Es muss im April 2009 gewesen sein, als Ullrich Matthes sich auf der schmalen Bühne des Kasemattentheaters an einen verschlissenen Holztisch setzte. Der Star der deutschsprachigen Darstellerszene schlug den schmalen Band der Traumnovelle aus den Werken Arthur Schnitzlers auf. Die Matinee begann etwa zur selben Zeit, da die Gäste der benachbarten „Vollékskichen“ sich zum Mittagessen zu Tisch begaben. Es schepperten Porzellanteller, es klirrten Gläser. Dazu mengten sich Matthes’ Stimme, Schnitzlers Worte.
Es wäre nachvollziehbar, diesen Theatervormittag als Peinlichkeit in die Geschichte des Hauses einzuordnen. Doch Anekdote trifft es eher. Der erwähnte Schnitzler-Abend steht dafür, dass auch große Namen sich auf die Eigenarten dieses kleinen Theaterhauses einlassen. Ein Grund mehr, dem Kasemattentheater an der Rue du Puits in Bonneweg im Kontext der sommerlichen „Lieux de culture“ Aufmerksamkeit zu schenken. Neben einigen Theaterabenden liegt diesem Porträt ein längeres Gespräch mit Präsident Lex Weyer und Dramaturg Marc Limpach zugrunde.
Im Gegensatz zu der erwähnten, etwas schrulligen Anekdote schärfen beide ein recht klares Profil des Kasemattentheaters. Von fundamentaler Bedeutung ist dabei die Förderung und Beauftragung junger Schauspieler und Regisseure, die sich nicht nur mit Assistenzen und Nachwuchsprojekten zufriedengeben, sondern sich vielmehr auf vollwertige Produktionen einlassen wollen: „Ob Anne Simon, Moritz Schönecker, Thierry Mousset, Eugénie Anselin, Jens Bluhm, Jacques Schiltz oder, in der nächsten Spielzeit, Daliah Kentges – sie alle erhielten und erhalten von uns Seite das nötige Vertrauen, eigene Inszenierungen oder Projekte auf unsere Bühne zu bringen. Wir liefern somit auf Dauer auch einen Nährboden für die etablierten Künstler der Folgejahre, auch wenn diese Arbeit vielleicht noch wenig im Rampenlicht steht. Das Blitzlicht folgt bestenfalls halt später. Aber ein kleines Off-Theater muss, soll und kann diese Risiken eingehen.“
Vermieden wird dagegen die große Show. Trotz der Renovierungsarbeiten 2012 und 2013, die eine Flexibilisierung des möglichen Bühnenkonzepts zur Folge hatten, stößt das Team technisch und räumlich naturgemäß an seine Grenzen. Die aufwändigeren Koproduktionen, etwa En Tiger am Rousegäertchen (2016) müssen im Großen Theater stattfinden. In den eigenen Wänden liegt der Fokus auf der darstellerischen Leistung und dem Text.
Ein handfester Beleg dafür sind die zahllosen Lesungen und oftmals musikalisch begleiteten Textabende. Zählt man mittlerweile circa 15 bis 20 Produktionen pro Saison, sind die von Marc Limpach geschätzten 70 bis 80 Lesungen seit 2008 von zentraler Bedeutung im Gesamtkonzept. Die von der Dramaturgie erstellten Lesungen beschränken sich dabei selten auf einen reinen Textvortrag. Herausstechend ist bereits die vorgeleistete Idee. Ob in Heimatabend für Nestbeschmutzer, Fake!, Feminae! (2017/18) oder Lëtzebuerger Fräiheetslidder (2016/17), dem Publikum wird generell ein diachronisches Spektrum an Texten vorgetragen, das erlaubt, Historizität sowohl im Kontrast als auch in ihren Parallelen und Atavismen zu erkennen: „Unter anderem auch auf diesem Weg erlaubt uns die Bühnenkunst, das Maximale aus ihr herauszuschlagen: ein Angebot an unterschiedlichen Perspektiven. Das Theater kann die Welt oder die Wirklichkeit kaum verändern oder beeinflussen. Es erlaubt dem Zuschauer jedoch unterschiedliche Blickwinkel wahrzunehmen und zu vergleichen, den eigenen zu hinterfragen.“
Und damit betreten wir einen Bereich, der in Bonneweg in aller Deutlichkeit betont wird. Das Kasemattentheater legt besonderen Wert auf engagierte Kunst. Es wagt sich mit Sibylle Bergs Viel gut essen (2017/18) ins Dickicht rechtspopulistischer Denkart oder legt die politischen Ansichten und Verfahren im Brüsseler EU-Komplex mit Helmingers Guten Morgen, Ihr Völker auf den Prüfstein. Das Kasemattentheater möchte politisch sein, Ansichten formulieren, historische Standpunkte anbieten, ohne aber moralisierend zu wirken. Es gilt, einmal mehr, die Prämisse des multiperspektivischen Angebots. Und doch: „Wir sind ganz klar de gauche und stehen auch dazu!“, blasen Dramaturg und Präsident selbstbewusst ins selbe Horn. Auf diese Weltanschauung mag wohl auch der Entschluss gegründet sein, dass dem Trierer Geburtstagskind Karl Marx im Mai dieses Jahres die durchaus kritische und humoristische Produktion Marx mit Mundharmonika gewidmet wurde.
