„Da geht’s zum Bus“, sagt Romain W. und zeigt hügelabwärts. Wortkarg stapft er los. Das liegt nicht nur daran, dass es sechs Uhr in der Frühe ist und er gerade erst aufgestanden. Sondern auch daran, dass er die beiden Menschen, die ihn heute durch seinen Tag begleiten, nicht kennt. „Bei Fremden ist er gehemmt, da spricht er nicht so gerne“, wird seine Mutter später am Küchentisch erklären. Ihr Sohn wurde mit dem Down-Syndrom geboren.
Nach fünf Minuten Fußmarsch ist die Haltestelle erreicht, 20 Minuten zu früh, aber das kümmert Romain nicht. Er vertreibt sich die Zeit damit, Autos zu schauen. Einen Kopfhörer hat der erklärte Abba-Fan nicht dabei. Nur ein Telefon für Notfälle. Eingemummelt in Mütze und Handschuhe steht er in seiner schwarz-roten Regenjacke und dicken Stiefeln, im Licht der Straßenlaterne und wartet geduldig. In der rechten Hand den schwarzen Turnbeutel mit den Sportsachen, wenn es nach getaner Arbeit nach Redingen zum Freizeitturnen geht. Auf dem Rücken den Rucksack mit der Hautcreme, die er sich später auf die Hände schmieren wird. Wie viele Menschen mit Down-Syndrom kämpft Romain mit trockener Haut, die sich öfters schuppt, juckt und dann aufplatzt. Der genetische Defekt, bei der das gesamte 21. Gen oder Teile davon dreimal (daher der Name Trisomie 21) vorhanden sind, bedeutet für die Betroffenen, dass sie Meilensteine der Entwicklung mit Monaten Verspätung durchlaufen. Oft besteht eine auffällige Muskelschwäche, Herzfehler sind häufig, der Mund steht offen.
„Ich war im ersten Moment völlig schockiert“, gibt Alexandra W. offen zu. „Man weiß gar nicht, was auf einen zukommt.“ Niemand ist darauf vorbereitet, wie radikal sich das eigene Leben durch ein behindertes Kind verändert. Wie sich Aufmerksamkeit, Einsatz und Energien komplett verschieben. Eine Sozialarbeiterin versuchte, den Eltern Mut zuzusprechen: „Nur die Éducation différenciée ist für ihn der richtige Weg.“ Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass das Paar diesen „Rat“ bekommt. „Als er den Kopf bewegte, waren wir sehr erleichtert“, erinnert sich Vater Jos. „Da war ein Wille“, beschreibt Alexandra W. den Hoffnungsschimmer. Mit dem pädagogisch-therapeutischen Service pédagogique du jeune enfant et de sa famille entwickeln sie einen Plan, um ihren Kleinen nach Kräften zu fördern.
Auch die Sprache entwickelt sich bei Babys mit Trisomie 21 deutlich langsamer, manche sprechen auch als Erwachsene keine ganzen Sätze. Romain spricht sehr wohl, auch wenn er mit einer Orthophonistin weiterhin an der richtigen Aussprache feilt und es oft eher Wörter sind, die er aneinanderreiht. Sie reichen aus, um mitzuteilen, was er möchte, was er fühlt, um Kontakte zu knüpfen. Gerade ist er etwas aufgeregt, er will wegen der Besucher nicht zu spät zur Arbeit kommen.
„Ich mag meine Arbeit“, betont Romain, den Blick aus dicken Brillengläsern auf die Straße gerichtet. „Der Bus“, ruft er aus. Grellgelb leuchtet die Anzeige: Mersch. Jeden Morgen fährt er mit dem öffentlichen Transport. Außer wenn er krank ist wie neulich, als er mit einer Mandelentzündung zwei Wochen im Bett lag. Das gefiel ihm gar nicht. Romain mag nicht nur Routine, er braucht sie. Was anderen wie ein Korsett erscheinen mag, ist für ihn der sichere Rahmen, um sein Leben so autonom wie möglich zu leben. So wie der allmorgendliche Bus, der jetzt, pünktlich!, wie Romain zufrieden feststellt, vor dem Altersheim hält.
Über einen Trampelpfad geht’s zum Eingang, durch das noch nicht hell beleuchtete Foyer zum Fahrstuhl und dann in den Keller, wo zwei Frauen mit frisch gewaschenen Nachthemden behangene Kleiderständer zum Lastenaufzug schieben. „Vestiaire“ liest Romain von einem Schild an der Wand ab und verschwindet hinter einer grauen Stahltür, um zehn Minuten später in weißer Hose, Schürze, Kochmütze und mit weißen Schuhen bekleidet durch die Hintertür in den ersten Stock in die grell beleuchtete Gemeinschaftsküche zu treten. Da zischt es und brodelt aus kindshohen Töpfen. Es riecht nach Fleisch.
