Am 14. November soll die endgültige Fassung der Rifkin-Studie über die Umsetzung der dritten industriellen Revolution in Luxemburg vorgestellt werden. Vorab hatte sich die Regierung vergangenen Freitag in Senningen mit den Sozialpartnern getroffen, um sie über den Stand der Arbeiten zu informieren. Sie stieß dabei auf Gegenwind der Gewerkschaften. Doch die Handelskammer scheint mit dem Engagement der Regierung ebenfalls ein wenig unzufrieden zu sein – für die Sitzung am Freitag reichte sie ihr eigenes Reflexionspapier nach, weil ihr der von der Regierung vorgelegte zehnseitige Bericht zu dürftig erschien.
In ihrem Document préparatoire erklärt die Regierung, dass „die Studie zum Ziel hat, Luxemburg und seine Wirtschaft durch ein Programm von Empfehlungen, inklusive konkreter Vorschläge und Aktionen auf kommende Megatrends vorzubereiten.“ Sie beschreibt den Prozess in den Arbeitsgruppen und erzählt ein wenig, womit sich die Arbeitsgruppe „Prosumers und Sozialmodell“ beschäftigt hat. Nämlich damit, dass durch die Digitalisierung alte Arbeitsplätze verschwinden und neue entstehen können, dies aber in der Teilwirtschaft risikieren, vor allem prekäre Stellen zu werden, neue Arbeitsmethoden und neue Ausbildungen gebraucht werden. „En effet, le document en question ne reflète pas l’ensemble du travail qui a été effectué à tous les niveaux“, schreibt deshalb die Handelskammer. Die dritte industrielle Revolution sei weit mehr, als das Regierungsdokument erahnen lasse: „Nous devons nous approprier une approche holistique et nous réinventer, si nous voulons projeter notre modèle économique et social dans le futur et offrir des perspectives d’avenir.“ Und: „L’étude TIR est une véritable boîte à outil, complète et contenant beaucoup d’outils, permettant non pas de prévoir l’avenir, mais de le préparer.“
Ohne dass die Handelskammer genauer auf die Werkzeuge im Wergzeugkasten eingeht – damit wäre die Asymmetrie der Situation zusammengefasst: Die Arbeitgeber wissen über die Handelskammer über den Stand der Arbeiten Bescheid, während die Gewerkschaften daran nicht beteiligt waren.
Wie wichtig es ist, wer an der Ausarbeitung beteiligt war, hängt davon ab, welche Wichtigkeit der Rifkin-Studie beigemessen wird, wenn sie fertig ist. Genau darum stritten Regierung und Sozialpartner am Freitag. Die Regierung, vertreten durch Staatsminister Xavier Bettel (DP), Wirtschaftsminister Etienne Schneider, seine Staatssekretärin Francine Closener und Arbeitsminister Nicolas Schmit (alle drei LSAP), will eine „breite Konsultation“ organisieren. Sie will, ließ sie am Freitag mitteilen, die dritte industrielle Revolution in Schulen diskutieren, den Nachhaltigkeitsrat mit der Studie befassen und den Wirtschafts- und Sozialrat (CES). Genau dabei will vor allem André Roeltgen, Präsident des OGBL, nicht mitmachen. Der CES werde „sicher nicht“ ein gesondertes Gutachten über die Rifkin-Studie abgeben, so Roeltgen gegenüber dem Land. Die Studie könne höchstens Teil weitreichender Arbeiten sein, über die Entwicklung der Produktivität, über die Auswirkungen der fortschreitenden Digitalisierung auf die Arbeitswelt und die Gesellschaft insgesamt. Ansonsten habe die Diskussion von vornherein „Schlagseite“, „das wollte ich vermeiden“, so der OGBL-Präsident. Beim LCGB sieht man das ähnlich, auch wenn Christophe Knebeler, sich nicht ganz deutlich ausdrückt. Man wolle sich einer Diskussion im CES nicht verschließen – die Rifkin-Studie solle ein Teil davon sein.
Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, muss man die Zeit ein Jahr zurückdrehen. Ende September 2015 bestellten Handelskammer und Regierung beim US-Autor Jeremy Rifkin eine Studie über die von ihm so genannte dritte industrielle Revolution in Luxembourg (Third Industrial Revolution oder kurz TIR-Lux). Bei der TIR führen neue Energiequellen, neue Transportmöglichkeiten und neue Kommunikationstechnologie dazu, dass bei den Produktionsprozessen in der Wirtschaft die Marginalkosten auf Null fallen. Deshalb werden, laut Rifkin in ungefähr 40 Jahren, keine Arbeitnehmer mehr gebraucht. Es gibt dann „Prosumenten“, Konsumenten, die ihre eigene Energie produzieren, sich vom selbstgezogenen Gemüse ernähren und die sich mit selbstfahrenden Mietwagen fortbewegen.
Auf die Bestellung der Studie hatten sich Schneider und Carlo Thelen, Direktor der Handelskammer bei der Visite der Weltausstellung in Mailand geeinigt. Sie sollte 450 000 Dollar teuer sein, laut Rifkin ein „Schnäppchen“, und Unternehmen wie die Post und Enovos sollten dabei helfen, diese Kosten zu tragen. Vergangenen Januar setzte sich Handelskammer-Präsident Michel Wurth, der anfangs selbst skeptisch gegenüber Rifkin war, weil er nicht einsah, wie dessen Modell, das weniger Wachstum propagiert, auf das Luxemburger Sozialmodell anzuwenden sei, dafür ein, dass die Arbeitnehmerkammer an der Studie beteiligt würde. Diese Einladung sprach er verbal bei einem Treffen im Rahmen des Europäischen Semesters aus und bestätigte dies auch schriftlich, wie Jean-Claude Reding, Präsident der Arbeitnehmerkammer, sagt. „Doch mehr konnte er nicht tun.“ Danach wäre die Regierung, also das Wirtschaftsministerium, am Zug gewesen, der Arbeitnehmerkammer eine Einladung zu schicken. „Hätte man uns eingeladen, hätten wir mitgemacht“, so Reding. Schließlich hat die Arbeitnehmerkammer selbst schon Studien darüber angefertigt, wie sich die Digialisierung auf die Arbeitswelt und die Gesellschaft auswirken wird. Und zu diesem Thema auch Konferenzen organisiert, an denen Regierungsmitglieder teilnahmen.
Doch „es kam nichts nach“. So dass im Steuerungskomitee zur Studie nur Mitarbeiter des Wirtschaftsministeriums und der Arbeitgeber vertreten waren und sind. Beim offiziellen Startereignis in der Handelskammer im vergangenen Januar waren noch einzelne Arbeitnehmervertreter zugegen, wie Marc Wagener, Ökonom der Handelskammer, berichtet. Doch in den neun Arbeitsgruppen – Energie, Mobilität, Bau, Lebensmittelversorgung, Industrie, Finanzen, intelligente Wirtschaft, Kreislaufwirtschaft sowie Prosumenten und Sozialmodell – „war die Arbeitnehmerseite nicht vertreten“, bedauert Wagener. Die Schuld dafür sehen andere Arbeitgebervertreter freilich bei den Gewerkschaften selbst, die den Prozess boykottiert hätten. Die Mitarbeit in den Arbeitsgruppen stand tatsächlich jedem Interessierten offen, anmelden konnte man sich übers Internet und am 21. Januar versammelten sich in der Handelskammer 350 Leute. Doch unter ferner liefen in den Arbeitsgruppen mitwirken, wenn der Rahmen im Steuerungskomitee gesetzt worden sei, dass wollte man nicht, erklärt André Roeltgen.
Mit der Position stehen die Gewerkschaften nicht alleine da. Das Mouvement écologique hatte der Regierung vergangenen Januar in einem offenen Brief ebenfalls mitgeteilt, man werde auf eine Mitwirkung in den Arbeitsgruppen verzichten. Einerseits, weil die ganze Übung darauf hinauslaufe, das Luxemburger Wachstumsmodell zu zementieren, dem Mouvéco der Diskussionsrahmen also ebenfalls zu eng abgesteckt war. Und andererseits, weil man die Vorgehensweise als unseriös empfand. „Sie sind als Regierung mit dem Anspruch einer verstärkten Transparenz und Diskussionskultur angetreten. Dass nun die Arbeitsgruppen, die die Thesen von Jeremy Rifkin mit Leben füllen sollen, nur knapp zweieinhalb Monate Zeit haben, um konkrete Anregungen zu formulieren, spricht jeder reellen Partizipation Hohn. Angesichts der Komplexität der Thematik wird es nicht möglich sein, in dieser viel zu kurzen Zeitspanne zwischen verschiedenen Gesellschaftsakteuren zu diskutieren und gemeinsam Anregungen zu formulieren“, so das Mouvéco.
