Aus Sorge wird allmählich Wut und Verzweiflung. „Der Staat verlangt immer mehr von uns, ohne uns zu fragen, ob wir das eigentlich leisten können“, sagt Christine Faber* entrüstet. Die Luxemburgerin hat vor drei Jahren umgesattelt und ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht: Sie ist eine von rund 700 Tagesmüttern landesweit.
Noch. Denn seitdem die Mutter eines Mädchens in den Norden gezogen ist, hat sie große Mühe, Kundschaft zu finden. Derzeit betreut sie drei Kinder, darunter ein Baby. Weitere Eltern hätten Interesse gezeigt, dann aber abgewinkt. An der Qualität ihrer Arbeit liege das nicht, ist sich Faber sicher. Sie hat schon vor der Abstimmung im Juli im Parlament über das Reformpaket, das die Qualität im Kinderbetreuungssektor verbessern soll, regelmäßig Weiterbildungen besucht. Die 130 Stunden Grundausbildung für Tageseltern brauchte sie nicht, weil sie eine Ausbildung im Pflegebereich hat. Ihre Erziehungsarbeit, in Tätigkeitsberichten gewissenhaft dokumentiert, wurde vom Ministerium gelobt. „In der Nachbarschaft hat eine neue Maison relais aufgemacht. Weil Eltern weniger zuzahlen, schicken sie ihre Kinder dorthin.“ Verzweifelt überlegt Faber jetzt, wo neue Tageskinder finden. Maximal fünf fremde Kinder dürfen Tageseltern gleichzeitig betreuen. Sie und ihr Mann sind auf das Einkommen angewiesen. Im Moment zahlt Faber drauf: „Als Selbstständige zahle ich 500 Euro monatlich Sozialversicherung. Ich verdiene aber nur 700 Euro im Monat. Geht das so weiter, muss ich mir eine andere Arbeit suchen.“
Früher, als sie noch in Bettemburg wohnte, konnte die staatlich anerkannte Tagesmutter sechs Euro pro Betreuungsstunde und Kind verlangen. Die Wartelisten für Krippenplätze in der Gemeinde waren lang, Eltern willens, für eine Betreuung in familienähnlicher Umgebung mehr zu bezahlen. Im Norden ist die Konkurrenz größer, im Kindergarten der Gemeinde sind noch Plätze frei. „Hier sagen mir Eltern, das sei zu teuer. Sie geben ihr Kind in eine Crèche, obwohl sie es eigentlich lieber mir geben würden.“ Notgedrungen hat Faber den Preis deshalb auf 3,50 Euro pro Stunde gesenkt. Das entspricht dem Satz, den der Staat maximal an Chèques-service für Tageseltern zuzahlt. Nachbarin Françoise Marchand*, die mit am Küchentisch sitzt, pflichtet ihr bei: „Es gibt Kinder, die fühlen sich in einer Einrichtung unwohl. Die brauchen eine persönlichere Betreuung und mehr Kontinuität.“ Marchand ist ebenfalls Tagesmutter, bildet sich derzeit zur Erzieherin weiter, möchte aber auch in Zukunft Kinder daheim betreuen: „Besonders Kleinkinder brauchen stabile Beziehungen und eine ruhige Umgebung. Das bieten wir“, sagt sie.
Dass immer mehr Tagesmütter strampeln, um über die Runden zu kommen, beobachtet auch Stella Falkenberg. Die Tagesmutter aus Wasserbillig kennt die Sorge, ob am Ende des Monats das Geld ausreicht, um alle Kosten zu decken: „3,50 Euro staatliche Zuzahlung für ein Kind pro Stunde und zwei Euro pro Tag für ein Mittagessen sind viel zu wenig. Vor allem, wenn das Angebot eine gewisse Qualität haben soll.“ Mit dem Qualitätsgesetz kommen auf Anbietern von Kinderbetreuungsleistungen, die über den Chèque-service abrechnen wollen, weitere Auflagen – und Ausgaben – zu: Eine Fortbildung kostet in der Regel 90 Euro, plus Mittagessen und den Arbeitsausfall. „Anders als angestellte Erzieherinnen besuchen wir die Kurse außerhalb der Arbeitszeit. Wer passt sonst auf die Kinder auf?“, fragt Christine Faber. 16 Stunden Fortbildung kosten so gut und gerne 900 Euro, Fahrtkosten nicht mitgerechnet. Kein Wunder, dass Tagesmütter und -väter überlegen, ob sich der Aufwand noch rechnet.
