Nora Back vom OGBL war die Aufregung noch anzusehen, als sie am Freitagvormittag vergangener Woche vor die Fernsehkameras trat: „Wenn sich in den nächsten Tagen nichts mehr ändert, dann kommt es zum Streik, wir sind mitten in den Vorbereitungen!“ So etwas geschieht nicht alle Tage. Das letzte Mal legten vor zwei Jahren die Angestellten des Automobilclubs ACL zwei Tage lang die Arbeit nieder, um einen besseren Kollektivvertrag zu erkämpfen.
Seit Mittwoch dieser Woche steht nun fest, dass ab Dienstag im Bettemburger Pflegeheim An de Wisen tatsächlich gestreikt wird. Da hatte das Schlichtungsamt festgestellt, dass der OGBL und die ASBL Sodexo Résidences Services, die das Pflegeheim betreibt, einander nichts mehr zu sagen hätten in dem „litige collectif sur les conditions de travail“ im Pflegeheim. Der Konflikt ist allerdings ein ziemlich spezieller. Für den OGBL geht es dabei um sehr viel, und weil LSAP-Sozialminister Romain Schneider sich schon eingeschaltet hat, könnte die Angelegenheit auch politische Züge annehmen.
Eine Zumutung für die 66 von dem Konflikt betroffenen Mitarbeiter des Pflegeheims könnte man sie ohne weiteres nennen: Sie sollen nicht nur mehr arbeiten, sondern obendrein weniger verdienen, ginge es nach der Direktion des Heimes. Doch die Sachlage ist komplexer. Was die Direktion will, ist nicht mehr als das, was im landesweit verbindlichen Kollektivvertrag für die Pflege- und Sozialbranche (SAS) steht. Nach den Regeln des SAS-Vertrags aber sind nur 97 der insgesamt 204 Mitarbeiter von An de Wisen beschäftigt. Die anderen 107 wurden eingestellt, als das Bettemburger Pflegeheim noch dem Krankenhausverband FHL angehörte und dem Kollektivvertrag für den Spitalsektor unterlag. Obwohl Spital- wie Pflegesektor parastaatlich sind, ist der FHL-Kollektivvertrag günstiger. In ihm ist die 38-Stunden-Woche festgeschrieben, es gibt Urlaubsgeld, eine Jahresendzulage und eine zusätzliche Viertelstunde bezahlte Pause täglich. Außerdem gibt es im Schnitt 15 Prozent mehr Gehalt, und für manche Laufbahnen wesentlich mehr. Ein Erzieher verdient im FHL-Regime am Laufbahnende 95 000 Euro im Jahr, im SAS-Regime 70 000 Euro.
„Glauben Sie bloß nicht, es macht mir Spaß, meinen Mitarbeitern Gehaltseinbußen bei obendrein mehr Arbeit in Aussicht zu stellen“, beteuert Christian Erang. Der Direktor der „Activités seniors“ von Sodexo Luxemburg ist auch Chef des Bettemburger Pflegeheims, das zum Sodexo-Konzern gehört. Wechselten die Mitarbeiter mit FHL-Statut nicht ins SAS-Regime, „dann sind unsere Reserven womöglich schon in zwei Jahren aufgebraucht“. 900 000 Euro Defizit habe das Haus 2016 geschrieben. Weil An de Wisen schon seit 2012 rote Zahlen schreibe, habe sich das Gesamtdefizit 2016 auf 2,5 Millionen erhöht. Dieses Jahr rechnet Erang wieder mit einem Minus von „850 000 bis 900 000 Euro“. Auf einen Umsatz von 17 bis 18 Millionen jährlich würden 80 Prozent Personalkosten anfallen. „Wir haben zwar Reserven von fünf Millionen, aber die wollen wir investieren und nicht für Gehälter aufwenden.“ Nur verstehe das der OGBL nicht. „Der verlangt von uns, dass wir unsere Reserven aufbrauchen.“
„Stimmt nicht“, entgegnet OGBL-Zentralsekretärin Nora Back, die dem Syndikat Gesundheits- und Sozialwesen vorsteht. Seit Anfang 2015 streite sie schon mit der Bettemburger Sodexo-ASBL. „Schon damals begann Herr Erang seinen Leuten mit FHL-Statut zu erzählen: Es sieht nicht gut aus für den Betrieb, ihr müsst wechseln!“ Nie aber habe er zugestimmt, gemeinsam mit der Personalvertretung und dem OGBL „zu schauen, wo sich sonst im Betrieb sparen lassen könnte“. Zahlen habe er erst ab Mitte Januar dieses Jahres vorgelegt, nachdem der OGBL den Konflikt vor das Schlichtungsamt getragen hatte und der Schlichter die Vorlage der Zahlen anordnete.
