„mein Gott! man müßte Suhrkamp-Lyriker sein!/ aber man ist es nicht/ und man wird es auch nicht“, heißt es in einem der Wie Jacopo da Pontormo-Gedichte, mit denen Jean-Paul Jacobs seinem 1995 erschienenen Gedichtband Die Feste der Engel eröffnete. Diese ironischen Verse lesen sich beinahe wie ein allgemeiner Kommentar zur Wahrnehmung – oder vielmehr zur nahezu ausbleibenden Wahrnehmung – luxemburgischer Schriftsteller in den Literaturbetrieben des Umlands, an der sich auch rund zwanzig Jahre später nicht viel geändert hat. Eine der wenigen Ausnahmen ist der aus Esch gebürtige und seit 1983 in Köln wohnhafte Guy Helminger, für den es 1995 zwar noch ein weiter Weg bis zum Vertrag bei Suhrkamp war, der es aber längst geschafft hat, sich auf dem deutschen Buchmarkt zu etablieren.
Dass Helmingers Erfolge dabei das Ergebnis einer unablässigen und vielfältigen Tätigkeit als Schriftsteller und als Aktant in den Kulturbetrieben Deutschlands und Luxemburgs sind, führt das von Claude D. Conter (CNL), Thomas Ernst und Rolf Parr (beide Uni Duisburg-Essen) herausgegebene Buch Guy Helminger – Ein Sprachanatom bei der Arbeit deutlich vor Augen. Der Band besteht aus einer interessanten Mischung von Selbstauskünften des Autors und literaturwissenschaftlichen Beiträgen von Germanisten aus Deutschland und aus Luxemburg: Einerseits sind die Texte von drei Vorlesungen abgedruckt, die Helminger im Sommersemester 2012 anlässlich einer Poetikdozentur an der Universität Duisburg-Essen gehalten hat, andererseits ermöglichen die verschiedenen Aufsätze einen Überblick über den Facettenreichtum seines Werks: Helminger tritt als Autor von Gedichten in Erscheinung, von Romanen, Erzählungen, Theaterstücken, Hörspielen, Weblogs und Fernsehserien. Die Kombination aus Primärtext und wissenschaftlicher Reflexion dürfte in diesem Zusammenhang vor allem letzterer eine größere Sichtbarkeit verleihen, als dies für akademische Aufsätze gewöhnlich der Fall ist.
Etwas seltsam wirkt bei der Konzeption des Bandes immerhin, dass – wie die Herausgeber übrigens selbst anmerken – keiner der Aufsätze exklusiv den Gedichten Helmingers gewidmet ist, wobei die Poetikvorlesungen gerade bei der Lyrik ihren Ausgangspunkt nehmen. In „Gedichtlappen. Lyrik und der dunkle Rest“, der ersten Vorlesung, recycelt Helminger zum Teil wortgleich das Nachwort aus seinen Gesammelten Gedichten von 2010, reichert dieses jedoch um erklärende Hintergründe und verdeutlichende Beispiele an. Sein Rückbezug auf die Einmaligkeit des Erlebnisses als Grundlage für sein lyrisches Schreiben, also für die Verdichtung des Moments zum lyrischen Text, erfährt auf diese Weise zum Beispiel eine Verankerung in der Phänomenologie: Der Autor bleibt offen für das, was ihm begegnet, er erlebt, nimmt auf, sammelt – und konstruiert anschließend eine komplexe, vielfältige Situation, die das Erlebte gewissermaßen von allen Seiten beleuchtet oder „auseinanderfaltet“, und so für den Leser erfahrbar macht; Helminger führt zur Veranschaulichung den Vergleich mit dem Kubismus in der Malerei an.