Um die 400 Seiten Papier haben die Arbeitsgruppen bisher produziert. Über deren Inhalt gab weder das Vorbereitungspapier der Regierung für die Sitzung von vergangenem Freitag, noch das zusätzliche Reflexionspapier der Handelskammer viel Aufschluss. Zum Teil handele es sich dabei um eine Bestandsaufnahme in den verschiedenen Bereichen, erklärt Marc Wagener. Der Abschlussbericht, der von Jeremy Rifkin und seinem Expertenteam verfasst werde, erklärt er, werde unterschiedlich konkrete Passagen enthalten. Von der allgemeinen Sensibilisierung für die mit der Digitalisierung verbundenen Problematiken bis hin zu detaillierten Punkten, wie die Gesetze zu ändern seien, damit die Revolution stattfinden kann.
Eben deshalb ist nicht unerheblich, wer die 280 Leute aus der Privatwirtschaft, aus Nichtregierungsorganisationen und aus Beratungsunternehmen sind, die in den Arbeitsgruppen mitgewirkt und Input gegeben haben und deshalb als Alibi dafür herhalten, dass die dritte industrielle Revolution eine basisdemokratische Bewegung von unten nach oben, mit breitgefächerter Beteiligung ohne vorzugreifen sein soll. Dass es so aussehen könnte, als ob die so genannten Stakeholder ein bisschen zu viel Einfluss nehmen könnten, dessen war man sich auch bei den Auftraggebern der Studie bewusst. Um sich dem Vorwurf zu entziehen, einzelne Unternehmen hätten besonders guten Zugang bei der Vorbereitung der Zukunft, haben sich Wirtschaftsministerium und Handelskammer entgegen ihren ursprünglichen Plänen dagegen entschieden, Firmen wie die Post und Enovos an der Rechnung zu beteiligen. „Sonst hätte es nachher geheißen, im Bericht stehe nur, was die wollen“, so Wagener.
Doch wer nun tatsächlich in den Arbeitsgruppen war, wollen derzeit weder das Wirtschaftsministerium noch die Handelskammer sagen. Wenn man bedenkt, dass Rifkins postindustrielle Gesellschaft nur funktionieren kann, wenn seine Prosumenten nicht zuletzt via intelligente Strom- und Gaszähler allerhand intime Details über ihren Lebensstil preisgeben, ist es nicht ohne Ironie, wenn Marc Wagener Datenschutzgründe geltend macht, um zu erklären, warum die Teilnehmerliste der Arbeitsgruppen derzeit nicht offengelegt werden kann. Für den 14. November sei das durchaus geplant. Aber davor, müsse man die Teilnehmer um ihr Einverständnis bitten. Wenn sie das verweigern? Dann könnten die Namen nicht bekannt gegeben werden, so Wagener. Er will das im Steuerungskomitee thematisieren. Bis dahin relativiert er. „Es ist nur eine Studie“, sagt er, „das heißt nicht, dass alles, was drin steht, von A bis Z so umgesetzt wird.“
Was es allerdings heißt, wenn die Regierung per Stellungnahme nach einjährigen Arbeiten eine „breite Diskussion“ fordert, die auch in den Schulen stattfinden soll und wie sich die Rifkin-Studie in die Zukunfstdebatte überhaupt einfügt, ist nicht eindeutig zu erkennen. Denn am 7. und am 10. November sollen einmal die Forces vives der Nation in Belval und einmal die politische Klasse im Konferenzzentrum in Kirchberg unter der Leitung des Nachhaltigkeitsministeriums über die Frage: „Wat fir ee qualitative Wuesstum fir eist Land?“ debattieren. Würde die Regierung der von ihr selbst bestellten Studie in diesem Rahmen große Bedeutung beimessen, würde sie den Bericht wohl kaum nachreichen, wenn die Gespräche vorbei sind. Es kann natürlich auch heißen, dass sich der grüne Nachhaltigkeitsminister an sein Publikum wendet, der sozialistische Wirtschaftsminister mit seiner Kundschaft aus den Berufskammern dieskutiert und die DP bei der Zukunftsdebatte außen vorbleibt.