Viel Harmonie Vergangenen Donnerstag gelang Staatsminister Xavier Bettel (DP) das Kunststück, auf Kosten der Allgemeinheit eine Wahlkampfveranstaltung der Superlative durchzuführen, ohne dass sich irgendjemand wirklich darüber beschwert hätte. Zusammen mit seinen belgischen und niederländischen Amtskollegen Charles Michel und Mark Rutte sowie dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron inszenierte er sich erst bei einem Vierertreffen als Staatsmann europäischen Ranges. Und diskutierte danach auf Augenhöhe mit seinem Duzfreund Macron in der ausgebuchten Philharmonie bei der Bürgerkonsultation.
Es hätte nicht besser für Bettel laufen können. Im Glanz der Scheinwerfer wurden alle Uneinigkeiten in europäischen Fragen ausgeblendet, die ganz realen Dissonanzen zwischen Luxemburg und Frankreich überspielt. Dass die von Macron angestiefelten Bürgerkonsultationen in Europa, die mit den Bürgerdialogen der EU-Kommission konkurrieren, eine Alibiveranstaltung in Reinform sind, war dem Publikum ohnehin egal. Es war vor allem gekommen, um sich im Glanze des französischen Präsidenten, dem Politik-Wunderkind Emmanuel Macron, zu sonnen. Für Essen und Trinken war gesorgt.
Schon Stunden vor Beginn der Konsultation stellten sich die ersten Besucher in der Mittagspause vor der Philharmonie in die Schlange, um einen möglichst günstigen Platz zu ergattern. Gegen 14.00 Uhr marschierte eine Armee von uniformierten Hostessen auf, bewaffnet mit handgehaltenen Metalldetektoren, um die Eingänge des Konzerthauses zu besetzen, die Polizei hielt Lagebesprechung. Währenddessen empfing Bettel seine Amtskollegen aus Belgien und den Niederlanden sowie den französischen Staatschef im pittoresken Burglinster – Senningen hatte Macron bereits bei vorherigen Besuchen gesehen – um, wie es offiziell hieß, „les grands sujets de l’actualité européenne“ zu diskutieren.
Große Fußstapfen Jetzt, in der heißen Wahlkampfphase, war dieses Treffen für Bettel besonders wichtig. Denn er hat erstens, obwohl er in Umfragen als beliebt und kompetent gilt, innenpolitisch nichts von Bedeutung zu sagen, da er die Führung der Regierungsgeschäfte, als „Team-Arbeit“ getarnt, weitestgehend seinem Vize-Premier und anderen Ressortministern überlassen hat. Weil er dieses Mal nicht aus der Opposition heraus gewählt wird, bleibt ihm deshalb zweitens nur die Möglichkeit, sich als Europäer von Format zu profilieren.
Das ist für den Nachfolger des Helden von Dublin keine leichte Aufgabe. Während der Regierungszeit von Jean-Claude Juncker, dem viele vorwarfen, im Hauptberuf Präsident der Eurogruppe zu sein und nur nebenberuflich Staatsminister, ging es in der Rue de la Congrégation zu wie im Taubenschlag. Präsidenten, Staats- und Finanzminister, Generalsekretäre gaben sich die Klinke in die Hand. Ab 2013 nahm das Va-et-Vient nicht nur renovationsbedingt ab, weil Bettel die verrauchten Büros streichen und den Teppichboden auswechseln ließ. Mit seiner Amtsübernahme wurde Luxemburg, das mit Jean-Claude Juncker (CSV) in der europäischen Schwergewichtsklasse geboxt hatte, zurückgestuft in die Kategorie der drittrangigen Zwergstaaten. Bei seinen Auftritten sprach der Nachfolger des Vermittlers zwischen Frankreich und Deutschland viel von „Brücken bauen“, nur war längst nicht immer klar, auf welcher Baustelle er sich befand.
Noch rezente Versuche, sich als Europäer von Format zu präsentieren, waren peinlich gescheitert. Als Donald Tusk vergangenen März beschloss, die Leitlinien zur Verhandlung über ein Post-Brexit-Abkommen lieber im von Soldaten gesicherten Senninger Schloss und von genau zwei, im Voraus gefilterten Journalistenfragen zu präsentieren als vor der Brüsseler Presse, wollte Bettel die Gelegenheit nutzen, um gegen EU-Kommissar Pierre Moscovici zu poltern. Er warf ihm theatralisch vor, ohne Vorwarnung im Bericht über das Luxemburger Stabilitätsprogramm die hiesigen aggressiven Steuerpraktiken angeprangert zu haben. Und zwar obwohl der Bericht der Luxemburger Regierung seit Wochen bekannt war, wie Moscovici genüsslich klarstellte.
