Achtundsechzig Jahre nach Kriegsende ist es noch zu früh, dass der Staat sich für seine Beteiligung an der Judendeportation durch die deutschen Besatzer entschuldigt. Das erklärte Premier Jean-Claude Juncker (CSV) vor wenigen Tagen in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage. Denn noch sei diese Periode unserer Geschichte nicht restlos aufgeklärt, noch bliebe eine gewisse Unklarheit über die Rolle der Verwaltungskommission im Allgemeinen und über deren Beziehung zur Judendeportation im Besonderen. Auf Beschluss des Parlaments hatte die Luxemburger Verwaltungskommission 1940 einige Monate lang die Regierung ersetzt und mit den deutschen Besatzern zusammengearbeitet.
Nun hätte man durchaus Verständnis dafür aufbringen können, dass der sonst über ein feines Gespür verfügende Regierungschef Skepsis gegenüber dem modischen Ritual aufbrächte, wo ganze Staaten, aber auch Kirchen und Firmen, sich kollektiv an der Stelle von längst verstorbenen Tätern bei den Nachfahren längst verstorbener Opfer, seien es Juden, Ureinwohner oder Sklaven, entschuldigen. Ein symbolischer Handel, bei der die Politik dem Beichtstuhl Platz macht und die Geschichte nicht verstanden, sondern verziehen wird. Den Hintergedanken beschrieb die katholische Philosophin Chantal Delsol in ihrem Aufsatz Le pardon historique: „Le repentir et la demande de pardon sont donc des moyens de réhabiliter ou de sauver les croyances en les débarrassant des immoralités qui pourraient les détruire – car aujourd’hui, l’immoralité est rédhibitoire. Il s’agit de solder les dettes pour sauvegarder le château.“
Doch der Premier lehnte nicht das Entschuldigungsritual ab, sondern hielt es wegen des unzureichenden Kenntnisstands lediglich für verfrüht. Obwohl der Historiker Serge Hoffmann ihm bereits Monate zuvor, nach einer Entschuldigung des belgischen Premiers, in einem offenen Brief aufgezählt hatte: „Schon Anfang September 1940 signalisierte die Luxemburger Verwaltungskommission der deutschen Zivilverwaltung den Aufenthalt ausländischer, besonders polnischer Juden in Luxemburg. Zur selben Zeit wurden die Distriktskommissare von der Verwaltungskommission angewiesen, über die Gemeinden ‚unverzüglich mit der Aufstellung eines Verzeichnisses der Kinder israelischer Konfession, die am Schluss des letzten Schuljahres in der Schule eingeschrieben waren‘, aufzustellen.“ Die meisten dieser von der Luxemburger Verwaltungskommission denunzierten Flüchtlinge und Schulkinder wurden von den Nazis verschleppt und ermordet.
Junckers Zögern hat aber wohl weniger mit dem Wunsch nach historischer Akkuratesse als mit dem Bemühen zu tun, sich den politisch und ökonomisch unangenehmeren Seiten der Geschichte erst anzunehmen, wenn Gras darüber gewachsen ist und die letzten Zeitzeugen tot sind. So geschehen bei der Entkriminalisierung der Spanienkämpfer und der „Arisierung“ jüdischen Vermögens. Dadurch vermindert er das mit jedem Schuldeingeständnis verbundene Risiko von Entschädigungsansprüchen und sichert er die Kontinuität der seit einem Jahrhundert vorrangig von seiner Partei ausgeübten staatlichen Autorität.
Im Fall eines Schuldeingeständnisses im Namen der Verwaltungskommission stellen sich beide Fragen besonders deutlich. Weil es hier um eine bisher nicht übernommene Verantwortung des Luxemburger Staats, unabhängig vom alten Anspruch auf deutsche Kriegsreparation geht, könnten auch neue Entschädigungsansprüche entstehen. Und weil sich hinter den von Juncker vorgeschobenen Unklarheiten über die Rolle der Verwaltungskommission in Wirklichkeit die politisch brisantere Frage nach der Rolle der christlichen, sozialistischen und liberalen Abgeordneten unter der deutschen Besatzung bis zur Auflösung des Parlaments am 22. Oktober 1940 stellt.