So dass Pflegeheimdirektion und OGBL vor vier Wochen über Bilanzen, Gewinn- und Verlustrechnungen und Betriebsprüferberichte zu streiten begannen. Erang hielt Back vor, nichts von Betriebsführung zu verstehen. Back unterstellte der ASBL, „nicht transparent genug“ zu sein: „Da werden Jahr für Jahr 400 000 Euro an Management-Gebühren an den Sodexo-Mutterkonzern gezahlt, ich frage mich, wofür!“ Das Pflegeheim habe seine 5,5 Millionen Euro Reserve der Konzernmutter als Kredit gewährt. Was zwar einen Zinssatz bringe, der besser ist als ein Sparkonto, aber „wie kann ein Betrieb, der als ASBL organisiert ist, einem internationalen Konzern einen Millionen-Kredit gewähren?“ Für problematisch hält sie auch, dass das Pflegeheim all seine Leistungen, die nichts mit Pflege zu tun haben, an Sodexo ausgelagert hat, von der Küche über den Putzdienst bis hin zur Gärtnerei. Zwar seien solche Leistungen das Kerngeschäft der Sodexo-Gruppe. „Aber können sie nicht preiswerter erbracht werden? Bereichert sich hier womöglich ein Konzern aus unserer öffentlichen Pflegeversicherung?“
Solche Vorhaltungen sind für Christian Erang eine Ungeheuerlichkeit. Doch per se transparent ist das Bettemburger Pflegeheim schon deshalb nicht, weil eine ASBL es trägt, die laut Gesetz keine Bilanz publizieren muss. Ihre drei Administrateure sind Luxemburger Sodexo-Gesellschaften, Töchter des internationalen Konzerns, der sich auf alle möglichen „Zusatzleistungen“ spezialisiert hat, die in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen erbracht werden müssen, aber ausgelagert werden, wenn gespart werden soll. Eigene Alteneinrichtungen betreibt Sodexo auch. Das Pflegeheim in Bettemburg geht auf eine Konvention zurück, die der Luxemburger Staat 1992 als eines der ersten Public-private-partnerships im Lande ausschrieb. Sodexo bewarb sich, „um einen Fuß in den Luxemburger Markt der Altenversorgung zu bekommen“, so Erang; aber damals konnte noch keine Aktiengesellschaft darin tätig werden. Deshalb wurde die Konstruktion ASBL vereinbart.
Das Hin und Her um die Bilanzen ist aber nur ein Teil der Auseinandersetzungen. Der andere, und vielleicht noch wichtigere, ist politischer Natur.
Dass Pflegeheime überhaupt einmal im selben Tarifverband wie die Spitäler Mitglied waren, liegt daran, dass sie dem Gesundheitsministerium unterstanden, bis 1999 die Pflegeversicherung in Kraft trat und das Familienministerium die Aufsicht des gesamten Pflegesektors übernahm. Dass „teureres“ FHL-Personal in Pflegeheimen weiterbeschäftigt werden konnte, ohne dass diese defizitär wurden, ermöglichte zunächst die Pflegeversicherung: Jahrelang kamen viel mehr Einnahmen in die Pflegekasse als ausgegeben werden musste, weil die Erfassung pflegebedürftiger Personen sehr lange dauerte. Als die Pflegeversicherung auf Reisegeschwindigkeit angekommen war, organisierten die Heim-Betriebe untereinander ab 2011 einen Finanzausgleich für Häuser mit wegen viel FHL-Personal hohen Kosten. Der hatte Bestand bis 2014 und zur Bedingung, dass ab 2011 niemand mehr mit FHL-Statut in Pflegeheimen eingestellt würde. Deshalb verließen Ende 2010 alle Heim-Betriebe den Krankenhausvernband.
Daraus folgt aber, dass Konflikte wie der in Bettemburg sich wiederholen könnten. Abgesehen von dem Personal mit FHL-Statut bei An de Wisen haben laut Pflegedienstleister-Verband Copas noch über 700 im Sektor Beschäftigte das bessere Statut. Sie machen zwar nur rund ein Zehntel des Personals in der Pflegebranche aus, sind aber auf 15 Betriebe verteilt. Und der OGBL kann es sich nicht gut leisten, dass im großen Ausmaß die Arbeitsverträge nach FHL-Statut in Frage gestellt werden.