Backstreet’s back alright Deswegen war es für Bettel ein Triumph, zusammen mit Michel, Rutte und Macron vor die Kameras und hinters Rednerpult zu treten. Vier schnittige, vergleichsweise junge, liberale bis progressive Regierungschefs, die ein Augenzwinkern hier, ein Lächeln da verschenkten und ihm bescheinigten, in Europa mit ihnen in einer, womöglich sogar der ersten Reihe zu stehen. Buchstäblich, sollte irgendjemandem der Zweck der Übung nicht klar sein, sagte Mark Rutte: „Bei den EU-Gipfeln gibt es manchen Regierungschef, während dessen Wortmeldung man aufs I-Phone schaut. Wenn Xavier Bettel redet, schaut man nicht aufs I-Phone.“
Um zu vertuschen, dass sich die vier in vielen der „grands dossiers“ ganz und gar uneinig sind, zum Beispiel, wenn es ums Geld geht, gab es zum Arbeitsmittagessen Migration. Zusammen präsentierten sich die vier als Front gegen die Nationalisten, gegen Victor Orbán und Matteo Salvini, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Und Bettel hatte am Donnerstag seinen Redetext gut eingeübt. Er parlierte perfektes Französisch. Und sagte über die Flüchtlinge aus Kriegsgebieten: „Ces gens ne veulent pas mieux vivre, ils veulent vivre, survivre.“ Eine EU, in der für sie kein Platz sei, sei nicht seine EU, so Bettel. Macron erklärte, was das konkret heißen sollte: Verantwortung der Staaten erster Einreise, Asylsuchende aufzunehmen, sowie Solidarität bei der Verteilung der Flüchtlinge und gemeinsame Finanzierung der Rückführung von Wirtschaftsflüchtlingen. Er versprach „keine Konzessionen“ gegenüber Nationalisten, gegenüber jenen, welche die Identitätskarte spielen. Den DP-Wahl-Slogan Zukunft op Lëtzebuergesch war ihm offensichtlich unbekannt.
No such thing as a free lunch Während der vier präparierten Fragen stellte sich heraus, was Bettel bereit war, Emmanuel Macron für die Wahlkampfunterstützung zu zahlen: Luxemburg, EU-Headquarter von Amazon, das sich bisher gegen eine europäische Sondersteuer für Internet-Konzerne gesträubt hat, könne einer zeitlich begrenzten Gafa-Steuer im Hinblick auf eine globale Lösung im OECD-Rahmen zustimmen, erklärte Bettel erstens. Google, Amazon und Facebook für ihre Europa-Geschäfte zu besteuern, ist eine von Macrons europäischen Prioritäten, mit der er bisher genauso auf Granit gebissen hat wie mit seiner Reform der Eurozone. Letztere lehnte Luxemburg noch vor zwei Monaten beim Euro-Gifel ab, weil Macron den Haushalt der Eurozone über eine Finanztransaktionssteuer finanzieren will, die den Luxemburger Finanzplatz teuer zu stehen käme. Zweitens hatten „zwei Minuten Diskussion über die Europawahlen“ offensichtlich ausgereicht, um eine Allianz zwischen Macrons Bewegung En marche und den Liberalen im Europaparlament zu besiegeln. Alde-Franktionsleiter Guy Verhofstadt offizialisierte diese angestrebte Zusammenarbeit nur Tage später. Die Rechnung war offensichtlich nicht zu teuer. „ll est malin votre Premier ministre“, stellten die französischen Journalisten bewundernd fest, während sie im Mini-Bus hin- und her geschüttelt wurden, der mit Vollgas in der Polizei-Eskorte Richtung Kirchberg raste.
Perfekte Inszenierung Vor der Philharmonie hielten ein paar Dutzend Demonstranten der französischen Presse Plakate gegen das Atomkraftwerk in Cattenom entgegen, um zu zeigen, dass in Luxemburg auch Opposition möglich sein kann. Drinnen im Konzertsaal wartete das Publikum bereits ungeduldig darauf, konsultiert zu werden. Darunter die zu jeder Europa-Veranstaltung genötigten Gymnasialschüler, um deren Zukunft es geht, alle DP-Regierungsmitglieder, Abgeordnete, Arbeitgebervertreter und sonstige Bürger, insgesamt alle sehr euro- und frankophil. Emmanuel Macron, dem es gelungen ist, sich binnen kürzester Zeit in Frankreich noch unbeliebter zu machen als sein Amtsvorgänger François Hollande, gab das Provinz-Publikum eine stehende Ovation als Vorschuss, noch bevor er ein Wort gesagt hatte, allein für sein Erscheinen auf der Bühne.
Und so sprach Emmanuel zu den Luxemburgern Der französische Präsident sollte nicht enttäuschen. Er beantwortete Fragen besorgter Teenies zum Klimawandel, von engagierten Aktivistinnen über die Frauenrechte in und Waffengeschäfte mit Saudi Arabien, über ultra-liberale Exzesse und über Migration und Rechtsstaatlichkeit. Er lieferte eine Master-Klasse in politischem Showgeschäft. Hochkonzentriert, wo Bettel vergaß, auf Fragen zu antworten, ließ er jeden reden, dem die Moderatorin das Wort abschneiden wollte. Er gab jedem und jeder, die das Wort ergriffen, das Gefühl, ernst genommen zu werden, auch denen, über die Bettel spottete. Nach einem klaren Muster zeichnete er bei jeder Antwort die grobe Problematik auf, gab zu verstehen, die Situation sei ernst, schaffte Dringlichkeit, zählte dann drei bis sechs konkrete Maßnahmen und Aktionen auf, mit denen er sich persönlich dafür einsetze, die Situation zu verbessern. Die Stimmlage und Stimmung waren immer richtig kalibriert, nie zu aufgeregt, die Redegeschwindigkeit genau richtig zum Folgen. Er spannte den Bogen von einer Frage zur nächsten, und immer hörte er mit einer positiven Note auf, einem Aufruf zum Handeln, der Beteuerung, dass Veränderung, Hoffnung möglich sei, er hierfür kämpfe.
