Theater

Nur noch Leere

d'Lëtzebuerger Land vom 21.09.2018

Da steht er wieder auf der Bühne, beim Schlussapplaus der Premiere seiner Inszenierung von Büchners Lenz, am letzten Samstag in der Box des Schiffbaus (der zum Schauspielhaus Zürich gehört): Werner Düggelin, den seine Freunde zärtlich „Dügg“ nennen. Dass er wieder da steht, ist erstaunlich und rührend zugleich, denn der Regisseur ist in seinem 89. Lebensjahr, war letztes Jahr sehr krank und hat schon mehrmals angekündigt, er wolle aufhören, alles hinschmeißen, er habe endgültig die Nase voll vom Theater. Doch er kann es nicht lassen. Lenz ist seine 53. (!) Regierarbeit am Schauspielhaus Zürich, nach seinem Brel-Abend letzte Saison – damals wie jetzt mit seinem treuen Freund André Jung (siehe d‘Land vom 26. Mai 2017). Die Arbeit interessierte besonders, weil Büchners Novelle derzeit sehr viel in Europa gespielt wird – oft von großen Schauspielern wie dem Belgier Johan Leysen unter Jacques Osinski zum Beispiel, oder dem Luxemburger Luc Feit unter Frank Feitler. Die Lust am Vergleich liegt also nahe: Was haben Altmeister Düggelin und Büchner-Fan Feitler gemeinsam in ihrer Regierarbeit? Was unterscheidet ihre Lektüre?

Der Minimalismus ist es, der beide Inszenierungen verbindet. Frank Feitler brauchte im TNL nur sieben mit Eiswürfeln gefüllte Metalleimer, Werner Düggelin konnte in Zürich auf einen Bühnenbildner zurückgreifen: Raimund Bauer hat ein sehr reduziertes, lichtdurchflutetes Bühnenbild auf drei Ebenen gebaut, in dem man natürlich gleich die Hommage an Caspard David Friedrichs berühmtes romantisches Eismeer erkennt. Drei Möbelstücke aus massivem Holz für drei Schauspieler: Düggelin inszeniert den Text als Polyphonie, die sich nach der Einleitung durch Erzähler André Jung nach und nach verdichtet. Vielleicht gewinnt das Stück besonders in Zürich an Intensität, in der Stadt, in deren Spiegelgasse sowohl Lenz als auch Büchner zeitweilig gelebt haben und von wo aus Lenz ins Steintal im Elsaß zog – der Zug fährt einen ähnlichen Weg, die Gebirgskronen, die dunklen Wälder die Büchner in seinem Fragment so lange poetisch beschreibt sind dem Reisenden nicht fremd.

André Jung sitzt hinter seinem Pult, trägt seine Lesebrille und liest die Erzählpassagen in dieser ihm eigenen Manier vor, mit seinem einzigartig, fast schon wollüstig gerollten „r“: wie Lenz am Leben verzweifelt, in die Berge zieht, um sich zu erholen, den Pfarrer Oberlin kennenlernt und Gott sucht. Oberlin, ein enthusiastischer Jirka Zett, gesellt sich zu ihm und erinnert sich an seine erste Begegnung mit Lenz, wie er ihm einwilligt, auch mal zu predigen, da die Leute ihn, Oberlin, und seine Sprache nicht zu verstehen scheinen. Lenz, im ständigen Wechselbad der Gefühle, mit viel Wärme gespielt von Jan Bluthardt, sucht Gott, will glauben. Doch wie kann dieser Gott das Leiden auf Erden ertragen? Lenz versteht nicht, dass der vermeintlich Allmächtige nicht alle Menschen zu retten vermag. Die beeindruckende Passage des toten Kindes in Fouday, das Lenz wieder zum Leben erwecken wollte, es jedoch nicht kann, wo er in den Himmel greift und „so der Atheismus in ihn“ gelangt, wird hier zurückhaltend vorgelesen, unterlegt von einem Männerchor vom Band, die Schauspieler jedoch haben die Bühne verlassen.

Werner Düggelins Lenz ist eine Chronik des Scheiterns und der Desillusion. Es ist ein Kommentar über unsere Gesellschaft, in der man an der Wirklichkeit verzweifelt, seinen romantischen Glauben an die Liebe, an das Leben und an Gott verliert und am Ende, wie Lenz, nur noch „alles so tut wie die Anderen“, sich anpasst, und in dieser existentiellen Leere, bloß noch weiterlebt. Lenz sei für ihn „was die Franzosen ‚un pur‘ nennen“, sagt Düggelin im Programmheft: „Uns interessiert an dieser Figur Lenz seine Absolutheit. Ich halte solche Menschen wie ihn nicht für verrückt. Sondern das sind Leute, die absolut leben: im Glauben, in der Liebe, in der Ablehnung.“ Was soll man, was kann man auch anderes machen als verzweifeln, an Idlib, an Chemnitz, am Brexit, an Trump oder an Blocher? „Für mich, sagt Düggelin, ist eine Welt ohne Wunder eine graue Welt“.

Lenz, nach der Erzählung von Georg Büchner, Regie: Werner Düggelin; Bühne: Raimund Bauer; Kostüme: Sabrina Bosshard; mit: André Jung, Jan Bluthardt, Jirka Zett; im Schiffbau des Schauspielhaus Zürich bis zum 17. Oktober; www.schauspielhaus.ch

josée hansen
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