Mitte vergangener Woche gab Sodexo bekannt, man strebe für das Bettemburger Heim nun einen Sozialplan an. Bisher haben von den 107 Angestellten mit FHL-Statut 33 eingewilligt, ins SAS-Regime zu wechseln. Für sie wird nach der Änderung des Arbeitsvertrags die 40-Stunden-Woche wirksam. Die Differenz zum FHL-Gehalt zahlt der Betrieb ein Jahr weiter, im zweiten zwei Drittel davon, im dritten ein Drittel. Im vierten Jahr ist der Wechsel vollzogen. Bleiben 66 Mitarbeiter, die der Sodexo-Direktor noch überzeugen muss. Eigentlich 74, aber acht sind Personalvertreter, die vorerst in Ruhe gelassen werden. „In den letzten Tagen“ hätten „noch einige“ erklärt, das SAS-Statut anzunehmen zu wollen. „Die mögen ihre Arbeit und möchten sich keine andere suchen“, konstatiert Christian Erang lakonisch. Und ist sich sicher: „Dem OGBL wird das nicht gefallen.“
Das dürfte nicht nur zutreffen, weil der OGBL die Interessen seiner Mitglieder verteidigt und einen Sozialplan, der laut Gesetz ein „Entlassungsplan“ ist, mit dem Sodexo aber nur winkt, um den Druck auf das Personal zu erhöhen, nicht akzeptieren kann. Sondern auch, weil für den OGBL, dessen Syndikat Gesundheits- und Sozialwesen eines der kampfbereitesten ist, die Pflegebranche als „öffentlicher Dienst“ gilt. Syndikats-Zentralsekretärin Nora Back, die auch der OGBL-Exekutive angehört, tritt seit Jahren öffentlich dafür ein, dass es für den Spital- wie für den Sozial- und Pflegesektor nur einen Kollektivvertrag geben sollte: den günstigeren FHL-Vertrag. Einen Wechsel will also auch der OGBL. Nur einen in die andere Richtung und für eine ganze Branche.
Was sich leichter sagt, als es sich umsetzen ließe. Einerseits ist „öffentlicher Dienst“ für Alten- und Pflegeheime eine ungenaue Bezeichnung: Im Schnitt finanzieren sie sich zu zwei Dritteln aus der Pflegeversicherung, zu einem Drittel über den Unterbringungspreis und die damit verbundenen „Hotellerie-Leistungen“, für die Marktfreiheit gilt. So wollte es der Gesetzgeber 1998 mit dem Pflegeversicherungsgesetz, das für die gesamte Pflegebranche die freie Konkurrenz festschrieb.
Andererseits versprach die Regierung den großen Gewerkschaften im Dezember 2014 in einer Bipartite, die Beamtenreform im öffentlichen Dienst werde auch im Spital- und im Pflege- und Sozialsektor umgesetzt. Verbunden damit ist nicht zuletzt eine Aufwertung bestimmter Laufbahnen. Dafür haben der OGBL und sein Syndikat Gesundheits- und Sozialwesen, das einst der heutige OGBL-Vorsitzende André Roeltgen aufgebaut hatte, drei Jahrzehnte lang gekämpft. Zurzeit werden die Kollektivverträge FHL und SAS neu verhandelt, Laufbahnaufwertungen inklusive. Dem Vernehmen nach gehen die FHL-Verhandlungen viel mehr in die vom OGBL gewünschte Richtung als die SAS-Verhandlungen. So dass man die Streikbereitschaft der größten Gewerkschaft auch als eine taktische Präemptivmaßnahme für den Fall verstehen muss, der FHL-Kollektivvertrag würde gegenüber seinem SAS-Pendant am Ende noch günstiger als heute, und das Risiko, dass es Ärger gibt um Pflegeheimpersonal mit FHL-Statut, noch wüchse.
An dieser Stelle fragt sich auch, welche Rolle der Sozialminister in der Auseinandersetzung zwischen OGBL und Sodexo spielen könnte. Im Tageblatt wurde Romain Schneider vor einer Woche mit der Aussage zitiert, er lasse einen Sozialplan bei An de Wisen „nicht zu“. Im RTL-Radio sagte er, es sei „ziemlich klar“, dass man in dem „speziellen Rahmen“ Pflege „nicht von einem Sozialplan sprechen“ könne. Für das Land war Romain Schneider für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Ziemlich klar scheint aber, dass der einzige Weg, Entwicklungen wie die in Bettemburg zu vermeiden, darin besteht, die Zuwendungen an alle Heime aus der Pflegekasse drastisch zu erhöhen. Dazu aber dürften der Sozialminister und die Regierung trotz aller Spendabilität nicht bereit sein. So dass es auch völlig offen ist, wohin der Streik in Bettemburg letztlich führen wird.