Ein alter Mann liegt im Sterben. Manchmal ist ihm seine Situation bewusst, seine Abhängigkeit von Pflegepersonal, Ärzten und „der Frau“, die sich geduldig um ihn kümmern und ihn trotz Undank und Abweisung bei Laune zu halten versuchen. Manchmal wird sein Bewusstsein für das Hier und Jetzt aber auch von Träumen, schiefen Erinnerungen und diffusen Angstzuständen verstellt. Gardinen beunruhigen ihn, weil sich jemand dahinter verstecken könnte. Geräusche, die er nicht zuordnen kann, nimmt er als untrügliche Anzeichen einer Bedrohung wahr. Auf einmal sitzt der jung im Krieg gefallene Bruder am Bett und zeigt ihm durch das Einschussloch im Kopf ganze Landschaften, die Amerikaner kommen auf weißen Kaninchen angeritten und ein längst verstorbener Freund kommt zu Besuch, um mit ihm einen schweren Unfall von vor vielen Jahren nachzustellen.
Seine zunehmend von Unsicherheit geprägte Welt legt sich der Sterbende neu zurecht: Pfleger und Ärzte benennt er kurzerhand um und drängt sie in antagonistische Rollen: Omar ist in seiner Vorstellung derjenige, der ihn grob anfasst, ein Verhältnis mit der Frau hat und ihm schnellstmöglich den Garaus machen will, während der starke, aber behutsame „Kapitän Mamoula“ ihm als Retter zur Seite steht. Es misslingt ihm immer häufiger, die tatsächlichen Besucher mit seinem erinnerten Umfeld in Einklang zu bringen. Irritiert konstatiert der Mann die „vielen Fremden, die neuerdings bei ihm ein- und ausgehen.“ (S. 102) „Und wer bist du?“, fragt er seinen Sohn. Dessen Antwort lässt er nicht gelten: „Der Sohn bin ich. Du bist der Vater.“ (S. 107)
Einen „Roman“ nennt Georges Hausemer sein im eigenen Verlag erschienenes Buch Der Suppenfisch. Die Wahl dieses Labels ist nicht selbstverständlich. Bei dem Buch handelt es sich, wie die Widmung preisgibt, um eine sehr persönliche und intensive Auseinandersetzung mit dem Sterben des Vaters, die – so muss der Leser vermuten – für Verwandte und Freunde des Verstorbenen einen biografischen Zusammenhang ergeben, der Außerstehenden verwehrt bleibt. Dem Leser bleiben das Erahnen von Umrissen eines Lebens und das Wiedererkennen einzelner Motive, ohne dass er dabei allen Erinnerungsbruchstücken eine eindeutige Bedeutung zuweisen könnte. Stellenweise gestaltet sich die Lektüre daher etwas ermüdend: Die Erzählung folgt zwar einem Zeitstrang, ist jedoch trotzdem nicht auf die Entwicklung einer äußeren Handlung hin angelegt – im Wesentlichen liegt der Mann über die knapp hundertvierzig Seiten des Buches im Bett. Die Wiedergabe seiner Gedanken und Träume verfängt sich in Schlaufen, kreist in sich selbst, verliert nicht selten die unmittelbare Nachvollziehbarkeit für den Leser.
Genau dieser Verzicht auf eine restlos kongruente Erzählung macht Hausemers Herangehensweise gleichzeitig interessant. Bemerkenswert ist sein Versuch, Verständnis und Einfühlungsvermögen für seine Figur aufzubringen, ohne deren Widersprüche ganz auflösen oder sie vor den Hintergrund einer geordneten Lebensgeschichte stellen zu wollen. Dies hatte etwa der österreichische Schriftsteller Arno Geiger in seinem einfühlsamen autobiografischen Vaterbuch Der alte König in seinem Exil versucht. Die Demenzerkrankung des Vaters wird dort aus der Sicht des Autors schrittweise nachvollzogen und den – durch den Autor – rekonstruierten Kriegserinnerungen des Vaters gegenübergestellt, die dieser durch seine Erkrankung nicht länger zurückdrängen kann. Bei Hausemer begegnet dem Leser eine Vaterfigur derselben Generation. Die allmähliche Loslösung des Vaters von der Welt und seinem Selbst wird hier aber mit einer Empathie erfasst, die die Fremdheit als solche belassen, sie also nicht in nachvollziehbare Verständnismuster zurückübersetzen will: Ein alter Mann wird sich und seinem Umfeld fremd, er verliert seine Umgangsformen, fühlt sich verfolgt und ungerecht behandelt, begegnet seinen Nächsten zunehmend mit Neid und Misstrauen.
Das Konzept ist selbstverständlich nicht neu. Einem Leser, der sich unter dem Namen „Mike Conrad“ an das Land wandte (Ausgabe vom 11. Juli 2014), war die Ähnlichkeit zur Novelle Kammermusik suspekt vorgekommen, die in Guy Rewenigs Verlag Ultimomondo erschienen ist. Von „Ideenklau“, „Doppelgängertum“ oder einem „wundersamen Zufall“, wie der Titel des Leserbriefs suggeriert, kann indessen keine Rede sein. Zum einen würde kein Autor ein Monopol auf das Thema Sterben und Tod in Anspruch nehmen wollen, und sei es nur auf das Thema „Sterben als Pflegefall“. Zum anderen handelt es sich beim Fehlen eines Plots, der Montage verschiedener Erzählperspektiven oder der Überblendung verschiedener Bewusstseinsebenen um durchaus konventionelle, in diesem Fall dem Sujet sehr angemessene Erzähltechniken: Wo die Identität der Figur zunehmend zerfasert und durchlässig für alle möglichen äußeren und inneren Einflüsse wird, fließen auch die Diskurse ineinander. Literaturwissenschaftler brauchen in diesem Fall also nicht, wie der Leserbriefschreiber mutmaßt, von etwas Abstrusem wie einem „vorwegnehmenden Plagiat“ zu sprechen, sondern höchstens von ein wenig altbackenem Poststrukturalismus, dem beide Autoren ein Stück weit anhängen, jeder freilich auf seine Weise. Kein Grund also, einen Skandal vom Zaun zu brechen. Überdies kann, was den Leserbrief anbelangt, auch das x-te Pseudonym über den unverkennbaren, streitlustigen Habitus eines gewissen Autors und Verlegers aus Nospelt nicht hinwegtäuschen.