Laut Jahresbericht des Erziehungsministeriums steigt die Zahl der Tageseltern, die eine staatliche Anerkennung fragen, zwar weiter. Allerdings längst nicht mehr so sehr wie zwischen 2009 und 2012, als es zwischen 80 bis 90 pro Jahr waren. 2015 kamen nur sieben Agréments hinzu. Zudem erloschen im vergangenen Jahr 60 Zulassungen, weil die Halter entweder die Auflagen nicht erfüllten oder weil sie nicht mehr in dem Bereich arbeiten. Maria Sousa* aus Esch schulte in Abendkursen zur Versicherungsagentin um und hat ihren alten Job als Tagesmutter an den Nagel gehängt. „Es hat sich einfach nicht mehr gelohnt.“ Im Süden konzentrieren sich fast 80 Prozent aller Tagesmütter. Weil in Esch verhältnismäßig viele Familien mit niedrigem Einkommen wohnen, sei es oft „unrealistisch“, mehr als den vom Chèque-service gedeckten Preis von 3,50 Euro pro Stunde und Kind zu verlangen. „Das Ministerium rät, Eltern stärker an den Kosten zu beteiligen, aber arme und alleinerziehende Mütter können sich unsere Betreuung dann nicht mehr leisten“, sagt Christine Faber. So droht der Traumjob, von vielen Tagesmüttern (landesweit gibt es vier staatlich anerkannte Tagesväter) bewusst gewählt, um Beruf und Familie daheim zu verbinden, zur Armutsfalle zu werden: Selbst bei hoher Auslastung und höherem Stundentarif verdienen die meisten Tagesmütter kaum mehr als den Mindestlohn.
Stella Falkenberg will das nicht hinnehmen. Im Januar startete sie mit ihrem Mann eine Petition. 1 338 Unterschriften sammelten sie, zu wenige, um eine Anhörung in der Chamber durchzusetzen. Um ihre Kräfte zu bündeln und die Interessen der Tageseltern zu vertreten, gründete die Wahlluxemburgerin ein Netzwerk, www.dageselteren-network.lu. Der Verein setzt sich dafür ein, die Arbeitsbedingungen der Tageseltern zu verbessern. Im Forderungskatalog ganz oben: Der Staat solle Tageseltern und Träger von Kindergärten gleich bezuschussen. Für konventionierte Maisons relais legt der Staat derzeit 7,50 Euro bei, mit dem neuen Gesetz sollen private und konventionierte Träger mit künftig maximal sechs Euro bezuschusst werden – vorausgesetzt, sie erfüllen die Bedingungen für die Teilnahme am Chèque-service.
Die Regierung setze sich ein für eine „Politik der Wahl“, lobte der DP-Abgeordnete Claude Lamberty im Juli die Reform von Erziehungsminister Claude Meisch. Die Tageseltern halten dagegen. „Von freier Wahl kann keine Rede sein, wenn Eltern Betreuungsstrukturen nur aus dem Grund wählen, weil sie billiger sind“, so Falkenberg. Die CSV-Abgeordnete Françoise Hetto-Gaasch äußert für diese Sichtweise Verständnis: „Die Tageseltern sind eine Alternative für Mütter und Väter, die ihre Kinder nicht in Strukturen geben wollen.“ Offiziell hat die CSV zu den Forderungen der Tageseltern keine Stellung bezogen. Hetto-Gaasch befürwortet eine finanzielle Aufwertung der Arbeit der Tageseltern.
In seiner Antwort auf die Petition begründete Claude Meisch den fast doppelt so hohen Zuschuss für Strukturen mit höheren Kosten für qualifiziertes Personal, Hygiene- und Sicherheitsnormen, ein Argument, das Christine Faber nicht gelten lässt: „Wenn ich ein Geländer zur Sicherheit der Kinder einbaue, hilft mir der Staat auch nicht.“ Tageseltern, die über Chèques-service abrechnen, verpflichten sich wie die Träger von Betreuungsstrukturen, Qualitätsnormen einzuhalten, Weiterbildungen zu besuchen. Sie müssen ein pädagogisches Konzept haben und sind angehalten, Tagebücher zu führen sowie Abschlussberichte zu verfassen. Während mit den großen Trägern, dem Dachverband der Privat-Crèches Felsea und den Gemeinden über den Entwurf verhandelt wurde, blieben die Tageseltern außen vor. Das Netzwerk gab es da noch nicht, und obschon es in kürzester Zeit 130 Mitglieder gewinnen konnte, reicht das nicht, um Verhandlungen zu führen. Als die Tageseltern mit der Petition den politischen Druck erhöhten, lud das Ministerium zum Gespräch. Zweimal haben sich Vertreter der Tageseltern und das Ministerium bisher zusammengesetzt, ohne konkrete Ergebnisse. Ein Gesetz zu den Tageseltern sei in Arbeit, auch eine Erhöhung der Zuzahlungen werde erwogen; bei wichtigen Änderungen würden sie informiert, versprachen die Beamte im Mai. Vier Monate später haben die Tageseltern vom Ministerium noch immer nichts gehört.
