Der Beton, der am Leudelinger Eisenbahn-Haltepunkt verbaut wurde, sieht noch ganz frisch aus. Der Bahnsteig ist neu, die Unterführung ist neu, und die Treppen sind so breit, dass man meint, sie seien für hunderte auf einmal hier ankommende Passagiere gemacht.
Dabei gibt es im Ortsteil Leudelingen-Bahnhof nur ein paar Einfamilienhäuser. Von Leudelingen selbst liegt die Haltestelle drei Kilometer entfernt und die hiesige Rue de la Gare ist womöglich die längste Straße dieses Namens im Lande. Aber der zweigleisige Ausbau der Bahnstrecke zwischen der Hauptstadt und Petingen hat allen Unterwegsbahnhöfen zu einer Renovierung verholfen. Und wenngleich die Gemeindeführung nichts zu tun hat mit der großzügigen Infrastruktur: Geht es nach ihr und einem privaten Immobilienunternehmer, dann soll nördlich des Haltepunkts auf einer Fläche von neun Hektar ein Wohnviertel für an die 700 Einwohner entstehen. Würde es realisiert, wüchse die Gemeinde an Bewohnern um rund ein Drittel.
Was die Anwohner, die hier schon leben, von dieser Aussicht halten, ist nicht zu ermitteln an diesem Sommernachmittag. Die Rue de la Gare ist auf Höhe von Leudelingen-Bahnhof völlig menschenleer. Dafür ist der Autoverkehr um so reger; die Unterführung unter den Bahnschienen für die Straße ins benachbarte Bartringen wurde ebenfalls renoviert. Schon denkbar, dass der Verkehr noch zunähme, wenn der Ortsteil um hunderte Einwohner wüchse.
Könnte das Wohnungsbauprojekt zum Thema werden, wenn im September der Wahlkampf beginnt? Der Mouvement écologique nannte es im Frühjahr Ausdruck eines „Wachstumswahns“, dem die Leudelinger Gemeindeführung erlegen sei. Die hat schon einen jahrelangen Kampf für das Projekt hinter sich. Der Umweltverband argumentierte mit dem IVL-Konzept. Diesem zufolge gehört Leudelingen zu einer „Zone verte interurbaine“, die den Großraum um die Hauptstadt vom Landessüden trennen soll. Staatliche Landesplanung sollte der Gemeinde deshalb lediglich „Eigenentwicklung“ zugestehen, steht im IVL – weil damit kein Bevölkerungswachstum um ein Drittel gemeint ist, wurde das Bauvorhaben vom Innenminister auch schon abgelehnt.
Wahrscheinlich aber wird der Wahlkampf sich nicht an den Häusern beim Bahnhof entscheiden. Nicht nur, weil in Majorzgemeinden Personen vor Sachthemen den Ausschlag geben. Sondern auch, weil Leudelingen eine Art Sonderwirtschaftszone geworden ist, die Entwicklungsversprechen an ihre Bürger machen kann.
Der erste Bürger der Gemeinde spricht über Wachstum und Entwicklung gerne. Rob Roemen, der frühere Chefredakteur des liberalen Lëtzebuerger Journal, zählt Infrastruktur-Errungenschaften der letzten sechs Jahre auf: Einen Kultur- und Vereinsbau hat Leudelingen erhalten. Ein Jugendhaus. Einen Freizeitpark mit Naturlehrpfad, Pétanque-Terrain und Scouts-Home. Den neuen Wasserturm natürlich, aber auch neue Abwasseranschlüsse für über 300 Bürger. Und wenn im September die Post Hochgeschwindigkeits-Internetverbindungen via Glasfaserkabel frei schaltet, „dann werden wir die erste Gemeinde im Lande sein, in der wirklich alle ans Glasfasernetz angeschlossen sein werden – auch wenn andere Gemeinden dasselbe von sich behaupten“.
Doch solche Investitionen, auch wenn die Gemeinde nicht alles davon bezahlt, kosten Geld. Als Roemen nach den Wahlen 2005 sein Amt antrat, erwähnte er in seiner Schöffenratserklärung „mit Beunruhigung“ eine Pro-Kopf-Verschuldung der Gemeinde von 4 452 Euro. Sechs Jahre später ist sie mit 9 835 Euro mehr als doppelt so hoch. Ein Desaster? Nicht unbedingt, denn der Schuld von über zwei Millionen Euro stehen im Gemeindebudget 2011 ordentliche Einnahmen von acht Millionen Euro gegenüber.
Damit wird Leudelingen zwar nicht ganz der Vorgabe aus dem Innenministerium gerecht, nach welcher der Schuldenstand einer Gemeinde möglichst nicht höher sein sollte als ein Fünftel ihrer ordentlichen Einnahmen. Doch für die Zukunft winkt weiter steigendes Gewerbesteueraufkommen. Weil nur Unternehmen aus der Finanzbranche wirklich viel von der auf den Gewinn erhobenen kommunalen Gewerbesteuer zahlen, trifft es sich für Leudelingen gut, dass nach der Foyer-Gruppe mit La Luxembourgeoise im November das zweite Finanzunternehmen seinen Firmensitz im Gewerbegebiet Am Bann aufschlägt. Die Raiffeisenkasse wird in absehbarer Zeit folgen.
Von heute 4 000 werde sich die Zahl der Arbeitsplätze nach und nach auf 8 000 verdoppeln, sagt der Bürgermeister; so viel gäben die Gewerbeflächen her. Wie viele davon das kleine Leudelingen hat, illustrierte vor drei Jahren eine Erhebung für das Landesplanungsministerium: Zwischen 1997 und 2006 wurden in Leudelingen 24 Hektar Gewerbefläche erschlossen. Nur in der Hauptstadt, in Esch-Alzette und in Junglinster waren es noch mehr.
