Versuchte man die Regierungsbilanz von Pierre Gramegna (DP) in einem Wort zusammenzufassen, der als Handelskammerdirektor das Finanzministerium übernahm, weil man keinem gewählten DP-Mitglied zutraute, das strategische Ministerium zu leiten, passte möglicherweise „neutralisiert“. Dass er den Sozialstaat nicht demontieren konnte, wie sich seine ehemaligen Kollegen aus dem Ökosystem um die Handelskammer das wünschten, ist einerseits darauf zurückzuführen, dass er sich selbst ins Abseits stellte, und andererseits darauf, dass ihm politische und Sachzwänge die meisten Entscheidungen abnahmen.
Come stai? Auf Facebook gibt es ein Video, in dem sich Pierre Gramegna bemüht, sich als Sohn der Minette-Metropole auszugeben. Entsprechend läuft er zwar im Anzug, aber ohne Krawatte durch die Alzette-Straße. Das Video liefert ein gutes Psychogramm. Gramegna stellt fest, dass die Kinos nun in Belval und die familiengeführten Geschäfte internationalen Marken gewichen sind. Weiter geht seine Analyse der Folgen von Strukturwandel und Globalisierung nicht, bevor er gutheißt, dass es in der Alzette-Straße nun mehr Terrassen gibt. Mit Gabriella, die seit 20 Jahren Pizza zum Mitnehmen verkauft, demonstriert er sein Italienisch „Ciao Gabriella, come stai?“ und „Aaah – l’acqua!“, und er dehnt die Vokale noch, als er die Sprache wieder wechselt. Er bewundert, dass Gabriella, laut Kurzbiografie Immigrantin in zweiter Generation, Luxemburgisch spricht, erinnert sich an die eigene Schulzeit, als er für andere Kinder übersetzte, was der Lehrer sagte, schlägt aber keine Brücke auf die heutige sprachenbedingte Ungleichheit im Schulsystem. Dann glorifiziert er herablassend das einfache schaffende Volk in Person von Gabriella, die er duzt und die ihn siezt: „Ich bewundere Leute wie dich, die so viel arbeiten. Man hat dann aber ein Resultat.“ Die Szene ist mit Mandolinen-Klängen unterlegt, die Dolce Vita in Bella Italia vermitteln.
Bella Figura Es war vor fünf Jahren wohl eine der großen Überraschungen für Pierre Gramegna, dass man als Minister viel arbeiten muss, damit etwas passiert, ein Gesetzentwurf durch den legislativen Prozess und am Ende dieses Prozesses eine Veränderung zustande kommt. Auch andere Minister der Koalition mussten das feststellen, aber für den ehemaligen Handelskammerdirektor und Diplomaten war die Überraschung wohl besonders groß. In den vergangenen zehn Jahren war er auf Kosten der Unternehmen in der Geschäftsklasse um die Welt gejettet und hatte Business-Seminare rund um den Globus (und auch im Keller der Handelskammer) mit einer routinierten und charmanten Rede über die Dreifaltigkeit der Standortvorteile eröffnet – die wundersame Wirtschaftsentwicklung Luxemburgs, die Mehrsprachigkeit und die kurzen administrativen Wege –, bevor er das Wort an jemand anderes abgab. Das hinderte ihn nicht daran, abends in der Hotelbar oder bei einer Weinprobe, die sich gut mit dem offiziellen Programm kombinieren ließ, darüber zu diskutieren, was sich alles in Luxemburg verändern müsse, damit die Rahmenbedingungen wieder stimmten und Luxemburg wettbewerbsfähiger werde. Seine Vorstellungen waren wohl eher abstrakter Natur als konkreter. Im Ministerium angekommen, hatte er keine Ahnung, wie man es anstellen sollte. Auch seine Zeit als Beamter, als er als Diplomat auf bilateralen Botschaftsposten Empfänge besuchte oder gab und die Kunst des gepflegten Smalltalks perfektionierte, bereiteten ihn darauf nicht vor.