Ahnungslos blieben sie auch, als in der letzten Parlamentssitzung vor den Sommerferien mit den Stimmen der blau-rot-grünen Mehrheit die an sich beschlossene Anhebung des Zuschusses für ein Mittagessen von zwei auf 4,50 Euro auf den 2. Oktober 2017 verschoben wurde. Ursprünglich sollte sie am 1. Januar 2017 in Kraft treten. Weil das Erziehungsministerium die Einführung einer sprachlichen Frühförderung auf Deutsch und Französisch plant, und angeblich um Eltern nicht mit zwei Reformen der Tarifstruktur zu verwirren, wurde der Termin verschoben.
Inzwischen liegt besagter Gesetzentwurf auf dem Tisch. Auf der Internetseite der Chamber war der Text bis Redakionsschluss nicht zu finden. Wesentliche Neuerung neben der Einführung der Sprachförderung für Kleinkinder: Die staatliche Zuzahlung für Tageseltern wird um 25 Cents auf 3,75 Euro angehoben. Bleibt ein Kind über Nacht oder am Wochenende bei der Tagesmutter, steigt der Zuschuss um weitere 50 Cents.
Entgegen den Zusagen wurden die Tageseltern über die Anhebung bislang nicht informiert. Ein nächstes Treffen mit dem Erziehungsministerium ist für den 28. Oktober geplant. Auf Land-Nachfrage, wie die Berechnungsgrundlage für die Anhebung um 0,25 respektive 0,50 Euro lautet, kann die Koordinatorin im Ministerium keine Referenzgröße nennen. Man wolle mit der Anhebung „die Arbeit der Tageseltern valorisieren“. Insbesondere Eltern, die außerhalb der Bürozeiten arbeiten, sollen so unterstützt werden – wie es aussieht, auf dem Rücken der Tageseltern. Die existenzielle Not dürfte eine Anhebung um wenige Cents jedenfalls kaum beheben. „Der Staat sieht uns als Lückenbüßer. Vielleicht will er uns mittelfristig sogar abschaffen“, mutmaßt eine Tagesmutter erbost. „Dabei ist unsere Arbeit unverzichtbar“.
Daran zumindest gibt es keinen Zweifel: Obwohl Staat und Gemeinden seit Einführung der Chèques-service massiv in den Ausbau von Betreuungsstrukturen investiert haben – der Staat unterstützt die außerfamiliäre Kinderbetreuung mit rund 300 Millionen Euro –, herrscht an vielen Orten weiter Mangel, suchen Eltern händeringend einen Krippenplatz. Für Mütter und Väter, die im Schichtdienst arbeiten oder nachts und am Wochenende, kommt der herkömmliche Kindergarten oder die Maison relais nicht in Frage, sie brauchen flexiblere Betreuungszeiten. Diese Flexibilität könnten Tageseltern grundsätzlich bieten. Sie stehen gleichwohl vor einem Dilemma: Um ein gesichertes Einkommen zu haben, brauchen sie größtmögliche Planungssicherheit. Kommt ein Kind nicht, weil Opa aufpasst, die Schicht ändert oder plötzlich doch ein Platz in der Crèche frei wird, dürfen Tageseltern den Stundenausfall nicht über die Cheques-service abrechnen. Um sich vor Missbrauch zu schützen, verlangen Tageseltern daher immer öfter eine Kaution und vereinbaren strenge Vertragsregeln. Tageseltern dürfen nicht, wie manche Strukturen das machen, feste Stundenzeiten vorgeben und abrechnen.
Dem Land liegt der Vertrag einer staatlich anerkannten Crèche vor: Eine Mutter, die für ihre Tochter für 30 Stunden eine Betreuung suchte, verpflichtete sich darin, ihr Kind für 36 Stunden anzumelden, obwohl es reell sechs Stunden die Woche weniger betreut wird. Wie groß der finanzielle Schaden ist, der dem Staat respektive den Steuerzahlern durch schwarze Schafe entsteht, die Betreuungsleistungen verrechnen, die sie gar nicht geleistet haben, ist unklar. Im Erziehungsministerium sind derlei Praktiken ein offenes Geheimnis; mit dem neuen Text soll diese Lücke endlich geschlossen werden. Künftig wären dann alle Kinderbetreuungs-Dienstleister, die mittels Chèque-service abrechnen, verpflichtet, nur tatsächlich geleistete Stunden abzurechen. Damit wäre immerhin ein struktureller Nachteil der Tageseltern behoben.