Die Elemente Text, Schauspieler, Nachwuchsförderung und Politik finden somit jährlich auf der Bühne, aber auch während der Planungen zur anstehenden Spielzeit ihren Raum. Um diese Spielzeiten in Form zu gießen, beginnt alles mit erstem Gekritzel und einem Vorschlag für ein Programm durch die Dramaturgie. Lex Weyer und Marc Limpach beraten sich in der Folge mit den Mitgliedern des Vorstands Désirée Nosbusch, Ian De Toffoli und Eugénie Anselin und treten dann konsequent unter anderem an jene Künstler heran, die sich in den Jahren um das Haus geschart haben: „Mit der Zeit wächst eine gewisse Gruppe an jungen, aber auch etablierten Darstellern, Regisseuren, Bühnenschaffenden wie Kostüm- und Bühnenbildnern heran, mit denen man gerne zusammenarbeitet. Ab einem gewissen Moment jedoch muss ein Haus wie unseres den Künstlern Vertrauen schenken und sie mit allen Freiheiten arbeiten lassen. Das mag der zentrale Grund sein, warum Nachwuchs und etablierte Künstler das Kasemattentheater gleichermaßen schätzen.“
Das Renommee einer Kunststätte lebt zweifellos auch vom Feedback. Wenn traditionell im September die neue Spielzeit vorgestellt wird, wirbt das Haus einmal mehr um das Vertrauen des Publikums. Insgesamt könne man mit den Zuschauerzahlen zufrieden sein. Sicher mag die eine oder andere Produktion auch mal etwas enttäuschen, generell jedoch sei das Publikum bereit, sich dem spezifischen Angebot des Hauses zu nähern, was sich mit meist ausverkauften Vorstellungen und 5 000 Besuchern jährlich auch in konkreten Zahlen niederschlägt: „Unser Publikum scheint generell Vertrauen in unser Programm zu haben, scheint bereit zu sein, sich auf das einzulassen, wofür das Theater steht, selbst wenn manches Wagnis auch mal schieflaufen darf.“ Die seit wenigen Jahren parallel zum Eingangsflur eingerichtete Theke ist dabei eine zentrale Stelle, an der das Publikum unmittelbar im Anschluss an die Vorstellungen erste Eindrücke austauscht. Bei Bier und Wein lassen sich möglicherweise selten komplexe Diskussionen über die oftmals anspruchsvollen Abende führen. Im Gespräch mit den Gästen werden jedoch bisweilen erste Einschätzungen, grobe Feedbacks oder emotionalisierte Bewertungen laut.
Neben dem breiten Publikum sollten laut Limpach auch die Gespräche mit der so genannten Szene hervorgehoben werden: „Es gibt einen gewissen Kern von Gästen, die unsere Produktionen in aller Regelmäßigkeit besuchen (vor allem bei Premieren), oftmals Künstler im Theaterbetrieb, die zweifellos einen besonders kundigen Blick auf unsere Arbeit werfen.“ Auch ihr Feedback ist von großem Wert.
Schließlich sei jedoch auch und besonders die Presse von Bedeutung: „Ob eine Kritik gut oder schlecht ausfällt, ist dabei von sekundär. Uns ist vor allem wichtig, dass ein Theaterabend mit einer Kritik eine breitere Öffentlichkeit erfährt und vielleicht sogar einen Diskurs anstößt, den es ohne diese Öffentlichkeit nicht gäbe. Wenn ein journalistischer Beitrag fair formuliert und korrekt recherchiert ist, kann uns jede Kritik nur willkommen sein.“
Der Erfolg des Hauses zahlt sich aus. Man muss aber aufgrund so manch überschaubarer Budgets und beträchtlicher Herausforderungen, die ein kleines Haus mit sich bringt, Überzeugungstäter sein, um ein Projekt wie dieses zu gestalten. Präsident Marc Limpach und Dramaturg Lex Weyer sind es zweifellos.
Von 2008 bis 2014/15 hat Germain Wagner das Haus gemeinsam mit Marc Limpach künstlerisch ausgerichtet. Tun Deutsch, der das Projekt am 11. Dezember 1964 als „Centre grand-ducal d’art dramatique“ ins Leben rief, als noch die Festungsmauern der Kasematten Spielstätte waren, hatte in seinen Jahren ein avantgardistisches Theaterschaffen am Herzen gelegen. Nach seinem Tod 1977 legte das freie Künstlerensemble eine vielseitige institutionelle Biografie mit zahllosen Mitwirkenden zurück. Mit dem Kulturjahr 1995 schien sich dann so manches zu ändern, stimmen Weyer und Limpach überein: „Die politisch Verantwortlichen stellten (unter anderem nach dem legendären Rolling-Stones-Konzert) fest, dass es tatsächlich ein Publikum für Pop- und Programmkunst in Luxemburg gibt. Konzerträume, Institutionen und sogar Förderprogramme wurden aus dem Boden gestampft. Auch dieser Umstand führte dazu, dass man auf das künstlerische Angebot im Großherzogtum und die im In- und Ausland erfolgreichen Künstler stolz sein darf. Doch das Kasemattentheater, das bis dahin bereits so viele Bühnenschaffende hervorgebracht hatte, wurde zunächst (zum Ärger von Pierre Capesius, der Tun Deutschs Erbe verwaltete) vergessen.“ Als die Gemeindeverwaltung dann im März 1998 die Spielstätte in der Rue des Puits festlegte, fand das Kasematten-
theater endlich eine feste Adresse. Blickt man heute auf mehr als 50 Jahre Theaterarbeit zurück, wird ein recht klares Profil deutlich – eines, das Tun Deutschs Vorstellung vom künstlerischen Wagnis treu bleibt. Ein solches Fazit müffelt nach Verklärung. Ist es aber nicht.