Drei Phasen des Pierre Gramegna Mit seinem Dolce-Vita-Feeling unterschied sich Pierre Gramegna deutlich von seinem Amtsvorgänger Luc Frieden (CSV), der mit protestantischem Arbeitseifer aufwartete, Verzicht und Enthaltsamkeit vorlebte und niemals Gefühle zeigte. Sein Savoir-vivre wollte sich Gramegna auch nicht als womöglich wichtigster Minister der Regierung nehmen lassen. Der Kabinettsitzung, in der die Mehrwertsteuererhöhung entschieden wurde, mit der die Regierung den Ausfall der Einnahmen aus dem elektronischen Handel kompensieren wollte, war Gramegna Land-Quellen zufolge per Telefon aus seiner Villa in der Toskana zugeschaltet. Seine bisherige Karriere hatte ihn außerdem nicht darauf vorbereitet, Rechenschaft für sein Verhalten ablegen zu müssen – bei der Handelskammer kennen nicht einmal die gewählten Mitglieder der Generalversammlung den Kontostand. Und auch nicht darauf, dass ihm Beamte, die einen Eid auf Verfassung und Großherzog geleistet hatten, ihm anders als seine früheren Angestellten widersprechen könnten. In dem ihm eigenen Management-Stil engagierte er den Arbeitgeber seiner Tochter, die Beratungsfirma McKinsey, ohne Ausschreibung, um den Haushalt der neuen Generation aufzustellen und Sparmaßnahmen vorzunehmen. Um seinen Patzer auszubügeln, wurde die McKinsey-Intervention nachträglich in einen Drei-Phasen-Plan eingebaut, laut dem sich der Preis dafür auf 384 000 Euro „HTVA“ belief, also nicht ganz so viel wie durch das Absägen der Autobahnbeleuchtung eingespart wurde.
Bei seinem Bemühen, die rechte Hand Luc Friedens, Sarah Khabirpour, loszuwerden, verursachte er Kollateralschäden. Andere Beamte verließen ihre Posten, darunter der ehemalige Sherpa von Eurogruppen-Vorstand Jean-Claude Juncker (CSV) und Schatzamtsdirektor Georges Heinrich, der in Brüssel als Schwergewicht galt, und der Direktor der Abteilung für Steuerfragen, Alphonse Berns. Dass es unter Pierre Gramegna besonders viele Personalwechsel gab und die Struktur des Finanzministeriums sich zersetzte, dass es Jahre dauerte, bis das Ministerium einigermaßen seine Flughöhe erreichte, ist zu gleichen Teilen darauf zurückzuführen, dass Gramegna seine wichtigsten Berater rausekelte, andere wichtige Abteilungs- und Verwaltungschefs in Rente gingen und dass Luc Frieden die budgetäre Enthaltsamkeit im eigenen Haus vorlebte, indem er nicht genug Personal einstellte.
Seinen eigenen Beitrag zum Personalchaos musste der neue Finanzminister teuer bezahlen. Kurzfristig, als er keinen ausreichend geistesgegenwärtigen Berater mehr zur Seite hatte, um hinter dem vom Journalistenkonsortium ICIJ zugeschickten Fragenkatalog die bereits Jahre zuvor gestohlenen PWC-Steuer-Rulings zu erkennen und einen Krisenplan für Regierung und Botschaften rund um den Globus rauszugeben. Langfristig, weil sich das neue Personal in den Brüsseler Korridoren nicht ganz so gut auskannte und sich in der Folge in manch wichtigem Dossier über den Tisch ziehen ließ. Doch Pierre Gramegna stellte ein. Für sein Ministerium rekrutierte er in dem durch Kik Schneider DP-nahen Personalreservoir der BGL (Bob Kieffer, Carlo Fassbinder) aber längst nicht nur. Vor allem, und dies könnte sein wichtigstes Erbe sein: Er ließ in der Folge von Luxleaks Steuerbeamte einstellen; viele, dringend notwendige Steuerbeamte, allein 120 im laufenden Haushaltsjahr bei der Steuerverwaltung und der Einregistrierungsbehörde.
Außer Kontrolle Die Veröffentlichung der Luxleaks-Akten war für Pierre Gramegna ein karrierebestimmender Moment und er scheiterte „en direct“ vor laufenden Kameras an der Herausforderung. Dass er die Situation nicht rechtzeitig erkannte, die Regierungskollegen nicht einweihte, keine Sprachregelung für die von Journalisten um den Globus angerufenen Botschaften herausgab, und dann im Presse-Briefing die Fassung verlor und ausflippte, definierte den Rest seiner Amtszeit auf mehr als eine Art. Erstens fiel es danach schwer, einen Eindruck von Kompetenz zu vermitteln, auch wenn Pierre Gramegna noch so oft wiederholte, „en Dossiersmann“ zu sein, ein Techniker. Zweitens weil er danach keinen Spielraum mehr in internationalen Verhandlungen um die Besteuerung von natürlichen und vor allem juristischen Personen, also multinationalen Konzernen, hatte. Der wirtschaftsliberale Unternehmenslobbyist musste sich gezwungenermaßen zum Musterschüler in Sachen Steuertransparenz wandeln, verhandelte als EU-Ratsvorsitzender der Finanzminister den Austausch von Steuer-Rulings, wurde early adopter neuer OECD-Regeln und war dennoch immer in der Defensive. Die Steuerskandale „Made in Luxembourg“ sollten Pierre Gramegna während seiner gesamten Amtszeit begleiten. Nach den Luxleaks kamen die Panama-Papiere, VW, Shakira, ...
