Die Stimmung ist gut am Donnerstag in der Maison du savoir in Esch-Belval. Rund 300 Studenten des Bachelor professionnel en sciences sociales et éducatives (BSSE) und Pädagogen haben sich im Untergeschoss eingefunden, um den Auftaktvortrag zum Praxis- und Kontakttag ihres Studiengangs zu hören. Einige tummeln sich zwei Stockwerke höher und inspizieren, etwas müde noch, die Stände von Trägern und Berufsorganisationen aus dem sozialen Sektor, die aufgebaut werden. Nein, Sorgen über ihre Berufsaussichten mache sie sich nicht, sagt eine Studentin aus dem dritten Semester und schüttelt den Kopf. Sie blättert in Broschüren der Entente des foyers de jour (EFJ), der Vereinigung der Kindertagesstätten. Wenn sie das Studium abgeschlossen hat, will sie „etwas mit Kindern machen“, sagt die 20-Jährige erklärend.
Sollte sie bis zum Abschluss kommen, dürfte das kein Problem sein. 2011 stellte eine Analyse des Institut universitaire international Luxembourg (IUIL) über die Beschäftigungsfähigkeit von BSSE-Diplomierten fest: Absolventen des zweisprachigen Bachelor fanden meist sehr schnell eine gut bezahlte Anstellung. Nicht wenige hatten schon bald nach dem Studium eine Leitungsfunktion inne. In den Stellenanzeigen der Tageszeitungen nehmen Angebote im Sozialwesen jede Woche viele Seiten ein. Die meisten Anzeigen stammen von Trägern, die für ihre Einrichtungen Erzieher und/oder Leitungen suchen. „Der soziale Sektor ist einer der Jobmotoren hierzulande, das ist schon seit einigen Jahren so“, bestätigt Yves Oestreicher von der Entente des foyers de jour (EFJ). Geschätzte 20 000 bis 25 000 Erwerbstätige arbeiten hierzulande im Sozial- und Gesundheitssektor.
Am Jobzuwachs dürfte sich so schnell nichts ändern. Die Nachfrage nach Kinderbetreuungsplätzen ist zehn Jahre nach Einführung der Dienstleistungsschecks ungebrochen, dementsprechend wächst die Nachfrage nach qualifiziertem Betreuungspersonal. Zudem hat die DP-LSAP-Grüne-Regierung zahlreiche Gesetzesinitiativen angestoßen, die die Nachfrage nach sozialarbeiterischem Fachpersonal weiter anheizen dürften. Im Juli verabschiedete das Parlament das Gesetz für mehr Qualität in der Kinderbetreuung. Es bringt nicht nur einen höheren Personalschlüssel für die Kleinkindbetreuung sowie die Pflicht für Erzieher, sich regelmäßig weiterzubilden. Künftig müssen alle Einrichtungen, konventionierte und private, die über die Chèques-service finanziert werden, ein pädagogisches Konzept vorweisen, jährlich Bericht über ihre Qualität erstatten.
Das geht nur, wenn gut ausgebildetes Personal da ist. Ab Oktober 2017 soll darüber hinaus die kostenlose sprachliche Frühförderung für in Luxemburg aufwachsende Kinder zwischen null und drei Jahren starten. Wie die Sprachförderung konkret aussehen wird, ob Kindertagesstätten dann verstärkt auf französische und luxemburgische Muttersprachler zurückgreifen, ist noch unklar. „Wir warten auf Präzisionen aus dem Erziehungsministerium“, sagt Gérard Albers, Direktor des Trägers Arcus. Klar ist: Die Anforderungen an das Kindergartenpersonal steigen. Längst geht es nicht mehr nur darum, die Kinder gut zu versorgen und mit dem Malen von Bildern und dem Türmen von Bauklötzen zu beschäftigen, Erzieher müssen pädagogisch wertvolle Anregungen geben und künftig spielerisch Grundkenntnisse in einer Fremdsprache vermitteln.
