In diesen Tagen gedenkt die katholische Presse des vor 150 Jahren geborenen Joseph Gredt, eines der – bei aller Verhältnismäßigkeit – wirkungsmächtigsten Philosophen aus Luxemburg. Der Geschichtslehrer Edouard M. Kayser zeichnete in Nos Cahiers (2013/1) den Lebensweg von „Le Père Joseph (Auguste) Gredt (1863-1940), un „‘learned Benedicte philosopher-scientist‘“ nach. Im Luxemburger Wort (3.8.2013) feierte der Theologe Bodo Bost den „Wissenschaftler Gottes Joseph Gredt“, einen „der hervorragendsten scholastischen Philosophen der Neuzeit“. Grundtenor der Würdigungen ist der Stolz auf einen großen Sohn der kleinen Heimat, der im Ausland Anerkennung fand. Dass Gredt sich an einer philosophischen Legitimation des aggressiv antimodernen Integralismus der katholischen Kirche seiner Zeit beteiligte, stört seine Bewunder nicht.
Der Sohn des bis heute als Autor des Sagenschatz des Luxemburger Landes bekannten, tiefkatholischen Athenäumsdirektors Nicolas Gredt wurde am 30. Juli 1863 im Eicher Berg in Luxemburg geboren. Er besuchte das Athenäum, dann das Priesterseminar und studierte in Rom Theologie. 1891 trat er dem Benediktinerorden bei und widmete sich dann der Philosophie, die er schließlich an der Benediktiner-Universität Sant’Anselmo in Rom lehrte. Kurz nach einem Besuch bei seiner Familie in Luxemburg starb der 76-Jährige am 29. Januar 1940 in Rom, vier Monate vor dem deutschen Überfall auf das Großherzogtum.
In der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts, dem liberalen Zeitalter der Dampfmaschinen, der Wissenschaften und der organisierten Arbeiterbewegung, hatte sich die nach der Frazösischen Revolution wieder erstarkende katholische Kirche bemüht, den Widerspruch von Glauben und Wissenschaft aufzuheben. Dazu belebte sie die Philosophie der Scholastik wieder, die im Mittelalter den Widerspruch von kirchlichen Dogmen und Vernunft leugnete, indem sie die Philosophie zur Magd der Theologie erklärte.
Um hierzulande ein wenig am Kulturkampf mitzuverdienen, hatte der katholische Luxemburger Drucker und Verleger Pierre Brück sogar ab 1868 eine S. Thomæ Aquinatis Summa Theologica in acht Bänden und mehreren Auflagen herausgegeben oder vertrieben. Gleichzeitig spottete aber der Dichter Michel Rodange 1872 im Renert ausgiebig über den katholischen Rückzug ins Mittelalter und über „eng Scholastik, / Voll Lächer wéi meng Buerg -- / Eng Seibar vu Gomm’lastik“.
Papst Leo XIII. hatte 1879 die Neuscholastik, die reaktionärste aller möglichen Antworten auf Hegel, Marx und den Positivismus, aber auch den bei französischen Katholiken beliebten Descartes, in seiner Enzyklika Æterni patris zur offiziellen Philosophie der Kirche erklärt. Die Lehre von Thomas von Aquin, „omnium princeps et magister“, hatte er dabei besonders hervorgehoben, um den Neuthomismus mit der Neuscholastik gleichzusetzen.
Im Rahmen dieser Politik veröffentlichte Joseph Gredt 1899 in Rom den ersten und 1901 den zweiten Band eines Lehrbuchs der Neuscholastik, Elementa philosophiæ aristotelico-thomisticæ. Mit Ausnahme einiger Zeilen Vorwort legt das streng strukturierte und durchnummerierte Werk zu jeder Frage den „status quæstionis“ dar, bietet dann die „probatur thesis“, die „corollaria“ und „scholia“ sowie schließlich griechische und lateinische Belegzitate von Aristoteles und Thomas von Aquin. Unterteilt ist das Werk in Logik, Ontologie, Naturphilosophie, Psychologie, Theologie und Ethik, wobei die Logik, wie bei den mittelalterlichen Scholastikern, wiederum in eine niedere der Formen und eine höhere der Inhalte unterteilt ist. Der wissenschaftliche Fortschritt wird oft barsch abgewiesen: „Darwinismi doctrina non est admittenda“ (Bd. 1, S. 290). Ganz am Ende der Ethik werden einige gesellschaftliche und politische Fragen erörtert, etwa: „Auctoritas politica est immediate a Deo seu a lege æterna“ (Bd. 2, S. 294).
Das Lehrwerk stieß auf eine rege Nachfrage und erschien bis heute in mehr als einem Dutzend Auflagen. Als Mönch der Trierer Benediktinerabtei Sankt Matthias brachte Gredt eine deutschsprachige, für eine breitere Leserschaft gedachte Überarbeitung, Die aristotelisch-thomistische Philosophie, 1935 in Nazi-Deutschland heraus. Vier Jahre vor dem fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz endete das mehr als 800-seitige Werk mit dem Satz: „Unter diesen Bedingungen ist sowohl der Verteidigungskrieg zum Schutz des Rechtes, zur Abwehr versuchter Rechtsverletzung, als auch der Angriffskrieg zur Wiederherstellung des verletzten Rechtes und zur Bestrafung des Rechtsverletzers erlaubt“ (Bd. 2, S. 347).
