D’Lëtzebuerger Land: Was bedeutet Familie im 21. Jahrhundert für Sie?
Corinne Cahen: Es gibt nicht das eine Familienmodell, sondern viele verschiedene. Das kann die klassische Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern sein, Alleinerziehende mit Kindern, homosexuelle Paare mit Kindern. Eine Familie meint zunächst einmal nur einen Haushalt mit mehr als einer Person.
Was bedeutet das für Ihr Verständnis von Familienpolitik?
Familienpolitik muss versuchen, alle diese Familienmodelle zu unterstützen, damit alle Kinder dieselben Zukunftschancen haben. Denn es sind die Kinder, die im Mittelpunkt der Familienpolitik stehen.
Die Regierung hat die Mutterschafts- und Erziehungszulage gestrichen. Kritiker beschuldigen Sie daher einer ideologisch motivierten Familienpolitik.
Wir bevorzugen kein Familienbild. Aber es ist ein Fakt, dass nur wer einen Partner hat, der gut verdient, es sich leisten kann, zuhause zu bleiben. Das ist die Entscheidung eines jeden Einzelnen und ich respektiere sie. Dennoch sollte die Entscheidung mit Bedacht getroffen werden: Eine Beziehung kann zerbrechen und es ist nicht leicht, eine Arbeit zu finden, wenn man lange aus dem Berufsleben ausgeschieden ist. Das ist der Grund, warum unsere Koalition die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördert.
Die CSV wirft Ihnen vor, Sie verfolgten eine Politik, die Familie arbeitsmarkttauglicher zu machen, statt den Arbeitsmarkt familienfreundlicher.
Das Gegenteil ist richtig. Zum einen war es die CSV, die 2009 die Chèques-service einführte und vielen Familien es damit erst ermöglichte, Beruf und Familie zu vereinbaren. Als ich 2004 mein erstes Kind und dann 2006 meine zweite Tochter bekam, kostete die Kinderbetreuung ein Vielfaches. Der Weg, mehr Betreuungsmöglichkeiten für Kinder berufstätiger Eltern zu schaffen, ist nach wie vor der richtige Weg. Ich bin aber überzeugt, dass auch Unternehmen familienfreundlicher werden müssen. Früher hat man im Vorstellungsgespräch einer großen Firma nicht nach der Work-Life-Balance gefragt, die jungen Leute heute tun das. Sie wollen beides: Beruf und Familie. Außerdem interessieren sie sich dafür, ob ihr Betrieb sich gesellschaftlich engagiert. Heute müssen Unternehmen sich darauf einstellen.
Zeichnen Sie da nicht ein zu rosiges Bild? Männer wie Frauen klagen über Arbeitszeitverdichtung und Stress. Vielen bleibt kaum Zeit für die Familie. Und längst nicht jeder bekommt die Teilzeit oder gleitende Arbeitszeit, die er oder sie sich wegen der Familie wünscht.
Ein Problem hierzulande ist, dass viele einen weiten Anfahrtsweg haben und dabei zusätzlich Zeit verlieren. Ansonsten muss man als Politiker Ziele haben und schauen, wie man diese erreicht. Ich diskutiere viel mit Unternehmern, durchaus kontrovers. Unsere Arbeitswelt ist vielfach noch von Männern dominiert. Manche schauen schief, wenn man nach Vereinbarkeitsregelungen fragt, weil sie nach dem alten Schema funktionieren. Jungunternehmer dagegen, die selbst Kinder haben, organisieren ihren Betrieb oft anders. Das ist eine Entwicklung und geschieht sicher nicht von heute auf morgen. Aber als frühere Unternehmerin bin ich überzeugt davon, dass Angestellte besser arbeiten, wenn sie zufrieden sind.
Erziehungsminister Claude Meisch kündigte einen Höchstbetrag von bis zu 200 Euro wöchentlich für Eltern an, die ihr bis zwölf Monate altes Kleinkind in einer Krippe betreuen lassen. Das ist ein Anreiz für Väter und Mütter, ihr Kind so schnell wie möglich in außerhäusliche Betreuung zu geben.