Der Reformreigen im Sozialbereich ist damit aber nicht zu Ende. Der nimmermüde Erziehungsminister Claude Meisch will auch die Éducation différenciée umbauen. Drei Institute, für Kinder mit Lernschwierigkeiten, mit Verhaltensproblemen und mit Hochbegabung, sollen entstehen. 150 spezialisierte Lehrkräfte sollen sich um Schüler mit besonderen Bedürfnissen kümmern, ein Teil könnte wahrscheinlich aus der Édiff in die Regelschulen und an die Institute wechseln; das konkrete Anforderungsprofil an die Speziallehrkräfte, von denen nicht wenige ausgebildete Erzieher sein dürften, steht noch nicht. Im Strafvollzug will der grüne Justizminister Félix Braz die Resozialisierung von Straftätern spürbar verbessern. Sollte Braz’ Reform im Parlament verabschiedet werden, wird sie nicht ohne mehr Bewährungshelfer, Sozialassistenten, Pädagogen, Psychologen, Heilerziehungspfleger, Berufsschullehrer und andere mehr umzusetzen sein.
Insofern dürften BSSE-Absolventen sich in der Tat keine Sorgen machen, die Zukunft des Sozialsektors ist gesichert. Die Frage lautet eher: Gibt es genügend qualifiziertes Fachpersonal, um den steigenden Bedarf zu decken und die ständig wachsenden Anforderungen an die sozialen Dienste gerecht zu werden? Die Regierung hat viele Initiativen auf die Schiene gesetzt, aber ein Plan, wie diese umgesetzt werden sollen, ist nicht in Sicht. Zehn Jahre nach dem Boom in der Kinderbetreuung gibt es keine Arbeitsmarktanalyse, die speziell die rasanten Entwicklungen in den Sozialberufen unter die Lupe nimmt. Für die Gesundheitsberufe hat das IUIL eine solche Analyse erstellt, bei den sozialen Berufen stammt die letzte veröffentlichte Auswertung aus dem Jahr 2001.
Das Familienministerium, zuständig für Integration und für Inklusion, verfügt ebenfalls über keine Studie, die detailliert aufschlüsselt, welche Ressourcen konkret nötig wären, um etwa den staatlichen Inklusionsauftrag einzulösen oder die Integration von Familien mit Migrationshintergrund und Flüchtlingen voranzubringen. Künftig dürften neben Sprachspielen, frühkindlicher Bildung, Inklusion, Arbeit mit den Eltern auch interkulturelle Kommunikation zum Alltag in den Kindertagesstätten gehören. Auch im Erziehungsministerium scheint man sich bisher wenig Gedanken darüber gemacht zu haben, wie sich die vielen Gesetzesinitiativen auf die Situation der sozialen Dienste, auf Berufsbilder und -anforderungen auswirken werden. Das überlässt man den Trägern, von denen sich aber zumindest die konventionierten eher als Dienstleister des Staats und der Gemeinden verstehen und den Ball in die öffentliche Hand zurückspielen. Dabei wurde die Zusammenlegung des Erziehungs-, Bildungs- und Hochschulressorts zu einem Superministerium unter Führung von Claude Meisch (DP) unter anderem damit begründet, Initiativen in diesem Bereich mit gebündelten Kompetenzen und Zuständigkeiten besser planen zu können.
Nur ist von den Synergien wenig zu sehen. Jahrelang hieß es, zu viele Schüler würden sich für die Erzieher-ausbildung einschreiben. Deshalb führte Meisch vor zwei Jahren einen Numerus clausus für das Erzieherdiplom ein, der die Zahl der Studenten auf der überlasteten Erzieherschule in Mersch (LTPES) auf 250 beschränkt. Ein Jahr später führte derselbe Minister ein berufsbegleitendes dreijähriges Ausbildungsprogramm für Erzieher an der École de la deuxième chance vor. Aussage jetzt: Der Bedarf an Erziehern sei groß und werde in Zukunft wachsen. Mit der Formation d’éducateur en alternance sollen im Erziehungsbereich Tätige, die keinen entsprechenden Abschluss haben, diesen nachholen können. Im Mai dieses Jahr hießen die Minister zudem ein großherzogliches Reglement gut, dass die Abschlussklasse in der 14e auf die 13e vorverlegt. Das Interesse an der Erzieherausbildung ist indes ungebrochen.
