Mit einem wolkenfreien Himmel und blendendem Sonnenschein, den man in England seit gefühlten Wochen nicht mehr erlebt hat, kündigt sich der Frühling in Leeds an. Sogar erste Krokusse blühen bereits im Zentrum der ehemaligen Arbeiterstadt. Doch im Henry Moore Institute wummern bedrohliche Töne. Es ist der Soundtrack von Bady Mincks La Belle est la Bête, ein Kurzfilm von 2005, der im Rahmen der Ausstellung „The Traumatic Surreal“ vorgeführt wird. Beim Anblick von Mincks Bildern spürt man die mit Fell bedeckte Zunge plötzlich im eigenen Mund und stellt sich vor, wie es sich wohl anfühlen würde, solche pelzigen Hände zu haben. Plötzlich ertönen fragmentierte, tiefe Männerstimmen, die dann in einen bedrohlichen Horror-Jingle übergehen.
Vor dem Bildschirm steht eine Mutter mit zwei Mädchen. In den knapp 2 Minuten und 50 Sekunden von La Belle est la Bête hat Bady Minck ihre Zuschauerinnen fest im Griff. Das liegt auch am Sound. „Ich finde, dass der Sound das Unbewusste darstellt, und er beeinflusst den Zuschauer sehr, ohne dass er es merkt“, sagt Bady Minck. Sie gehört zu den sieben deutschsprachigen Künstlerinnen der Ausstellung, die sich in ihrer Kunst mit Trauma, Faschismus, Geschlechterrollen und Geschichte auseinandersetzen.
Organische Materialien ziehen sich durch die Ausstellung. Meret Oppenheims Eichhörnchen zeigt ein volles Bierglas, an dessen Stelle eines Henkels der Schwanz eines Eichhörnchens herabhängt. Auch Renate Bertlmann benutzte für ihr Werk Fellherz mit Messer ein herzförmiges Tierfell, aus dem eine scharfe Klinge ragt. „Diese Künstlerinnen verwenden surrealistische Strategien, um das anzusprechen, was man nicht sehen kann, auch wenn man es direkt anschaut“, erläutert Patricia Allmer, Professorin für Moderne und Zeitgenössische Kunst an der University of Edinburgh und Co-Kuratorin der Ausstellung. Um die scharfe Klinge zu erkennen, müsse man seine Position ändern. Genau wie ein Trauma ist das Messer auch dann vorhanden, wenn man es nicht sieht oder nicht an es denkt – und es kann jederzeit zustechen.
Dies seien surrealistische Strategien, die auch heute im Umgang mit Faschismus nützlich sein können, so die Professorin. Ein perfektes Beispiel sei Bady Mincks Film Am Anfang war der Blick (2003), ein avantgardistisches Werk, in dem Minck den Dichter und Künstler Bodo Hell durch idyllische Postkartenlandschaften Österreichs schickt. Die Diskrepanz zwischen Wort und Bild deutet auf Düsteres hin, das sich in einigen Momenten auch explizit zeigt. So zeigt eine der etlichen Postkarten, die Bady Minck gesammelt hat, eine Sonne, auf der ein Hakenkreuz leuchtet. Leider scheine diese Sonne noch nicht über Salzburg, schreibt der Absender. Diese dunkle Kehrseite der österreichischen Geschichte wird dort immer noch oft verschwiegen. Gerade deswegen ist politische Kunst in Österreich so bahnbrechend, sagt Bady Minck.
„Diese Abgründe in Österreich sind gefundenes Fressen für Künstler“, sagt Minck, die in Ettelbrück und Wien lebt. „In Österreich musst du als Künstler gut sein, denn du musst dich gegen das ganze Nazipack, das Reaktionäre und das Konservative wehren“, erklärt Minck. Eine wichtige Rolle im Film spielt der steirische Erzberg, der durch den Erzabbau heute an Stufenpyramiden der Mayas erinnert. Viele Menschen starben hier als Zwangsarbeiter in der NS-Zeit. Denkmäler gibt es keine, und die Fotos von den Baracken der Zwangsarbeiter wurden trotz Anfragen von Bady Minck und anderen Künstlern von der betreibenden Firma nie veröffentlicht.
„Das ist Verdrängung par excellence, und dafür musste ich diese Geschichte im Ton erzählen“, erklärt die Regisseurin. Während im Film etliche idyllische Postkarten des Erzberges zu sehen sind, flüstert Bodo Hell die Anzahl und Nationalitäten der Zwangsarbeiter: „Serbien (301), Slowakei (196), Sowjetunion (2011) (…)”.
Bady Minck habe so eine Art und Weise gefunden, „die Unsichtbarkeit von Traumata, aber auch die Unsichtbarkeit des Faschismus und der faschistischen Ideologie sichtbar zu machen“, so Patricia Allmer, ebenfalls Autorin des 2022 erschienen Buches The Traumatic Surreal - Germanophone Women Artists and Surrealism After the Second World War (Manchester University Press).
Der Surrealismus feierte letztes Jahr seinen hundertjährigen Geburtstag, doch noch immer sind es vor allem männliche Künstler, die aus der Kunstbewegung hervorgehoben werden. „Es war mir wichtig, mit dieser Ausstellung Künstlerinnen in einem Raum zusammenzubringen und einen Dialog zwischen den Werken zu ermöglichen“, so Patricia Allmer. „Es ist eine feministische, kuratorische Strategie, diese Kunstwerke zusammenzuführen. Das passiert nicht sehr oft.“
Dabei ist die surrealistische Arbeit von Frauen in Zeiten des Rechtsrucks wieder sehr relevant. Denn schon vor hundert Jahren wehrten sich Künstlerinnen gegen erdrückende gesellschaftliche Normen, geschlechtsspezifische Einschränkungen und den kriechenden Faschismus. Oft wird erwähnt, wie sehr Max Ernst Künstler beeinflusst hat, doch auch Meret Oppenheim, die vor allem für ihre mit Pelz überzogene Teetasse bekannt ist, hatte großen Einfluss auf andere schaffende Frauen, sagt Patricia Allmer. Künstlerinnen wurden damals jedoch kaum unterstützt. Bady Minck erinnert sich, wie schwierig es war, Werke von Renate Bertlmann zu sehen: „Ich habe sie und ihre Kunst immer sehr bewundert, doch im professionellen Raum wurde sie einfach nie ausgestellt.“
Heute weiß man, dass sich diese Unterstützung nicht nur gesellschaftlich, sondern auch für Museen lohnt. Die Ausstellung in Leeds sei ein „Blockbuster“ für das Henry Moore Institute gewesen, so Patricia Allmer. Bady Mincks La Belle est la Bête hat dabei eine große Rolle gespielt, denn die pelzige Zunge machte auf sozialen Medien die Runde. „Ich war überrascht, wie sehr junge Menschen auf La Belle est la Bête ausflippen,” sagt die Regisseurin. „Ich habe jetzt mehr als 100 neue Instagram- Follower aus dem Vereinigten Königreich, die ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen habe.“
Dass junge Menschen heute anders mit Kunst umgehen, ist ihr allerdings bewusst. „Die Generation Z nutzt Kino ganz anders. Die machen während dem Film Fotos vom Bildschirm, posten es auf Instagram und schreiben die Adresse hinzu. Und dann öffnet sich während des Films die Tür und ihre Follower kommen. Also eine Art Nachlieferung während des Filmes“, lacht sie. Durch soziale Medien wird also auch der Surrealismus der Nachkriegszeit von neuen Generationen wiederentdeckt. Und das in einer Zeit, in der feministische Kunst so wichtig ist wie fast nie zuvor.