Über Stadtplanung redet die Bürgermeisterin am liebsten. Bei Belval, Terres rouges und Nonnewisen kommt sie sogar ins Schwärmen, beschreibt gestenreich wie ein Feldherr die Nord- und Südachsen, die sich um das Stadtzentrum legen sollen. „Sicher“, gesteht sie zu, „die Industrie hat der Stadt und dem Land den Reichtum gebracht. Aber wir haben das seither nie aufgefangen bekommen“, die Folgen der Stahlkrise seit den Siebzigerjahren. Deshalb will Lydia Mutsch als die Bürgermeisterin in die Geschichte eingehen, die aus Esch-Alzette eine Universitätsstadt gemacht hat. „Wir sind im Wandel, der Süden ist im Wandel. In einer oder zwei Generationen haben wir den Sprung in die Wissensgesellschaft geschafft.“ Esch habe schon heute an Ausstrahlungskraft in der Großregion gewonnen, habe Kontakt mit ausländischen Universitätsstädten aufgenommen.
Doch noch ehe es so weit ist – und Belval ist noch immer eine riesige, unübersichtliche Baustelle –, haben Lydia Mutsch und ihre Parteikollegen schon ganz Erstaunliches zustande gebracht: Vor einem Jahrzehnt war die LSAP ausgerechnet in Esch, der Wiege der organisierten Arbeiterbewegung, am Ende, drohte aus dem roten Esch ein schwarzes Esch zu werden. Doch bei den von einer heillos zerstrittenen CSV verursachten Neuwahlen im Frühjahr 2000 wusste die neue Generation Escher Sozialisten unter Lydia [-]Mutsch die Gunst der Stunde zu nutzen.
Seit den Gemeindewahlen im Jahr 2005 ist die LSAP nur noch einen Sitz von der absoluten Mehrheit entfernt, und ganz Kühne im Escher Rathaus träumen davon, am nächsten 9. Oktober sogar noch einen Sitz hinzuzugewinnen und nicht mehr auf den kleinen grünen Mehrheitsbeschaffer angewiesen zu sein. Dazu machte die Partei auch einen radikalen Schnitt: Mit Ausnahme von John Snel und Jeanne Becker kandidieren bei der LSAP sämtliche Gemeinderatsmitglieder. Wer dagegen 2005 nicht in den Gemeinderat gewählt wurde, ist – mit einer Ausnahme – im Oktober nicht mehr dabei.
„Ich glaube nicht, dass man bloß mit einer Bilanz die Wahlen gewinnt. Es ist genauso wichtig, den Leuten ein Projekt, eine Zukunft anzubieten“, fasst Lydia Mutsch die Diskussion in ihrer Parteisektion über die angemessene Wahlkampfstrategie zusammen. Die ehemalige Leiterin einer Werbeagentur weiß, dass die Opposition nur wenig gegen die Idylle eines neuen Esch der Zukunft einwenden kann, sauber, grün, sicher, ruhig, ohne Staub, Werksirenen und Arbeitslose, mit freundlich durch die größte Fußgängerzone des Landes radelnden Wissenschaftlern. Um so mehr, als sich die politische Rechte und die Grünen neue Wähler versprechen können, wenn die Mittelschichten in der Arbeiterstadt die große Mehrheit stellen.
Doch bis dahin scheint die LSAP nicht viel von der bürgerlichen Konkurrenz zu fürchten zu haben. Die CSV hat sich auch nach zehn Jahren noch nicht von der Katastrophe von 2000 erholt. Ihr fehlen die zu höheren Ehren berufenen politischen Profis, François Biltgen, Viviane Reding und François Colling, die einst als aggressive „Stahlhelmfraktion“ die Sozialisten in Bedrängnis brachten. Bei der Nachfolgegeneration reichte es nicht einmal mehr zu einem Spitzenkandidaten, so dass die CSV als „liste de têtes“ statt mit einer „tête de liste“ in den Wahlkampf ziehen muss. In ihrer Wahlpropaganda erinnert sie daran, dass es keine LSAP-Schöffen, sondern CSV-Minister sind, die in Belval aus der „métropole du fer“ eine „cité des [-]sciences“ machen. Sie verspricht, sich bei der Bautenpolitik weniger zu verzetteln, und versucht die Stimmen von Wählern zu ködern, die über die vielen Baustellen und Umleitungen in der Stadt schimpfen. Nach einer Erneuerung des Sek[-]tionsvorstands im Juli 2010 habe die CSV „hart gearbeitet“, um „ein starkes Wahlprogramm“ aufzustellen, schreibt Ingenieur Jacques Hoffmann, der bei den letzten Wahlen glücklose Sektionspräsident, im Wahlkampfblatt Op de Punkt. Weil nur die CSV den Escher Sozialisten mehr als einen oder zwei Gemeinderäte entgegenzusetzen hat, nennt Hoffmann sie „die einzige glaubwürdige Alternative“.