Romain ist Küchenhilfe. Er schält eimerweise Gemüse und Obst und hilft beim Abwasch. Das macht er genau und gewissenhaft. „Und wie!“, sagt Koch Jeannot und lacht. Gutmütig. 16 Mitarbeiter sind in der Großküche beschäftigt, die 160 Menschen täglich mit Essen versorgt. Eine Schicht umfasst zwischen fünf und sieben Personen. Der Arbeitstag ist streng durchgeplant. Das stört Romain nicht, im Gegenteil. Jeden Morgen überprüft er die Temperaturanzeige der begehbaren Kühlschränke. Bis zur Mittagspause wird er Rotkohl häckseln, Lauch schneiden. Unterbrochen wird die Routine nur durch eine Lieferung für den Fahrdienst Essen auf Rädern, die Romain in den Keller fährt und der freundlichen Fahrerin übergibt. 27 graue Essenbehälter zählt sie. „Perfekt“, ruft sie, aber da ist er schon wieder im Aufzug verschwunden.
Von riskanten Aufgaben, wie mit heißem Fett hantieren oder mit Riesenmessern Rindfleisch schneiden, lässt er die Finger. Seine Motorik sei nicht fein genug, sagt Koch Jeannot, er brauche auch etwas mehr Zeit. Das ist keine Kritik, sondern ein Fakt, auf den sich das Team längst eingestellt hat. Jeder hat einen Zuständigkeitsbereich. Romain ist der Meister der Möhren. Das Schälen macht er so routiniert, dass er allen fehlt, wenn er ausfällt.
Der Job im Merscher Altersheim ist nicht Romains erster. Einen Arbeitsversuch in einem Restaurant-Projekt eines Sozialvereins brach er ab, weil sein Chef ihn und andere bei jeder Gelegenheit ausschimpfte. Zudem galt als Eignungstest, die Schuhe selbst schnüren zu können, was Romain schwerfällt. Seine Mutter verschickte für ihn neue Bewerbungen. „Die Franziskaner-Schwestern luden ihm zum Vorstellungsgespräch ein.“ Romain hat ein Statut als Travailleur handicapé; er wird nach dem regulären Tarif für Hilfskräfte bezahlt, der Staat bezuschusst seinen Arbeitsplatz. Als „sehr gut“ beschreibt Romain die Stimmung in der Küche. Als er anfing, kaufte ihm die Leitung kurzerhand Schuhe mit Klettverschlüssen. Inklusion kann so einfach sein.
Nach der Arbeit geht Romain regelmäßig zur Krankengymnastik und zur Orthophonistin. Besser gesagt, der staatlich bezuschusste Transportservice Adapto, den ihm seine Mutter bestellt, fährt ihn. Ohne die rund 600 Bus-Shuttles, die jeden Tag in Luxemburg Menschen mit Behinderungen zum Doktor und zu anderen Terminen fahren, wären viele in ihrer Mobilität und Autonomie erheblich eingeschränkt. Wegen explodierender Kosten fordert das Ombudskomitee für Kinderrechte strengere medizinische Kriterien. Es ist drei Uhr nachmittags, Schichtende. Vor dem Altersheim wartet ein unbekannter Fahrer. Er ist die Tour noch nicht gefahren, aber Romain zeigt ihm freundlich den Weg. Vor allem auf das gemeinschaftliche Turnen nach dem Sprechtraining freut er sich.
Dass er so eigenständig ist, hat er neben seiner eigenen Beharrlichkeit dem Dauereinsatz seiner Eltern zu verdanken. „Manchmal war es extrem hart“, erzählt Alexandra W. und für einen Moment wirkt sie sehr müde. Die frühere Bankangestellte hatte ursprünglich vorgehabt, nach der Geburt rasch in den Beruf zurückzukehren. „Als Romain da war, war klar, dass daraus nichts wird.“ Ihr Kind brauchte Betreuung rund um die Uhr: Mit 18 Monaten konnte sich Romain am Wohnzimmertisch hochziehen, aber wegen seiner schwachen Muskeln fiel er von einem Moment zum anderen hin. Die Verletzungsgefahr war groß.
Die Lehrerin in der Spillschoul war neu und unerfahren, nahm Romain aber mit offenen Armen auf. Drei Jahre später weigerte sich eine Grundschullehrerin, ihn in ihrer Klasse zu empfangen. Doch seine Eltern bestanden darauf, dass Romain die Regelschule besucht, und schließlich klappte es. Der Junge brauchte aber weiterhin regelmäßig Krankengymnastik; sie erfolgte außerhalb der Schule. Ähnlich war es mit dem Sprechtraining: Es ist dem Einsatz betroffener Eltern zu verdanken, dass diese Kosten seit 2008 von der Krankenkasse übernommen werden. Eltern von Kindern mit besonderen Bedürfnissen, die ihren Sohn, ihre Tochter nicht in der Sonderschule unterbringen wollen, beschreiben einen nervenaufreibenden Kampf: Obwohl die öffentliche Schule gesetzlich dazu verpflichtet ist, kommt die Inklusion nur mit Trippelschritten voran. „Die Éducation différenciée kam für uns nicht in Frage. Kinder lernen dort oft nicht einmal lesen und schreiben“, sagt Alexandra W.