Xavier Bettel setzte hier und da einen Akzent, mit freundschaftlichem Widerstand gegen Cattenom, indem er mit der Luxemburger Weltraumwirtschaft kokettierte. Er hatte die Lacher auf seiner Seite. Er gab einem wütenden Rentner Recht, der sich beklagte, zu oft gäben Politiker „Brüssel“ die Schuld, wenn etwas schiefgehe, statt für die von ihnen getroffenen Entscheidungen gerade zu stehen; das habe sich mit dem Brexit bestätigt. Dass ihn selbst die „Zukunft der EU“ vor einem Jahr nicht ausreichend interessierte, um das Thema mit den gewählten Vertretern des Luxemburger Volkes in einer dafür anberaumten Parlamentsdebatte zu diskutieren, statt in einem Vorort der britischen Hauptstadt einem Tennis-Spiel zuzusehen – Twitter-O-Ton: „Allez Mulles!“ –, blieb am Donnerstag für Bettel glücklicherweise unerwähnt.
Je vous aime Eine rüstige Luxemburger Italienerin machte erst Emmanuel Macron eine Liebeserklärung, sah in Abwesenheit seiner Gattin davon ab, das für ihn vorbereitete Lied zu singen, versicherte schließlich Xavier Bettel ihrer Zuneigung. So bestätigte sie, dass Letzterer politisches Kapital aus seiner Rolle als Schwiegermutters Liebling schlagen kann, und Ersterer Schwiegermutti davon träumen läßt, auch sie könne einen jüngeren Mann erobern. Sie wollte dennoch wissen, warum die beiden nicht mit der italienischen Regierung klarkämen. Diese Gelegenheit, sich als Anti-Orban darzustellen, ließen sich die beiden nicht entgehen. Bettel wiederholte den eingeübten Satz über die Flüchtlinge: „Ces gens ne veulent pas mieux vivre, ils veulent vivre, survivre.“
Der Bürgermeister von Frankreich Als eine Schülerin sich beschwerte, sie habe vergangenes Schuljahr keinen Platz in einer zweisprachigen Klasse in Paris erhalten können, und der Präsident ihr antwortete, sie solle ihr Dossier bei seinen Sicherheitsbeamten abgeben, stellte sich heraus, dass auch Macron nur der Bürgermeister von Frankreich ist. Weder er noch Bettel fanden es notwendig, nach der Frage-und-Antwort-Runde Schlussfolgerungen zu ziehen, obwohl es offizieller Zweck der rund 500 von Macron angeleierten Konsultationen ist, dem Dezember-Gipfel der Staats- und Regierungschefs diese vorzulegen. Zum Dank für eineinhalb Stunden Scheindemokratie lieferte das Publikum den beiden eine weitere Standing Ovation. Als die rüstige Italienerin sich danach zur Bühne vorkämpfte und Macron an ihre Brust drückte, offenbarte sich die wirkliche Strategie hinter seinen Konsultationen: Jeden EU-Bürger einzeln zu herzen, um ihn oder sie von der europäischen Sache zu überzeugen. Die Menge stürzte Richtung Bühne, drängte zu Macron, um sich mit ihm zu fotografieren, ihn anzufassen, am besten beides gleichzeitig. Während Macron Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten, koordinierte Xavier Bettel entgegengestreckte Mobiltelefone und Selfie-Posen.
Schließlich gelang es den Sicherheitsbeamten, den französischen Präsidenten in einem Stück aus der Philharmonie und dem Land herauszuschleusen. Da begann für Xavier Bettel erst das richtige Bad in der 2 000 Personen starken Menge. Im Foyer der Philharmonie flossen Crémant, Wein und Softdrinks in Strömen. Traiteur Steffen servierte Häppchen, während der Staatsminister die französische Presse unterhielt. „Du moins il est drôle. Vous ne vous ennuyez pas avec lui“, lautete ihr Fazit nach der Charme-Offensive. Bis 20 Uhr schüttelte Bettel Hände, posierte für Fotos, machte bereitwillig Selfies. Wie „flott“ die Konsultation mit Emmanuel Macron doch war, wurde ihm bestätigt, während er sich von Gruppe zu Gruppe küsste und ablichten ließ.Es war sein Tag. Die Ereignisse in Chemnitz, wo Nazis in den Tagen zuvor Straßenschlachten organisierten, hatten weder er noch Macron erwähnt. Mit keinem Wort.