Drittens erholte sich seine Beziehung zu Journalisten nie mehr von der Luxleaks-Erfahrung. Er mied sie, bestritt kaum Pressekonferenzen, erklärte seine Politik nicht, untersagte teils auch seinen Beamten formal den Kontakt zur Presse. Im Ergebnis nahm er sich damit selbst die Gelegenheit, positive Botschaften und Schlagzeilen zu generieren. Und so fiel er vor allem dann auf, wenn er etwas vergeigte. Wie bei der Schaffung seines irrwitzigen Staatsfonds, der mit so wenig Geld gespeist wird, dass er möglicherweise in gefühlten 500 Jahren eine Rendite zurück in den Haushalt speisen kann – wenn es Luxemburg dann noch gibt –, und den selbst seine Beamten nicht ernst genug nahmen, um ihn überhaupt beim Firmenregister anzumelden.
Angespannte Beziehungen Trotzdem gelang es Pierre Gramegna immer wieder zu überraschen. Zum Beispiel durch eine Fairness, die man ihm auf den ersten Blick vielleicht nicht zugetraut hätte. Er konnte nicht nur Journalisten und untergeordnete Mitarbeiter anbrüllen, sondern auch die Crème de la Crème der Luxemburger Finanz, wie sich 2016 beim Sommerempfang der ABBL herausstellen sollte. Dort gab er den versammelten Bankdirektoren so unmissverständlich zu verstehen, dass er sie für undankbares Gaunerpack hielt, dass ihnen die Canapés im Halse stecken blieben. Manch aufrechter Linker hätte ihm wohl gerne gratuliert, wäre es ihm tatsächlich um die Rolle der Bankenbranche in der Luxemburger Wirtschaft gegangen und nicht darum, dass sie seinen persönlichen Einsatz für ihre Interessen nicht ausreichend wertschätzten. Und obwohl er öffentlich, trotz aller Panama-Papier-Inkohärenzen, nie etwas auf den CSSF-Direktor Claude Marx kommen ließ, soll das südländische Temperament des Ministers auch schon ihm gegenüber durchgegangen sein.
Seine ehemaligen Kollegen von den Unternehmerverbänden hat Pierre Gramegna nicht nur deshalb enttäuscht. Zwar fühlte er sich in der Rolle des Handelsvertreters bei Promotionsmissionen äußerst wohl und konnte ein halbes Dutzend neuer chinesischer Banken in Luxemburg willkommen heißen. Aber er war entgegen aller Erwartungen weniger empfänglich für ihre Einflüsterungen als sein Amtsvorgänger Luc Frieden, der dazu extra das Hohe Komitee für den Finanzplatz gegründet hatte. Die fiktiven Zinsen konnte Gramegna nicht einführen, obwohl sie im Regierungsprogramm standen. Für den Finanzplatz eminent wichtige Richtlinien wurden mit Verspätung umgesetzt, obwohl Branchenvertreter immer wieder danach fragten. Und im Gegensatz zum offiziellen Gebet der Rue de la Congrégation, wo das Vaterunser vor geraumer Zeit mit „la directive, rien que la directive“ ersetzt wurde, hielt er sich nicht daran. Er forderte beispielsweise von den Bankiers höhere Einzahlungen in den Einlagensicherungsfonds als in der Richtlinie vorgesehen, und das haben sie ihm nicht verziehen. Eigene Initiativen, die über das hinausgingen, was ohnehin an Regulierung aus Brüssel herüberschwappte, gab es kaum.
Vom Paulus zum Saulus Als Finanzminister war es eigentlich Hauptaufgabe von Pierre Gramegna, das Hauptziel der Koalition durchzusetzen: Sparen, sparen und noch einmal sparen. Nicht umsonst hatte die DP vor den Wahlen dem Vizegeneralsekretär Claude Lamberty einen roten Riesenrucksack umgeschnallt, um ihn als Vertreter der Jugend symbolisch unter der Schuldenlast zusammenbrechen zu lassen. Nicht umsonst hatte sich die Regierungskoalition mit ihrer vollkommen arbiträren 30-Prozent Schuldenregel freiwillig ein noch engeres Korsett angezogen als von den Euro-Stabilitätskriterien verlangt. Deshalb stellte Gramegna mit dem Haushalt für 2015 den Zukunftspak vor, nach dem Haushalt nach provisorischen Zwölftel für 2014 das zweite Sparprogramm binnen weniger Monate. Mit 258 mehr oder weniger großen Eingriffen sollte eine halbe Milliarde Euro eingespart werden. Gramegna hatte vollmundig die durch McKinsey assistierte „Kopernikanische Wende“ bei der Haushaltsaufstellung angekündigt und Papier eingespart indem er die Haushaltsvorlage auf USB-Sticks speichern ließ, statt sie zu drucken. Doch nach ersten Bipartite-Runden, war sein Zukunftspaket schon nicht mehr ganz so groß, bevor es überhaupt in Kraft treten sollte. Und nach dem verlorenen Referendum über Ausländer-, Jugendwahlrecht und Begrenzung der Ministerämter, für das die Arbeitgeberverbände direkt oder indirekt über Thinktanks warben, weil sie hofften, über das Ausländerwahlrecht, die Macht der CGFP über jede Regierung einzuschränken, war das Sparpaket, das auch den Wünschen der Arbeitgeber entsprach, annuliert.
