In den Fünfzigerjahren schien der CSV-Staat noch in Ordnung: In den Gaststätten durfte geraucht werden, beim Bäcker wurde luxemburgisch geredet und die Großherzogin war allseits beliebt. Die Briefträger kamen vom Herrenberg und in den Schulen gab es Punkte und Zensuren, Religionsunterricht statt Sexualaufklärung. Im ganzen Land wohnten halb so viele Menschen wie heute und die Ausländer machten gerade zehn Prozent aus. Verkehrsstaus gab es nur, wenn die Kühe abends von der Weide kamen. In der Regierung stützte sich die CSV auf die Bauern und die LSAP auf die Arbeiter, als Gegenleistung versprachen sie ihnen Protektionismus und Kindergeld.
Das Wahlprogramm, das die Alternativ demokratische Partei vergangene Woche vorstellte, verspricht all dies und noch viel mehr, fast im Tonfall von Travail, famille, patrie. So als ob die ADR die authentischere, das heißt konservativere CSV sein wollte, die als einzige dem Ungeist des Wirtschaftswachstums, des Kosmopolitismus und der Sittenlosigkeit widerstanden hätte. Jenen konservativen Wählern, denen die CSV Claude Wiselers zu modern ist, verspricht die ADR die Rückkehr zur CSV von Pierre Dupong und Joseph Bech. Wie sie auch fast alle Reformen der vergangenen zehn Jahre wieder rückgängig machen will: die der Punktebewertung und der Zensuren in den Schulen (S. 19), der Chèques-service (S. 18), des Kindergelds (S. 38), der Pflegeversicherung (S. 39), der Mehrwertsteuer und des Rauchverbots in Gasthäusern (S. 45), der Trennung von Kirche und Staat (S. 55), der Abtreibung und der Scheidung (S. 57), der militärischen Briefträgerlaufbahn (S. 61), des Geheimdienstes (S. 62), des Bewertungssystems im öffentlichen Dienst (S. 63), des Congé culturel (S. 69)...
Dafür, dass früher alles besser gewesen sein soll, hat die ADR eine einfache, aber nur wenige Jahre nach der Krise von 2008 wieder modische Erklärung: das „maßlose“ Wirtschaftswachstum, das gleich 43 Mal im Wahlprogramm auftaucht. Es sei „die größte Frage, von der alle anderen politischen Entscheidungen abhängen“, warnt Parteipräsident Jean Schoos im Vorwort (S. 2). Mit der Wirtschaft wüchsen nämlich auch die Zahl der Ausländer, die Verkehrsstaus, die Warteschlangen in den Krankenhäusern und stiegen die Wohnungspreise. Bald stellten die Luxemburger nur noch ein Drittel oder ein Viertel der Bevölkerung und müssten sich im Alltag einer Fremdsprache bedienen (S. 3).
Um diese Ängste zu schüren, lässt die ADR den vor dem Referendum von 2015 auf Facebook gegen das Ausländerwahlrecht agitierenden Erdkundelehrer Fred Keup mit einigen sehr rechten Gleichgesinnten auf ihren Listen kandidieren und den Rentner Lucien Welter, der mit einer Petition das Luxemburgische zur ersten Amtssprache erheben wollte. Aber im Wahlprogramm der ADR soll „nicht eine Amtssprache dominieren“, also auch nicht das Luxemburgische (S. 14). Dafür soll nur eine Arbeitserlaubnis erhalten, wer luxemburgisch spricht oder lernt. Aus dem Kulturministerium soll ein Ministerium für Luxemburger Sprache, Integration und Kultur werden, und der Kulturhaushalt soll verdoppelt werden (S. 69). Die vornehmste Aufgabe dieses Heimatministeriums dürfte es sein, auf die Ortstafeln der Dörfer „die Luxemburger Ortsnamen als erste in Fettdruck“ über die französischen zu schreiben (S. 16).
