„Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist und nicht bescheuert. [...] Es war nicht das erste Mal, deshalb wusste ich schon, wie das läuft und dass das in Schüben kommt. Für wer [sic!] sich das nicht vorstellen kann: wie Hunger oder Durst, oder wenn man ficken will. [...] Und da stehe ich jetzt im Garten, vier hohe Ziegelsteinmauern um mich rum. Eltern sind weg, Ärzte und Pfleger auch gerade weg, und vor mir ein riesiges Tor aus riesigem Eisen.“
Eine Geschichte vom Verlorensein erzählt Bilder deiner großen Liebe, dieses Romanfragment von Wolfgang Herrndorf, das nun von Milla Trausch für das Theater Traverse inszeniert wurde. Die 14-jährige Isa flüchtet aus der Psychiatrie und beginnt eine Reise quer durch Deutschland, aber auch zu sich selbst. An der Schwelle zum Erwachsenwerden wirkt das Mädchen verstört, einsam, verletzlich und dennoch frei.
„Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente aufbewahren. Niemals Germanisten ranlassen“, schrieb Wolfgang Herrndorf in sein Testament. Kurz vor seinem Tod – der Schriftsteller litt an einem Hirntumor und beging im August 2013 Selbstmord – änderte der Autor des Jugendromans Tschick seine Meinung. Er bat seine Freunde, das Romanfragment, an dem er bis zu seinem Tod arbeiten sollte, zu veröffentlichen. Es ist eine Fortsetzung von Tschick, aus der Perspektive des Mädchens auf der Müllheide. Dabei schrieb Herrndorf einst, „eine Fortsetzung (...) mach ich aber nicht“. Hat er doch und damit ein kompaktes und doch tiefgreifendes, vielschichtiges Testament hinterlassen, in dem Einsamkeit, Tod, das Gefühl, nicht dazu zu gehören, aber auch Hoffnung, die Einigkeit mit der Natur und der Wunsch nach Geborgenheit eine zentrale Rolle spielen.
Isas Wanderschaft bewegt – ob in Romanform oder als Theaterstück. Das junge Mädchen wirkt verloren und einsam, geht teils stoisch, teils naiv mit Schmerz und Einsamkeit um. Isa ist frech, stiehlt Kekse aus Supermärkten, stellt unpassende Fragen und ist doch so fragil. „So schön ist alles, wenn es schön ist, aber meistens nur in meinem Kopf“, sagt sie an einer Stelle. „Alles geht vorüber und schön ist das nicht“, heißt es an anderer. Äußerlich wirkt Isa taff, innerlich kämpft sie: Mit dem Erwachsenwerden. Mit dem Frau-sein, hat sie doch „auf einmal einen Körper“. Mit den verschwommenen Erinnerungen an ihren Vater. Mit dem Alleinsein. Mit der Angst, verrückt zu werden, dabei fragt man sich als Zuschauer: Ist das Verrücktwerden nicht einfach die Verzweiflung und Orientierungslosigkeit eines Kindes ohne Rückhalt und Zuflucht, konfrontiert mit der eigenen Pubertät?
Gleichzeitig verbirgt sich in Isas Reise noch eine andere, die des todkranken Schriftstellers, der sich auseinandersetzt mit Tod und Sterben, dem Sinn des Lebens, mit Glück und Hoffnung. Und für den Isa, wie es die Zeit sehr passend schreibt, ein erschriebener Schutzengel ist.
Besonders Betsy Dentzer spielt die Rolle der Isa so überzeugend, rotzfrech und doch fragil, dass man sich immerwährend fragt: „Was ist mit diesem Mädchen passiert?“ Ihre Reise wirkt wie ein düsteres Märchen, in dem die Protagonistin auf fast schon symbolische Charaktere trifft: Einen Binnenschiffer/Bankräuber, der sich vormacht, der Raub habe ihm mehr eingebracht als bloß Albträume. Ein taubstummes Kind, das doch irgendwie kommunizieren kann. Zwei Jugendliche – die Protagonisten aus Tschick – anhand derer Isas Sehnsucht nach Geborgenheit spürbar wird. Oder noch einen Schriftsteller, der nach dem Verlust seiner Tochter in einer albtraumartigen Vergangenheit verharrt.
Die Bildsprache ist teils beklemmend und makaber. Das wird durch die Inszenierung zeitweise zu sehr unterstrichen. Projektionen von teils kaputten (eher an den Horrofilm Chucky erinnernden) Puppen untermalen zum Beispiel die Szene, in der Isa sich im Kinderzimmer der toten Tochter wiederfindet. Später werden die Puppen auf der Bühne verteilt. Auch das taubstumme Kind wird durch eine kaputte Schaufensterpuppe dargestellt. Dazu beklemmende Musik ... dieses „zu viel“ lässt die sehr bezeichnende, metaphorische Sprache Herrndorfs nicht zur Geltung kommen, sondern überblendet sie.
An anderen Stellen funktioniert die Inszenierung gut. Die Schauspieler arbeiten mit Projektionen und gestalten das Bühnenbild aktiv mit, indem sie Wälder und Dörfer in Miniatur nachstellen. Diese werden auf eine runde Fläche – die auch den Mond darstellen könnte, an dem sich Isa immerfort orientiert – projiziert werden. Die Technik ist originell, minimalistisch, die Bilder verdeutlichen Isas innige Einigkeit mit der Natur, den Sternen und dem Himmel. Aber auch ihre Rastlosigkeit.
Und doch hat die gesamte Inszenierung zwei Seiten: Der Zuschauer ist fasziniert und gefesselt, von der Originalität, dem Zusammenspiel zwischen Sound und Spiel – besonders hervorzuheben, die Performance von Schlagzeuger Luc Hemmer –, dem Erzählrhythmus, der gelungenen Doppelbelbesetzung der Hauptfigur. Doch obwohl nur drei Leute auf der Bühne stehen, ist alles zeitweise zu viel, zu makaber, zu schnell, zu betont und vielleicht auch zu gewollt. Der Text, der eigentlich für sich spricht und keiner zu großen dramaturgischen Verdeutlichung bedarf, kann nicht atmen. Der Zuschauer ist reizüberflutet und das Wesentliche – Isas Einsamkeit, Zerbrechlichkeit und innere Zerrüttung – geht verloren.
„Isas Gedankengänge haben für uns sogar das Potenzial, die Zuschauer dazu anzuhalten, über sich selbst und über die Welt, in der sie leben, nachzudenken“, steht im Programmheft. Das haben sie, doch phasenweise hat der Zuschauer gar keine Zeit, vielleicht auch keinen Atem, sich diese Gedanken zu machen. In diesem Sinne ist es wichtig, dass das Stück – das sich vor allem an Schulklassen richtet – (didaktisch) aufgearbeitet wird. All dies verhindert jedoch nicht, dass der Theatergruppe Traverse ein bemerkenswertes, wenn auch etwas zu bemühtes Stück gelungen ist, das durchaus zu empfehlen ist. Nicht nur für junge Erwachsene.