Der Bachelor in den Sozial- und Erziehungswissenschaften an der Universität Luxemburg ist ebenfalls sehr gefragt. Jedes Jahr schreiben sich etwa 250 Bewerberinnen und Bewerber ein, das Studium beginnen etwa 60 Studenten. „Unter den Bewerbungen stammen etwa 50 bis 60 vom LTPS. Wir prüfen sehr genau, ob sie die Zugangsbedingungen erfüllen“, sagt Petra Böwen, Hauptdozentin des BSSE und Leiterin des Praxisbüros, das sich als Informationsdienst und als Schnittstelle zwischen Uni und Akteuren aus der Praxis versteht.
Die 30 bis 40 Absolventen, die jedes Jahr die Uni mit einem BSSE-Diplom verlassen, reichen aber nicht, um die Nachfrage nach Fachkräften zu decken. Vor allem im Kinderbetreuungsbereich ist der Fachkräftemangel inzwischen so groß, dass Träger, wie Elisabeth, Arcus oder Rotes Kreuz, ihre eigenen Weiterbildungsprogramme aufgelegt haben. Erzieher werden eingestellt, mit der Einladung, sich on the job fortzubilden, um später Aufgaben mit mehr Verantwortung übernehmen zu können. Ein guter Ansatz, der aber an Grenzen stößt. „Wir müssen aufpassen, dass wir die Mitarbeiter nicht überfordern“, warnt Gérard Albers von Arcus. „Manchmal stellen wir fest, dass jemand der Aufgabe noch nicht gewachsen ist.“ Erfahrenes, qualifiziertes Personal sei nicht nur für die Leitung von Kindergärten nötig, sondern auch für Teamleitungen, Konzeptentwicklung und für die Erwachsenenbildung. Um angehende Sozialpädagogen besser auf die steigenden Anforderungen vorzubereiten, hat die Uni im BSSE ein Modul eingeführt, das betriebswirtschaftliche Grundkenntnisse vermitteln soll. Aber reicht das aus, um ein Team anzuleiten, um pädagogische Konzepte und künftig einen Aktionsplan zur mehrsprachigen Sprachförderung zu schreiben? BSSE-Absolventen sind nach drei Jahren Studium Allrounder, die in der Jugendarbeit, in der Behindertenhilfe, im Kindergarten, in der Suchthilfe, in der Straßen-Sozialarbeit, in Gefängnissen und heilpädagogischen Einrichtungen eingesetzt werden.
Die Spezialisierung schreitet auch in der sozialen Arbeit voran. Deutsche, schweizerische und englische Unis bieten deshalb Bachelor- und Masterstudiengänge an im Bereich der Frühen Kindheit, der Förder- und Freizeitpädagogik und vieles mehr. Der BSSE-Studiengang von uni.lu findet im Ausland Anerkennung, Studenten absolvieren ein Auslandsjahr, das Praxisbüro ist um eine enge Verzahnung von Theorie und Praxis bemüht: Doch mit 20 oder 25 Jahren ein Team oder gar einen Betrieb von fünf bis 50 Mitarbeitern (die Größe der Einrichtungen variert stark) zu leiten, ohne zuvor Erfahrung im Beruf gesammelt zu haben, dürfte für viele eine Herausforderung, wenn nicht Überforderung sein. Wozu Überforderung führen kann, zeigen Gerichtsprozesse wie jener in der Stadt Luxemburg, bei dem sich Erzieher verantworten müssen, die Kinder zur „Beruhigung“ und Kontrolle an Stühle festgeklebt hatten.
Die Uni hat den Bedarf in dem Sinne erkannt, dass sie den Bachelor auch berufsbegleitend plant. So können Erzieher, die eine Berufsschulausbildung besucht haben, nach der Arbeit ihre sozialarbeiterischen Kenntnisse an der Uni vertiefen. Wer will, kann im Anschluss einen dreijährigen akademischen Master im selben Fach belegen, oder einen dreijährigen berufsbezogenen Master-Studiengang in Managing und Coaching im Sozial- und Bildungswesen. In dem dreijährigen Studiengang lernen die Studenten das nötige Wissen für Führungsaufgaben (Kommunikationstraining, Organisationsentwicklung, systemisches Denken); parallel vertiefen sie Kenntnisse über die Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft und Praxis. Das Studium thematisiert auch Probleme, wie Machtmissbrauch in Institutionen.