Allerdings ist die ganze Wachstumspanik nicht frei von Widersprüchen, weil das Wahlprogramm der ADR bald von einer nationalkonservativen, bald einer wirtschaftsliberalen Feder geschrieben wurde. Die ADR sei sich zwar „bewusst, dass ein kleineres Wirtschaftswachstum mehr Solidarität verlange“ (S. 4), aber ihre Vorschläge zur Drosselung des Wirtschaftswachstums beschränken sich auf zwei: eine Senkung der Zahl der Wiederkäuer auf 25 000 bis zum Jahr 2050 (S. 35) und vor der Niederlassung jedes größeren Unternehmens eine Studie über dessen Vor- und Nachteile (S. 4). Gleichzeitig sollen bei allen Zuschüssen und Steuervorteilen „die Luxemburger Unternehmen, besonders die kleinen und mittelgroßen Firmen Vorrang“ erhalten (S. 45). Ansonsten macht die ADR jede Menge Vorschläge, durch die das Wirtschaftswachstum stiege: vom „Hochhalten der öffentlichen Investitionen“ (S. 4) über „konkrete und massive Maßnahmen“ zum Wohnungsbau (S. 5) bis zum „Taux d’affichage bei der Betriebsbesteuerung“, der „dem internationalen und besonders europäischen Umfeld Rechnung tragen muss, damit Luxemburg als Standfort wettbewerbsfähig bleibt“ (S. 66).
Ohne Angst vor Wirtschaftswachstum will die ADR den Finanzsektor international „konsequent verteidigen und nicht bei jedem ‚Leak‘ in die Knie gehen“ (S. 47). Sie hält auch am Tanktourismus fest und wehrt sich gegen das „Diesel-Bashing“ sowie dagegen, dass der Individualverkehr aus ideologischen Gründen madig gemacht wird (S. 10). Wie die LSAP will sie den kostenlosen öffentlichen Personentransport einführen. Sie kann sich noch immer nicht mit der Straßenbahn anfreunden und bleibt von der Notwendigkeit eines „City-Tunnel“ überzeugt (S. 8), einem Eisenbahntunnel unter der Hauptstadt.
Die ADR verspricht, im Dialog mit den Sozialpartnern den gesetzlichen Mindestlohn zu erhöhen und steuerlich zu begünstigen, damit „der neue Netto-Mindestlohn über der Armutsgrenze liegt“ (S. 41). Anders als die linken Parteien kündigt die ADR, die auch eine Mittelstandspartei ist, an: „Wir rücken nicht von der 40-Stundenwoche ab“ (S. 41). Denn eine Senkung der Wochenarbeitszeit führe bloß zu mehr Grenzpendlern, mehr Staus und höheren Wohnungspreisen. Entschädige das Arbeitsamt aufgrund einer europäischen Regelung künftig alle arbeitslosen Grenzpendler, schlägt die ADR nach dem Vorbild der Chèques-service und Studienbörsen einen neuen Trick vor, um die Grenzpendler zu betrügen: „die Leistungen der Adem zu senken“ und nur den einheimischen Arbeitslosen den Ausfall „über andere Hilfsmaßnahmen [...] integral zu kompensieren“ (S. 42). Die ADR ist gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen, weil es „zu einer allgemeinen Verarmung beitrüge“ (S. 43).
Weil die einst von der ADR als „Aktionskomitee 5/6-Pension für jeden“ verteidigte Rentenversicherung plötzlich ein „nicht nachhaltiges Schneeballsystem“ darstelle, will die ADR mit den Sozialpartnern eine paritätische Beitragserhöhung aushandeln und Rentenanpassungen „über dem Teil, der über dem doppelten Mindestlohn liegt, degressiv zurückführen“ (S. 44). Sie spricht sich für die Verallgemeinerung des Drittzahlers in der Krankenversicherung aus, wenn dadurch „den Ärzten keine zusätzlichen Kosten“ entstehen (S. 25). Hatte die ADR vehement die Steuerklasse 1a für Rentner, Verwitwete und Alleinerziehende abgelehnt, so will sie sie nun nicht mehr abschaffen, sondern bloß noch „anpassen“, damit die Ungerechtigkeiten abgeschafft würden (S. 65).
Wie die deutschen Wirtschaftsprofessoren, die die AfD gründeten, schwört die ADR auf die finanzpolitische Disziplinierung des einfachen Volks durch die Europäische Union und verspricht, dass sie „nur ausgeglichene Staatshaushalte aufstellt und keine neuen Schulden aufnimmt“ (S. 65). Der ordentliche Staatshaushalt soll sich „vorrangig auf die Bereiche Sicherheit, Schule und Gesundheit konzentrieren“ (S. 65). Soll das das Ende der aus dem ordentlichen Haushalt aufgebrachten Milliarden für die Renten, das Kindergeld, die Arbeitslosenunterstützung und den öffentlichen Dient sein? Selbstverständlich verspricht die ADR, bei gleichbleibenden oder niedrigeren Steuern zahlreiche Ausgaben zu erhöhen, so dass der Haushalt des Zentralstaats durch die Kürzung „unsinniger Ausgaben an das Ausland“ ins Lot gebracht werden soll (S. 65).
