogan „L’enfer sur papier bible“ in der ehrwürdigen Pléiade-Ausgabe, dies, nachdem der Verleger Jean-Jacques Pauvert noch dreißig Jahre zuvor für die Veröffentlichung von Teilen des Werks des Marquis vor Gericht gestanden hatte.
Im Deutschland des 18. Jahrhunderts steht Sades Vita demgegenüber für den Hochverrat an der Menschheit schlechthin. Sie gilt vor allem in der Revolutionszeit, flankiert vom schmählichen Werk, vornehmlich der Justine, die zum direkten Ausdruck der gräßlichen französischen Terreur gemacht wird, als Beleg für die im Nachbarland herrschende spezifische Liaison von Grausamkeit, Wollust und philosophischer Radikalität. Der Franzose gilt als geil, enthemmt, und zu Gewaltausbrüchen neigend. Als blutdurstiger Libertin wird der Franzose aus dem Geiste der biographistischen Rezeption des Marquis de Sade geboren. Hierbei geht es allerdings nicht so sehr um ihn selber, als vielmehr um eine ganze Klasse, die in der Person des göttlichen Marquis ihren Sündenbock findet und um die vorwiegend bürgerlichen Gegner dieses dekadent aristokratischen Milieus, für die er ein willkommenes Opfer darstellt. An ihm soll ein für alle mal ein Exempel statuiert werden!
Prototypisch hierfür steht die Rezeption des sadeschen Opus, gepaart mit derjenigen seiner Vita, durch den deutschen Arzt und Sexualforscher Eugen Dühren. In Das Zeitalter des Marquis de Sade konstruiert dieser, sozialpsychologisch verfahrend, den Marquis als Kind seiner Zeit, zugleich als Vertreter des Ancien Régime und der Revolution, als wüsteste Ausgeburt des libertinen französischen Nationalcharakters: „Der Marquis de Sade [...] ist durchweg ein Mensch des 18. Jahrhunderts. Zugleich ist er ein Franzose.“ Genuss à tout prix sowie Wollust sind nach Dühren, der die Endzeitstimmung des dix-huitième aufzeigen will, die Schlagwörter des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts. Kein Geringerer als Hegel schägt in seiner Philosophie der Geschichte in die gleiche Kerbe: „Der ganze Zustand Frankreichs in der damaligen Zeit ist ein wüstes Aggregat von Privilegien gegen alle Gedanken und Vernunft überhaupt, ein unsinniger Zustand, womit zugleich die höchste Verdorbenheit der Sitten, des Geistes verbunden ist, ein Zeichen des Unrechts, welches mit dem beginnenden Bewusstsein desselben schamloses Unrecht wird».
Vor allem von Dühren aber wird de Sade als getreues Spiegelbild dieser korrumpierten Zeit dargestellt: Jedes Jahrhundert habe seine endzeitlichen Ungeheuer, lautet das Urteil.
Wir hatten es eingangs erwähnt, es hat kaum eine Woche gedauert, bis im moralisch-politischen Kampf um Dominique Strauss-Kahn das Schlüsselwort „libertin“ fiel. Ausgesprochen wurde es von einer Frau. Auf männlicher Seite stellt sich die Sache etwas anders dar. Der ehemalige Kulturminister Mitterrands und jetzige Kaviar-Sozialist Jack Lang lässt sich zu der Aussage verleiten, es sei doch niemand zu Tode gekommen, während Lifestyle-Philosoph Bernard-Henry Lévy den heroischen against-all-odds-Ehefrauengestus der Anne Sinclair berücksichtigt wissen will. Die Stimmen teilen sich zwischen Entrüstung über den libertinen Rezidivisten und Erstaunen über das harte Durchgreifen der Amerikaner, zwischen einem weiblichen Blick und einem männlichen. Es ist ein Kampf der öffentlichen Meinung, die sich in Amerika (und in Deutschland) so ganz anders verhält als in Frankreich. Während in Frankreich, mit Ausnahme des revolutionären Intermezzos um 1789, während dessen die private Vertu auf eigentümliche Weise mit der öffentlichen verschmolz, das Private schon immer vom Öffentlichen getrennt wurde, ist es in den USA genau anders herum. Man schließt vom privaten Leben der politischen VIPs auf deren öffentliche Arbeit. So versteht man die Empörung V.D. Hansons, tätig für die National Revue, über den Sozialisten DSK, der sich benehme wie ein Angehöriger des königlichen Hauses im achtzehnten Jahrhundert, dem droit de cuissage über ein Zimmermädchen frönend...
Im Fall DSK ließe sich so manche Parallele zu der chose Sade ziehen: Alle beide konnten und können sie es nicht lassen, sich mehr als unschicklich gegenüber Untergebenen zu verhalten, beide sehen sie sich als Opfer eines anti-aristo-kratischen beziehungsweise politischen Komplotts, in beiden Fällen wird die Unterscheidung zwischen Öffentlich und Privat aufgehoben, und beide werden, stellvertretend für ein ganzes Milieu, als libertins beschimpft und an den moralischen Pranger gestellt. Einmal mehr wird die Wandel der Libertinage von einem komplexen philosophischen Gebilde zur moralisch-sexuellen und zugleich wertenden Begriff deutlich.
Fest steht, dass hier mit Klischees aus dem 18. Jahrhundert gekämpft wird, deren Provenienz mittels des Falls de Sade dargestellt und erläutert werden konnte. Genau so wie Sade in der öffentlichen Meinung zum sexuellen Wiederholungstäter aus aristokratischer Privilegienbetontheit wurde, steht DSK nun als Vertreter der „fuck me I’m famous“-Doktrine da. Der Rote Faden der Anwendungs- und Begriffsgeschichte des Terminus „libertin“ führt uns also durch die Wirren der Verstrickungen von Sex und Macht vom Marquis de Sade geradewegs zu Dominique Strauss-Kahn, vom 18. Jahrhundert ohne Umwege ins 21., aus den Betten der Mätressen der großen Könige und Adeligen zu Vergewaltigungsszenerien in Hotelsuiten.
So gesehen, schrumpft die Sittengeschichte von Jahrhunderten zu einem einzigen ebenso bedeutungsschwangeren wie schicksalhaft-tragischen Augenblick zusammen. Einem Augenblick allerdings, der niemals eigentlich wirklich einmalig ist, sondern vielmehr als das Ergebnis der stetigen Wiederholung der Geschichte im Handeln des Individuums erscheinen muss.