Und doch fehlt, wie die CSV bei der Abstimmung zur Einführung der Erzieherausbildung auf dem zweiten Bildungsweg damals zu Recht monierte, ein Gesamtkonzept für soziale Berufe, von der Aide socio-familiale, deren Diplom vom Familienministerium überreicht wird, zur Assistante sociale, die zu den Gesundheitsberufen zählt, über den Éducateur diplomé und die Éducatrice graduée, die in die Kompetenz des Erziehungsministeriums fallen, und dem erziehungswissenschaftlichen Bachelor und den Master-Studiengängen. Die Einsatzbereiche sind vielfältig und nicht immer trennscharf abgesteckt: Die eine Maison relais wird von einem Éducateur gradué geführt, eine andere von einer Sozialpädagogin mit Bachelor oder Master, ein Jugend-Sozialarbeiterin kommt mit Erzieherdiplom aus, während ein anderer Assistant social gelernt hat.
Um die diversen Bildungsangebote und Diplome zu strukturieren, fordert die Association nationale des communautés éducatives et sociales (Ances), eine Berufsvereinigung von Sozialarbeitern und Pädagogen, einen nationalen Referenzrahmen für Sozialberufe. Eigentlich sieht das DP-LSAP-Grüne-Regierungsprogramm eine solche „clarification des profils des professions socio-éducatives“ vor. Bisher wurde in die Richtung aber nichts Konkretes unternommen. „Es fehlt der Lead, eine Stelle, die sich darum kümmert“, bedauert Gérard Albers von Arcus. Die Ances schlägt eine Koordinierungsplattform für Bildungsfragen vor, die den Referenzrahmen ausarbeiten würde. Bisher reden nur die Berufskammern, Gewerkschaften und der Staatsrat verbindlich mit bei der Schaffung neuer Ausbildungsgänge, nicht aber die direkt betroffenen Akteure. Das führt zur absurden Situation, dass Träger manche Aus- und Weiterbildungen erst entdecken, wenn die ersten Kurse bereits anlaufen. „Eine solche Plattform war mal im Gespräch, die Idee hat sich irgendwo verloren“, erinnert sich Yves Oestreicher von der EFJ.
Doch solange ein Gesamtkonzept fehlt, drohen Qualifizierungs- und Qualitätsmaßnahmen vereinzelte Aktionen zu bleiben, die vielleicht erfolgreich sind, möglicherweise aber an den Bedarfen der Sozialdienste vorbeigehen und das Wirrwarr an Qualifizierungsangeboten und Anforderungsprofilen im Sektor nur vergrößern. Auch gehören weitere Fragen, wie das Statut oder eine gemeinsame Berufsdeontologie auf den Tisch. Selbst bei größter Personalnot und Stress darf es nicht sein, dass Erzieher Schutzbefohlene schlecht behandeln. Das setzt allerdings voraus, dass die Berufsorganisationen ihre oft rein korporatistische Perspektive hinterfragen und dass auch die Träger – große und kleine Anbieter – das Konkurrenzdenken hintanstellen und alle gemeinsam Druck machen.
Eng damit zusammen hängt allerdings eine politisch hochbrisante Frage: die nach der Wertschätzung der sozialen Berufe insgesamt. Wer hochwertige Sozialarbeit will, muss diese entsprechend entlohnen. Drei Jahrzehnte dauert der Streit über eine gerechte Entlohnung und Einstufung der Erzieher inzwischen an, erst im Juni gingen rund 9 000 erboste Erzieher und Sozialarbeiter auf die Straße, um für eine bessere Anerkennung zu kämpfen. Sie wollen, dass private Betreiber von Kindertagesstätten sich dem SAS-Kollektivvertrag des Sozial- und Pflegesektors anschließen und dass auch lang gediente Erzieher in der Gehältertabelle höher eingestuft werden. Ob die Regierung sich traut, diese heiße Kartoffel noch vor den Wahlen aus dem Feuer zu nehmen?