Die ADR will der CSV deren Lieblingsdomäne Familienpolitik abspenstig machen, verspricht „ein Family mainstreaming“ statt des verhassten Gender mainstreaming (S. 17), will das Kindergeld wieder staffeln und indexieren sowie aus den Chéques-service ein Elterngeld von mindestens 2 000 Euro machen, das auch Hausfrauen erhalten sollen, die ihre Kinder selbst hüten. Jean-Claude Junckers Mammerent soll es wieder ab 60 Jahren geben und Tagesstätten sollen nur konventioniert werden, wenn die Erzieherinnen luxemburgisch sprechen.
Um „bezahlbares Wohnen für jeden“ zu ermöglichen (S. 5), will die ADR die Wartelisten für Sozialwohnungen transparent machen und die Beihilfen erhöhen. Statt der Erbpacht, bei der das Nutzungsrecht auf ein Grundstück nach 99 Jahren verfällt, soll das Portage foncier erlauben, die Raten für das Grundstück erst abzuzahlen, wenn das Eigenheim bezahlt ist. Denn der ADR sind „die Eigentumsrechte“ (S. 5), der „Respekt des Privatbesitzes“ (S. 6) und das „Recht auf Privatbesitz“ (S. 7) heiliger als manches Andere.
Breiten Raum im ADR-Wahlprogramm nimmt die Bildungspolitik ein, wo die ADR „die Reformen für gescheitert“ erklärt (S. 19) und mit den üblichen reaktionären Klagen über die „Nivellierung nach unten“ (S. 19) ein Bildungsprivileg der luxemburgischen Mittelschichten zu verteidigen versucht, das auch gegen die kleinen Leute gerichtet ist, als deren Fürsprecher die ADR sich gerne ausgibt. Ausdrücklich lehnt die ADR eine Gesamtschule ab und bekennt sich, wie die religiösen Ultras im Ausland, zum „Prinzip des ‚Homeschooling‘, bei dem Eltern ihre Kinder zu Hause unterrichten dürfen“ (S. 20). Sie will wieder den Religionsunterricht in den Schulen einführen und Sexualkunde auf Biologie im Gymnasium beschränken, dafür aber „die Prostitution vollständig legalisieren“ (S. 56) und die Fristenlösung beim Abtreibungsverbot wieder abschaffen.
In einer als Bedrohung dargestellten Welt legt die ADR großes Gewicht auf die Sicherheit bis hin zur gesetzlichen Erlaubnis, „Pfefferspray bei sich zu tragen“ (S. 61). Die Einführung eines freiwilligen Reservistenheers für den Einsatz bei terroristischen Bedrohungen und die Einrichtung eines vollständig ausgebauten Militärlyzeums sollen studiert werden, auch eine Militärpolizei soll geschaffen und die „Militärkapelle progressiv weiter ausgebaut werden“ (S. 62).
Die ADR macht eine strenge Trennung zwischen Asylsuchenden, denen sie einen Schutzanspruch zugesteht, bis Friede in ihrem Heimatland eingekehrt ist und sie zurückkehren müssen, und „illegaler Immigration, zum Beispiel aus wirtschaftlichen Gründen“ (S. 29). Die Zollverwaltung müsse jederzeit einsatzbereit blieben, um bei Bedarf die Landesgrenzen zu sichern. Im Gegensatz zu rechten Bewegungen in den Nachbarländern bekennt sich die ADR aber zur europäischen Integration und zum Euro (S. 72).
Weil die ADR nicht dem parlamentarischen Ausschuss der Institutionen und Verfassungsrevision angehörte, hat sie als einzige Partei in der Kammer nicht am 6. Juni an der Abstimmung über den Entwurf zur Verfassungsrevision teilgenommen. In ihrem Wahlprogramm distanziert sie sich nun von einer Reihe Artikeln zu den Vorrechten der Monarchie, zum Recht auf Leben und zu den Familienrechten, spricht sich aber für ein Referendum über den Text aus.