Falls im Wahlkampf das Gespräch auf das Wohungsbauprojekt am Bahnhof kommt, wird der Bürgermeister es vielleicht als Teil eines Systems erklären: Die vielen Gewerbeflächen ziehen Betriebe an, deren Steuern lassen die Gemeinde prosperieren. Doch weil mit den Berufspendlern der Autoverkehr weiter wächst, wolle man den vor Ort Arbeitenden auch die Möglichkeit zum Wohnen geben. Das habe nun auch die Regierung begriffen, die am Freitag vergangener Woche das 2 200-Seelen-Dorf in den Rang einer so genannten IVL-Gemeinde hob, die Wohnvorrang-Status hat. Dass auch der Fonds de logement am Leudelinger Bahnhof bauen wird, soll verhindern, dass dort nur teurer Wohnraum entsteht.
Dass im Gemeindewahlkampf jemand diesem Wachstum und Pros-perität versprechenden System ernsthaft widerspricht, ist um so unwahrscheinlicher, da es in der zu Ende gehenden Legislaturperiode dagegen keine Opposition gab. Dass mit immer mehr Betrieben vor Ort der Verkehr zunimmt, hat zu Planungen von Busspuren gemeinsam mit der Straßenbauverwaltung geführt, aber nicht zur grundsätzlichen Infragestellung der vielen Firmen-Ansiedlungen in der Gemeinde.
Vielleicht liegt das auch daran, dass bei den letzten Wahlen sieben der acht Kandidaten von der Roemen-Liste in den Gemeinderat einzogen und von der konkurrierenden Mannschaft nur Spitzenkandidat Victor Christophe, der frühere Sekretär der Leudelinger CSV. „Oppositionspolitik habe ich aber nicht gemacht“, resümiert Christophe die vergangenen sechs Jahre.
Der lokalpolitische Konsens könnte aber auch damit zu tun haben, dass eine florierende lokale Wirtschaft, die – bei allen Nebenwirkungen – Investitionen gestattet und Bevölkerungswachstum anstößt, den Weiterbestand Leudelingens als selbstständige Kommune sichern und verhindern hilft, irgendwann doch in die Hauptstadt eingemeindet zu werden: Keiner der Bürgermeister aus den Gemeinden im Südwesten der Hauptstadt-Agglomeration wehrte sich entschiedener als Rob Roemen gegen die Bildung einer Communauté urbaine mit Luxemburg-Stadt, an welche die Mitgliedsgemeinden einen Teil ihrer Planungshoheit, aber auch die Verwaltung ihrer kommunalen Gewerbegebiete abtreten sollten. Roemen nannte das „verkappte Fusionsversuche“ und wurde vom Gemeinderat einmütig unterstützt.
Daneben aber wirkt in Leudelingen ein „Roemen-Effekt“. Der Bürgermeister ist populär. Der pensionierte Journalist hat nicht nur Zeit, Vollzeit-Gemeindeoberhaupt zu sein. Er ist auch sehr bürgernah. Der Roemen-Effekt ist sogar so groß, dass die DP, der Roemen angehört, den Erfolg des Leudelinger Bürgermeisters gern auf sich bezieht. Als die Leudelinger Sektion der Liberalen sich im März im Café Beim Karin zu ihrer Jahreshauptversammlung traf, erweckte sie den Eindruck, Leudelingen sei eine Proporzgemeinde, in der nach Partei-Listen gewählt wird: „Mission accomplie“, stellte sie fest. „Alle seinerzeit im Wahlprogramm angekündigten Projekte“ seien „durchgezogen“ worden. Man habe „eine ausgezeichnete Arbeit im Sinne der Leudelinger Bürger“ geleistet und könne sich am 9. Oktober „guten Mutes dem Verdikt der Wähler stellen“.
So ganz unberechtigt ist das deshalb nicht, weil neben Roemen auch die beiden Schöffen Lotty Roulling-Lahyr und Raymond Kauffmann der DP angehören, und ebenso drei der sechs Gemeinderäte, unter ihnen der Vorsitzende des Ortsverbands. Und in größeren Majorzgemeinden ist es durchaus üblich, dass die Listen parteipolitisch beeinflusst werden, auch wenn nicht nach Partei-Listen gewählt wird und Roemens Liste 2005 auch eine parteilose Kandidatin und ein CSV-Mann angehörten.
Die DP hat jedoch vom Roemen-Effekt bereits über die kommunale Ebene hinaus profitiert. Als Roemen 2009 bei den Parlamentswahlen kandidierte, fuhr er in Leudelingen mehr persönliche Stimmen ein als Landes-Parteichef Claude Meisch, und es lag wohl auch an Roemen, dass die DP nirgendwo im Südbezirk besser abschnitt als in Leudelingen mit 19 Prozent.
Da ist es ganz passend, dass bei der Satirezeitschrift Den neie Feierkrop für Leudelingen der Beiname „Roemänien“ erdacht wurde. Die Bedeutung des Lokalmatadors reicht über die DP bis in die Hauptstadt, wo Parteifreund und Amtskollege Paul Helminger mittlerweile darauf verzichtet, Roemen öffentlich zu bedrängen, die kommunale Bautenverordnung Leudelingens so zu ändern, dass in den Gewerbegebieten weniger Parkplätze pro Bürofläche entstehen können – eine der Hauptattraktionen, die Leudelingen delokalisierungswilligen Betrieben aus der Hauptstadt bietet. Zwar ist Roemen Helminger schon entgegengekommen, genehmigt heute nur noch einen Parkplatz auf 40 Quadratmeter Büro, während es früher zwei waren. Ob Leudelingen noch strenger vorgehen sollte oder nicht, besprechen die beiden Bürgermeister aber schon seit längerem lieber unter sich.