Sie ist Vorstandsmitglied von Zesummen fir Inklusioun, einem Verein, der sich seit vielen Jahren für die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am öffentlichen Leben einsetzt. Romain ist auch Mitglied. Dort fand sie die nötige Unterstützung und das Verständnis. Sie war nicht allein. „Mich hat der Kampf für meinen Sohn stärker gemacht, aber auch aggressiver“, sagt Alexandra W. Ihr Mann Jos sieht ihr Engagement mit gemischten Gefühlen: „Du kannst oft bis spät in die Nacht nicht schlafen, so sehr beschäftigt dich das.“
Als Romain klein war, war von der UN-Behindertenrechtskonvention und der Selbstbestimmung Behinderter in Luxemburg noch keine Rede. Ob eine Schule ein behindertes Kind unterrichtete, hing vom guten Willen des Lehrpersonals und des Inspektorats ab: „Wir hatten Glück.“ In der Primärschule machte Romain die Aufgaben mit, die er konnte. Damit er in seinem Rhythmus lernen konnte, ließen seine Eltern ihn Klassen wiederholen – oft mussten sie Überzeugungsarbeit leisten, Druck machen. Im Jahr 2001 empfahl die Commission médico-psycho-pédagogique nationale dann, dass Romain auf die Sonderschule sollte. Ein Rückschlag. Der Vater, vom Expertenurteil verunsichert, war geneigt, der Empfehlung zuzustimmen, die Mutter strikt dagegen.
Sie ließ nicht locker. Weil damals nicht sicher war, ob Romain auch im Lyzeum eine Assistenz von den Behörden bewilligt bekäme, lehnten mehrere Schulen ihre Anfrage ab. Das Modulaire in Diekirch nahm ihn schließlich auf. Sein Lieblingsfach damals? Romain denkt nach: „Deutsch, Französisch war zu schwer“, sagt er dann. Die Mehrsprachigkeit ist für viele Kinder eine Hürde. Ein behinderter Junge aus der Nachbarschaft hätte fast keinen Abschluss bekommen, weil sein Beruf nur auf Französisch unterrichtet wurde. Die Ackerbauschule bot ihm dann Kurse auf Deutsch an. Heute führt er den Betrieb seines Vaters. Es sind Barrieren wie diese, die Eltern von behinderten Kindern so frustrieren und Behinderte in ihrer Lebensplanung ausbremsen. „Das System ist viel zu unflexibel“, klagt Vater Jos. Zum Glück hat Romain die Schule lange hinter sich. Seit acht Jahren arbeitet er im Altersheim. Gefragt, wofür er sein selbst verdientes Geld ausgibt, fallen Romain sein geliebtes Trampolin ein und Familienurlaub in Dänemark.
Seine Eltern, vor allem seine Mutter, sind trotz der beachtlichen Entwicklung ihres Sohnes nicht sorgenfrei: Was wird mit Romain, wenn sie einmal nicht mehr sind? Die durchschnittliche Lebenserwartung für Menschen mit Trisomie 21 liegt dank medizinischer Fortschritte heute bei etwa 60 Jahren. Alexandra W. hat sich einige Behindertenheime angeschaut. Sie plädiert für einen ambulanten Dienst, der zunächst zur Gewöhnung stundenweise die Pflege daheim übernähme. „Romain hängt sehr an seiner Mutter“, sagt Jos W. „Wenn er eines Tages nicht mehr hier wäre, würde er uns sehr fehlen.“
Romain ist an der letzten Station für heute angekommen, beim Verein Op der Schock, der Freizeitaktivitäten für Menschen mit Behinderungen organisiert. Er habe eine Freundin, sagt er und zeigt auf eine junge Frau, die verlegen kichert. Sie ist in derselben Sportgruppe wie er, lebt aber in einem Heim. „Zu viele Leute, zu langweilig. Ich will bei meinen Eltern wohnen“, betont Romain, gefragt, ob er sich vorstellen könne, eines Tages mit seiner Freundin oder Freunden zusammenzuziehen. Er hat seine Jeans gegen eine Turnhose getauscht, die Titelmusik von Captain Bender erklingt in der Halle. Bei dem Spiel, das die beiden Erzieherinnen für die acht Teilnehmer ausgesucht haben, geht es darum, wer als letzter in einem Hula-Hopp-Reifen zum Stehen kommt. Der Sieger heute Abend heißt: Romain W. Er reißt die Arme hoch, lacht auf und strahlt.