Da die Folgen dieses Prinzips nicht allein die Lyrik Helmingers betreffen, wäre es vermutlich von Gewinn gewesen, sie näher zu untersuchen. Zum Glück werden diese Folgen von Helminger größtenteils selbst genannt und erläutert: Eine ist die „rücksichtlose Gegenwärtigkeit“ der Gedichte, die sich in Helmingers allgemeinem Interesse für seine Gegenwart widerspiegelt, das sogar dann bestehen bleibt, wenn er sich, wie in seinem Roman Neubrasilien, historischen Themen zuwendet.
Eine andere Folge besteht in der besonderen Gewichtung des Lautlichen, die zwar vor allem die Gedichte Helmingers betrifft, aber nicht auf diese beschränkt bleibt. Als besonderes Gimmick ist dem Buch übrigens ein Datenträger mit dem Videomitschnitt der Poetikvorlesungen angefügt, der dem Leser einen lebhaften Eindruck von Helmingers – man möchte fast sagen: berüchtigten – Vortragskünsten vermittelt.
Wer vom Erlebten ausgeht, macht sich drittens selbst mit seiner spezifischen Biografie im Prozess der literarischen Anverwandlung zum Umschlagplatz zwischen Erleben und literarischem Text. Bei aller Offenheit, die Helminger auch in Bezug auf sich selbst an den Tag legt, wenn er über biografische Einflüsse auf sein Schreiben spricht, bleibt dabei ein „dunkler Rest“, ein blinder Fleck in der Einschätzung von Handlungen und Motivationen. Dieser „dunkle Rest“ gehört fest zu Helmingers Menschenbild; er reklamiert ihn auch für seine Figuren.
Die Aufsätze, die auf Helmingers Auskünfte folgen, leisten teilweise die Einführung in Helmingers Werk, so vor allem der Text von Claude D. Conter, der neben einem biografischen Abriss und der Beschreibung von Helmingers Vernetzung im deutschen und im luxemburgischen Kulturbetrieb auch die Umrisse seiner Poetik ausformuliert. Die restlichen Aufsätze werfen jeweils ein Schlaglicht auf einen besonderen Aspekt von Helmingers Werk oder auf einzelne Veröffentlichungen, wobei Helmingers Romane und Erzählungen im Mittelpunkt stehen. Etwas forciert wirkt – gerade angesichts der Auslassung der Lyrik als einem zentralen Aspekt von Helmingers Schreiben – der Aufsatz zu „Guy Helminger als Drehbuchautor“, der vornehmlich die literarischen Referenzen in den von Helminger verfassten Folgen der Sitcom Weemseesdet untersucht und auf Helmingers Tätigkeit als Moderator im luxemburgischen Fernsehen eingeht.
An dieser Stelle offenbart sich eine Schwierigkeit, die von den Herausgebern des Bandes leider völlig ausgeblendet wird: Ein Buch dieser Art zusammen mit dem in Frage stehenden Autor herauszugeben, der ja an der Reflexion über sein Schreiben selbst teilnimmt, bedeutet, die wissenschaftliche Distanz zum Untersuchungsgegenstand zumindest teilweise aufzuheben. Dass die Aussagen Helmingers aus den Poetikvorlesungen von den Aufsätzen lediglich bestätigt, kaum aber diskutiert oder in Frage gestellt werden, dass diese Aufsätze größtenteils isolierte Perspektiven bieten, anstatt verstärkt aufeinander einzugehen, verhindert den Anstoß einer literarischen Diskussion innerhalb des Bandes selbst. Schade ist auch, dass zwar Helmingers Vernetzung in den Kulturbetrieben thematisiert wird, nicht aber der Widerhall seiner verschiedenen Tätigkeiten in der Presse und bei einem breiteren Publikum.
Die größte Schwäche des Buches betrifft allerdings nicht den Inhalt, sondern die unhandliche Aufmachung, die eher an einen Fotoband erinnert als an eine wissenschaftliche Publikation. Das Querformat und das schwere, seidenmatte Papier kommen zwar der Wiedergabe der zahlreichen Autorenporträts und Bilddokumente zugute, sie verkomplizieren aber auch die Handhabung im akademischen Alltag, in dem das Buch vornehmlich Verwendung finden wird.