Als Mittelstandspartei in der Arbeiterstadt fristet die DP ein politisches Schattendasein. Anwalt Pim Knaff, ihr einziger Gemeinderat und Spitzenkandidat, nannte vor kurzem in einem Interview mit dem Lëtzebuerger Journal als Wahlkampfthemen „die Attraktivität des Stadtzentrums“, den Straßenverkehr, die „objektive und viel mehr noch subjektive Unsicherheit“ und „ein attraktives Nachtleben“.
Auch von der ADR ist wenig zu erwarten, seit ein Teil der Sektion dem aus der Partei ausgetretenen Gemeinderat Aly Jaerling gefolgt ist. Ob der vor kurzem wegen Betrugs verurteilte ehemalige Abgeordnete erneut kandidiert oder die ADR in Esch 19 Kandidaten zusammenbekommt, bleibt möglicherweise bis zum letzten Augenblick offen.
Angesichts der Schwäche der Rechten dürfte sich also im Oktober eher auf der Linken entscheiden, ob die LSAP ihr Rekordergebnis halten oder gar den für die absolute Mehrheit nötigen Sitz hinzugewinnen wird. Denn in der zweitgrößten Stadt des Landes gibt es nicht nur die künftigen Retortenviertel der Diensleistungs- und Wissensgesellschaft. Neben einem auf mittelfristig 40 000 Einwohner veranschlagten Mittelschichten-Esch der Zukunft gibt es auch die gewachsenen Viertel der Arbeiterstadt mit ihrer politischen Tradition und nicht zuletzt deren so[-]zialen Probleme. Das mehrheitliche Nein zum Europäischen Verfassungsvertrag beim Referendum 2005 hatte gezeigt, dass Esch politisch noch immer anders tickt als die meisten Städte und Gemeinden.
In Esch wird dem rot-grünen Schöffenrat nicht nur vorgeworfen, bei seinem Zukunftsprojekt für Esch manchmal übers Ziel hinauszuschießen, wenn er André Heller die Gestaltung des Brill-Platzes überlassen oder den Luxemburger Pavillon der Weltausstellung von Shanghai nach Esch holen will. Bürgermeisterin Lydia Mutsch seufzt, dass die Arbeitslosenrate in Esch doppelt so hoch wie im Rest des Landes ist, das Bildungsniveau deutlich unter dem Landesdurchschnitt liegt. Die besser qualifizierten Escher führen in die Hauptstadt zur Arbeit, in Esch blieben die sozialen Probleme, die Arbeitslosigkeit, die Wohnungsnot, die Obdachlosen.
Diese Widersprüche zwischen der Arbeiterstadt der Gegenwart und dem Mittelschichten-Esch der Zukunft prägen auch die Politik und ziehen sich manchmal quer durch die Parteien. Die dominierende LSAP versucht, beide Seiten zu bedienen, etwa mit der eher rechten Bürgermeisterin Lydia Mutsch auf der einen und der linken Sozialschöffin Vera Spautz auf der anderen Seite.
Doch „der soziale Graben“ werde tiefer. Jeder Zehnte in Esch beziehe den sozialen Mindestlohn“, stellt Marc Baum fest. „Belval spielt für den Alltag der Leute keine Rolle“, meint der Stadtrat von déi Lénk achselzuckend. Deshalb konzen[-]triert sich die Linke auf soziale Forderungen: gestaffelte Wasserpreise, mehr Sozialwohnungen, bessere Schulförderung in den ärmeren Vierteln.
Ob das am 9. Oktober reichen wird, ist nicht abzusehen. Denn die Linke muss ohne ihren Erstgewählten, den Abgeordneten und ehemaligen Schöffen André Hoffmann, auskommen, der 2005 mehr als dreimal so viele persönliche Stimmen wie der Zweitgewählte bekam. Zudem kandidiert auch wieder die Kommunistische Partei, die lange zusammen mit der LSAP die zweitgrößte Stadt des Landes regiert hatte, doch derzeit dem Gemeinderat nicht mehr angehört.
Bliebe der LSAP das zusätzliche Mandat und damit die absolute Mehrheit verwehrt, halten sich die Grünen jedenfalls bereit, um die inzwischen elf Jahre alte Koalition fortzusetzen. Sie müssen zwar auf zwei der drei Bestgewählten von 2005, Schöffe Félix Braz und Europaabgeodneter Claude Turmes, verzichten. Doch sie hoffen, dass der spätestens seit Fukushima grünenfreundliche Trend im Land diesen Ausfall persönlicher Stimmen kompensieren und so wenigstens den Status quo von zwei Mandaten garantieren wird. Dann könnte als wahrscheinlicher Erstgewählter der soeben aus dem Parlament zurückgetretene grüne Gründervater Jean Huss sogar noch Schöffe werden.