Danach erklärten ihm allen voran Etienne Schneider, der das Sparpaket sogar öffentlich, in einem Interview mit dem Luxemburger Wort, als Fehler bezeichnete, und Xavier Bettel, offensichtlich, dass er zwar von ihren Gnaden Finanzminister sei, sie allerdings hart daran gearbeitet hatten, den ehemaligen Staatsminister Jean-Claude Juncker abzusetzen und bei den Wahlen eine Mehrheit zu erkämpfen und dass es deshalb nun Schluss sei mit der unnötigen Sparerei, durch die besagte Mehrheit riskierte, bei den kommenden Wahlen flöten zu gehen.
Das schien Pierre Gramegna als liberalem Pragmatiker, um nicht zu sagen Opportunisten, einzuleuchten. Flugs wurde das Haushaltsziel von einem strukturellen Überschuss von 0,5 BIP-Prozentpunkten auf ein strukturelles Defizit von 0,5 BIP-Prozentpunkten gesenkt, um den budgetären Spielraum zu vergrößern, und es folgte 2016 eine Steuerreform, um Krisenbeiträge abzuschaffen, Haushalte zu entlasten und die Kaufkraft zu stärken. Zwar wurde dabei auch der Körperschaftssteuersatz für die Unternehmen gesenkt und allerlei andere Möglichkeiten eingeführt, den realen Steuersatz darüber hinaus zu senken. Doch die Soparfi-Mindeststeuer für die Finanzbeteiligungsgesellschaften wurde erhöht, und schließlich traute sich sogar Gramegnas Nachfolger bei der Handelskammer, der sonst wenig mutige Carlo Thelen, das Zukunftspaket des Finanzministers als „Zukunftspäckchen“ zu verhöhnen.
Pierre im Glück Um Gramegna und die DP insgesamt nicht vollkommen bloßzustellen, einigte man sich nach Schneiders Aussagen darauf zu sagen: „Die Staatsfinanzen sind gesund und das ist auf die von uns getroffenen Maßnahmen zurückzuführen.“ Das ist, gelinde gesagt, eine gewagte Behauptung. Denn das Budget der neuen Generation, die Überprüfung sämtlicher Ausgaben, von Staat, Verwaltungen und Gemeinden, trat nie ein. Die Wirkung des Zukunftspak wurde niemals Maßnahme für Maßnahme geprüft, und dass die Staatsfinanzen heute gesünder sind, ist Ansichtssache, beziehungsweise reines Glück. Denn dass die Ausfälle bei der Mehrwertsteuer aus dem elektronischen Handel kompensiert werden könnten, damit hatte niemand wirklich gerechnet. Wie sich die ganze neue Steuertransparenz auf die darauf sensiblen Firmen und damit auf die Steuereinnahmen auswirken würden, konnte niemand sagen, auch nicht ob die Soparfis, mittlerweile die wichtigsten Steuerzahler, die Mindeststeuererhöhung schlucken oder abwandern würden. Die europäische Konjunktur, und damit die Luxemburger, brummte so stark, dass nicht nur die Einnahmen aus Lohn- und Unternehmenssteuern schneller stiegen als erwartet, sondern das BIP-Wachstum in Luxemburg stark genug wuchs, um zu kaschieren, dass die Staatsschuld unter der 30-Prozent-Marke dennoch zugenommen hat. Zur Jahresmitte konnte Pierre Gramegna demnach rechtzeitig vor den Wahlen verkünden, dass die Einnahmen bisher die Ausgaben überstiegen hätten – was die Opposition darauf zurückführte, dass die Einnahmen bereits gebucht seien, die Ausgaben hingegen nicht. Im Ergebnis hat Pierre Gramegna im Finanzministerium auch keine größeren Katastrophen angestellt, als seine Amtsvorgänger von der CSV, darunter Luc Frieden, der wie Gramegna behauptete, ein Escher Jong zu sein, obwohl er ebensowenig minetter spricht.