Ein alter Mann stirbt in einem Krankenhauszimmer vor sich hin – um diese Situation kreisen gleich mehrere aktuelle Veröffentlichungen einheimischer Autoren. Noch vor Sterbehäusle von Michel Clees, das am Dienstag mit einem Förderpreis der Fondation Servais ausgezeichnet wurde, und Der Suppenfisch von Georges Hausemer erschien unter dem Pseudonym „Michel Selec“ die Novelle Kammermusik. Eine Sterbenskomödie im Selbstverlag des Autors. Nachdem das Buch es in die Bestenliste der zehn meistverkauften literarischen Bücher des Jahres geschafft hatte, wurde es im vergangenen Dezember von Éditions Ultimomondo nachgedruckt.
Von allen Protagonisten der genannten Bücher ist Dominik Drupek, der in Kammermusik dem herannahenden Tod entgegensieht, sowohl der undankbarste als auch der mitteilungsfreudigste Patient. Sein Redeschwall ergießt sich wechselweise über die Krankenschwester, den Zimmernachbarn und nicht allzu unliebsame Besucher, darunter vor allem ehemalige Schüler und deren Mütter. Allzu unliebsame Besucher finden einen schlafenden oder zumindest scheinbar schlafenden Kranken vor; auch wie sie auf Drupek einreden, fließt in den Text mit ein. Aus dieser Montage ergibt sich eine Erzählweise, die mehr oder weniger der alten literaturwissenschaftlichen Vokabel eines „stream of consciousness“ entspricht, also eines Bewusstseinsstroms der Figur, der alles mit sich reißt, was in den Radius der Wahrnehmung gelangt. Erinnertes, Gesehenes, Gesprochenes und Gehörtes gehen nahezu nahtlos ineinander über. Ergebnis ist das durch die Krankenhausweise stark begrenztes Panorama eines trostlosen Daseins, dessen Ende abzuschätzen ist.
Eine Geschichte im engeren Sinn einer Handlungsentwicklung mit Exposition, Entfaltung und Auflösung erzählt Kammermusik dabei nicht. Zwar deuten sich auf den ersten fünfzig Seiten mit Drupeks gespanntem Verhältnis zu seiner chaotischen Schwester und seinem nicht weniger gespannten Verhältnis zu seinem Zimmernachbarn Zeller Handlungsstränge an, diese gehen jedoch alsbald in einem Wust von Obsessionen und Schimpftiraden unter. Die Erzählung springt von Moment zu Moment und von Figur zu Figur, verhakt sich zeitweise an Stichworten und Lieblingsthemen Drupeks, um gleich zur nächsten Episode überzugleiten. So versucht Drupek zum Beispiel der Krankenschwester glaubhaft zu machen, an ihm gehe ein Chorsänger von Format zugrunde. Seitenlang doziert er über „Sängerzusammenstellungspläne“ und „Sängeraufstellungsmöglichkeiten“ (beides schwierig) und verweist mit Nachdruck auf seine Vorliebe für die Carmina burana („mein ganzes Musikgefühl ist bis heute sozusagen carminaburanisiert“, S. 24). Allein die Frau will von dem Gesang nichts hören und die Gedanken Drupeks schweifen übergangslos zu einem anderen seiner Dauerthemen über: den Fleischbuletten aus der Krankenhausküche.
Dass sich der mutmaßliche Autor von Kammermusik in Sterbehäusle mit einer ganz ähnlichen Thematik befasst, zwingt zum Vergleich. Der Name „Selec“ ist schließlich nur allzu leicht als Anagramm von „Clees“ wiederzuerkennen. Welchen Gewinn aber hätte ein Autor davon, sich bei der Auseinandersetzung mit einem Thema, das ohnehin mit seinem Namen in Verbindung steht, ein derart fadenscheiniges Pseudonym zuzulegen und im Begleittext des Buches auch noch ausdrücklich darauf zu verweisen, dass es sich hier nicht um den Klarnamen des Autors handelt?
Nun, vermutlich keinen. Beim Vergleich der beiden Bücher stellt sich nicht erst auf den zweiten Blick heraus, dass Sprache, Erzählrhythmus und thematische Herangehensweise rein gar nichts miteinander gemein haben. In Sterbehäusle leises Herantasten, hier anhaltendes Gedröhn. Sparsamer, präziser Wortgebrauch auf der einen Seite, manisches Begriffsgewühl auf der anderen. Die Vorliebe für Bandwurmwörter, Wortschöpfungen und Kalauer sowie das forcierte Tempo und ein ausgeprägter Hang zum Drastischen erinnern stark an den Stil eines Autors, der schon vor Jahren ein Pseudonym bemühte, um sich den Vorurteilen der Leserschaft zu entziehen. Auch die episodische Erzählweise erinnert an (jetzt kommt’s) Guy Rewenig – the Naskandy years, insbesondere an Feierläscher, den zweiten der Naskandy-Romane. Auch inhaltlich lassen sich zahlreiche Hinweise dafür finden, dass mit dem Anagramm „Selec“ ein doppeltes Täuschungsmanöver vom eigentlichen Autor ablenken soll: Wie Rewenig hat Drupek beispielsweise eine Karriere als Grundschullehrer hinter sich, er gibt sich als leidenschaftlicher Verfechter des Rauchens und rühmt seine frühere Impertinenz, mit der er „unzählige Schurken beleidigt habe“. Leser von Rewenigs Glosse Made in Happyland dürften den Hinweis aufzugreifen wissen.
Wem dieser biografische Zusammenhang nicht einleuchtet, darf nach literarischen Fingerzeigen suchen. Ausgerechnet die rothaarige Tamella, eine Figur aus Rewenigs Roman Grouss Kavalkad, die Claude D. Conter in seiner Festrede als untrüglicher Beweis für Rewenigs Autorschaft der Naskandy-Trilogie gegolten hatte1, legt unter dem Namen „Zenia“ einen Kurzauftritt hin. Diese ist eine Verehrerin Drupeks, die wie ihre literarische Vorgängerin über eine wilde Mähne mit „roten Korkenzieherlocken“ verfügt, die ihr zu Berge stehen.
Möglich ist natürlich alles, auch dass Autor und Verleger zum Verwechseln ähnlich schreiben. Wirklich plausibel ist das aber nicht.