Es gibt Eltern, die kein Anrecht auf Elternurlaub haben, weil sie die Bedingung (noch) nicht erfüllen, ein Jahr fest angestellt zu sein. Oder die arbeiten gehen müssen, weil sie das Geld benötigen. 200 Euro wöchentlich sind 800 Euro im Monat. Das ist nicht nichts. Unser Ansatz ist aber, dass wir es berufstätigen Eltern ermöglichen wollen, Zeit mit ihrem Kind zu verbringen. Darum der flexibilisierte Elternurlaub und die Neuerungen beim Vaterschafts- und beim Familienurlaub. Ich kenne persönlich keinen Vater, der nicht seinen Urlaub genommen hat, um bei der Geburt und bei der Familie zu sein.
Die Flexibilisierung des Elternurlaubs stößt allgemein auf Zustimmung. Aber verändert das wirklich die Geschlechterrollen? Es sind meistens Mütter, die den ersten Elternurlaub nehmen.
Es ist an den Partnern zu entscheiden, wer den ersten und wer den zweiten Elternurlaub nimmt. Früher hat die Mutter den ersten genommen und der Vater meistens keinen. Es wäre ein Fortschritt, wenn mehr Väter Elternurlaub nehmen, dafür haben wir die flexibleren Formen eingeführt.
In den vergangenen Tag herrschte Verwirrung, weil es plötzlich hieß, der Elternurlaub sei rückwirkend zu beantragen.
Rückwirkend ist das falsche Wort. Das bestehende Gesetz sieht vor, dass der erste Elternurlaub zwei Monate vor Beginn des Mutterschaftsurlaubs beantragt werden muss, der zweite in der Regel sechs Monate vor Antritt. Wer nun im Februar sein Kind bekommt, würde im Dezember zuvor in den Mutterschaftsurlaub gehen, der Antrag für den Elternurlaub müsste also im Oktober gestellt werden. Weil die Reform dann noch nicht in Kraft ist, dürfen diejenigen, die ihren Elternurlaub bis dahin nicht angetreten, ihn aber bereits beantragt haben, einen neuen Antrag stellen, um nach den Regeln des neuen Gesetzes Elternurlaub zu nehmen, vorausgesetzt, der Arbeitgeber ist einverstanden und alle Bedingungen des neuen Elternurlaubs sind erfüllt.
Welchen Stellenwert hat die Erziehung zuhause für Sie? Entwicklungspsychologen betonen, wie wichtig es für Babys gerade in den ersten Monaten sei, tragfähige Bindungen aufzubauen.
Eltern, die erwerbstätig sind, erziehen ihre Kinder auch und können ebenfalls eine exzellente Beziehung zu ihnen aufbauen. Abgesehen davon, werden Eltern, die für ihre Kinder zuhause bleiben, berücksichtigt, indem sie über den Partner krankenversichert sind. Mit der Steuerreform werden wir besonders Familien mit mittlerem Einkommen entlasten. Noch wichtiger ist es, den Geringverdienern mit Kindern zu helfen, in der Regel sind dies Alleinerziehende und große Familien.
Ihre Partei, die DP, hat versprochen, die Mittelschicht zu stärken. Einer Studie zufolge haben bei der Individualisierung gerade Mittelstandsfamilien und Haushalte mit einem Ernährer das Nachsehen.
Die individualisierte Steuerveranschlagung ist freiwillig: Wer sie nicht will, der muss nicht mitmachen, sondern bleibt in der Steuerklasse 2. Es war der Koalition wichtig, überhaupt einmal den Einstieg in die Individualbesteuerung zu beginnen, nachdem seit den 1980-er Jahren davon geredet wird, aber bisher nichts geschehen ist.
Alleinerziehende sollen von einer Verdoppelung des Steuerkredits profitieren, aber die Steuerreform berücksichtigt die Anzahl der unterhaltspflichtigen Kinder nicht. Wäre ein Familienkoeffizient nicht gerechter?
Die Anzahl der Kinder berücksichtigen wir bei anderen Maßnahmen, etwa beim neuen Mietzuschuss. Grundsätzlich ist das eine ziemlich komplizierte Rechnung.