Vom lateinischen Original erschien bereits 1909 eine „editio altera, aucta et emendata“ und 1912 davon eine zweite Auflage im katholischen Verlag Herder in Freiburg im Breisgau. Dort fiel sie dem bis heute berühmtesten aller Freiburger in die Hände, dem damals 23-jährigen Martin Heidegger. Der Sohn eines Küsters kam zu diesem Zeitpunkt, wie Greth, vom Neuthomismus. Er war 1909 für kurze Zeit in den Jesuitenorden eingetreten, ging dann ins Seminar, um Priester zu werden, und studierte an der Freiburger Universität bis 1911 neben Philosophie Theologie.
Heidegger schrieb öfters für die seit 1908 in München erscheinende Der Akademiker. Monatsschrift des Katholischen Akademiker-Verbandes. In seinen Beiträgen vertrat er, ebenso wie Gredt, den Standpunkt des katholischen Integralismus, der 1910 in der Einführung des Antimodernisten-Eids durch Papst Pius X. gipfelte.
In der März-Ausgabe von Der Akademiker besprach Heidegger 1912 den ersten, Logik, Ontologie und Naturphilosophie gewidmeten, Band von Gredts Elementa philosophiæ aristotelico-thomisticæ. Dabei erkannte er den didaktischen Wert des Werkes an, bemängelte es aber von einem „wissenschaftlichen“ Standunkt aus: „Die Definition der Philosophie ist doch gar zu billig. Die scholastische Logik sollte doch allmählich sich aus ihrer Starrheit und vermeintlichen Abgeschlossenheit losmachen. Es müssten dann allerdings in einigen Punkten wesentliche Umgestaltungen vorgenommen werden, indem der von Aristoteles herrührende metaphysische Einschlag auszuschalten wäre; es wäre damit die Logik als theoretische Fundamentallehre, als die Wissenschaft aller Wissenschaften in ihrer vollen Reinheit gefasst.“
So forderte Heidegger Gredt auf, dem Induktionsproblem, „für das die scholastische Logik keinen Platz hat“, die nötige Beachtung zu schenken, der Frage, wie von Einzelfällen auf allgemeingültige Gesetze geschlossen werden kann. „Überhaupt sollte mit der vielfach noch herrschenden Meinung, die Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft ausgesprochen hat, die Logik sei seit dem Aristoteles abgeschlossen und vollendet, einmal gründlich aufgeräumt werden.“
Heidegger, der ein Jahr später über Die Lehre vom Urteil im Psychologismus promovieren sollte, warf Gredt auch vor: „In der Psychologie, die der Verfasser der Philos. nat. eingereiht hat, dürfte angesichts des heutigen Standes der Forschung und Methode doch der empirische Charakter stärker hervortreten, ohne dem metaphysischen Leitgedanken Abbruch zu tun.“
Ein wenig schien Heidegger seine Kritiken an Gredt als verschleierte Selbstkritik zu benutzen, um die Distanz zu eigenen religiösen und philosophischen Standpunkten zu markieren, die ihm inzwischen als überholt vorkamen. Am Ende seiner Besprechung warf er sogar die Frage auf, „ob überhaupt eine solche Arbeit heute sich noch rechtfertigen lässt. Wir möchten es mit dem hervorragenden Löwener Historiker der Scholastik M. de Wulf halten, der in seiner Introduction à la Philos. néo-scolastique (p. 331) schreibt: ‘(Les doctrines de la philosophie néo-scolastique) demeureront, comme la vérité demeure; mais leur développement est appelé à progresser et à se modifier avec l'état général des connaissances humaines. À ce point de vue, la néo-scolastique est mobile comme tout ce qui vit; l’arrêt de son évolution serait le signal d'une nouvelle décadence.’“
Der Vorwurf, dass Gredt selbst unter den Neuthomisten einer der rückständigen und nicht in der Lage gewesen sei, den Neuthomismus weiterzuentwickeln, um ihn an die moderne Gesellschaft anzupassen, wurde nach dem Ersten Weltkrieg öfters und selbst in Besprechungen neuscholastischer Zeitschriften erhoben. Den zweiten Band von Gredts Werk besprach Heidegger nicht mehr. Seine Distanzierung von Gredt und der Neuscholastik hatte aber ihre Grenzen. Der chilenische Historiker Victor Farías betonte in Heidegger and Nazism (1989, S. 46-47): „Heidegger’s own philosophy, starting with the study of Edmund Husserl’s Logical Investigations and its handling of the problem of psychologism, hardly led him to revise his basic assumptions about the nature of history and society that he had adopted in his own Catholic integrist phase. On the contrary, his later secularization of these themes conferred on his initial ideology its distinctively sharp contours.“