Die Abschaffung des gestaffelten Kindergelds ist sehr umstritten. Es gibt keine Luxemburger Studie, die Ihre zugrunde gelegte Behauptung bestätigt, alle Kinder kosteten gleich.
Die Opposition argumentiert vor allem damit, Luxemburg sei zu teuer. Dann wäre das eine Frage der Höhe des geleisteten Kindergelds. In Luxemburg ist das Kindergeld in der Europäischen Union am höchsten, sogar in der Schweiz liegt es nur bei 200 Schweizer Franken. Das erste Kind bedeutet für einen Haushalt eine große Umstellung, beim zweiten wirken Spareffekte, etwa durch abgelegte Kleidung, Kinderwagen und ähnliches. Gemessen an der Lohnentwicklung, wird die Regierung zusätzlich ab 2018 regelmäßige und gezielte Investitionen in die Zukunft der Kinder tätigen. Dazu habe ich vor einigen Wochen ein Gesetz im Parlament eingebracht.
Mehr Kinder brauchen mehr Platz, eine große Wohnung kostet.
Darum hat diese Regierung den Mietzuschuss eingeführt für diejenigen, die finanzielle Unterstützung brauchen. Warum sollte der Staat Familien, die 10 000 Euro im Monat verdienen, mehr Geld geben? Es geht darum, die Bedürftigen mit gezielten Maßnahmen zu unterstützen.
Gegen den Mietzuschuss wird eingewandt, der Betrag sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Außerdem erreicht er die, die ihn brauchen, nicht.
Der Zuschuss ist nicht unerheblich, er wird ja nicht einmalig, sondern monatlich ausgezahlt. Es stimmt aber, dass die Hilfe noch bekannter gemacht werden muss. Wir bekommen aus den Sozialämtern die Rückmeldung, dass viele Berechtigte Hilfe dabei benötigen, die Anträge auszufüllen. Ihnen müssen wir konsequenter unter die Arme greifen.
Das Kinderarmutsrisiko ist in Luxemburg mit rund 25 Prozent erschreckend hoch. Was tut die Regierung um Kinderarmut wirksam zu bekämpfen?
Kinderarmut tritt besonders in alleinerziehenden Haushalten auf, weil dort mit einem Einkommen Miete, Lebensunterhaltskosten und so weiter bestritten werden müssen. Indem der Staat mindestens 20 Stunden Kinderbetreuung gratis anbietet, wird ihnen geholfen. Auch in der geplanten Reform des Revenu minimum garanti (RMG) werden wir Alleinerziehende und Familien mit vielen Kindern stärker berücksichtigen. Außerdem wird es mehr Naturalleistungen geben, von denen die Gratiskinderbetreuung eine ist. Es macht keinen Sinn, nur Geld zu verteilen, wenn es nicht da ausgegeben wird, wo es gebraucht wird.
Den Trend zu Naturalleistungen kann man kritisch sehen: Mehr Menschen sind gezwungen, Lebensmittel von einer Épicerie sociale zu beziehen, weil sie sich den Supermarkt nicht leisten können.
Lebensmittel umsonst zu erhalten bedeutet, mehr Geld zu haben für andere Anschaffungen. Immer mehr Menschen kaufen Fertigprodukte, weil sie nicht mehr wissen, wie man richtig kocht, obwohl das meistens preiswerter ist. In den Épicerien können sie das lernen. Dort bekommen sie Kontakt zu Ehrenamtlichen. Auch der soziale Kontakt ist wichtig.
Wirtschaftsminister Etienne Schneider nannte den Zukunftspak kürzlich „einen Fehler“. Sehen Sie das auch so? Immerhin wurde in Ihrem Ministerium besonders gespart.
Ich kommentiere Aussagen eines anderen Regierungsmitglieds grundsätzlich nicht. Was die Familienpolitik dieser Regierung anbelangt, setzen wir nach den Reformen mehr Mittel gezielter ein, um die Zukunftschancen der Kinder zu fördern und besonders Familien zu helfen, die in der Rush hour des Lebens stehen: die arbeiten, die Kinder haben, vielleicht einen Hauskredit abbezahlen müssen. Ich mache Politik nicht für mich, sondern für die Zukunft. Und die Herausforderungen sind groß.