Wenn niemand etwas unternimmt, dann geschieht nichts, schimpfte Parteipräsident Christian Kmiotek zur politischen Rentrée von Déi Gréng. Gemeint hatte er eigentlich die EU, die in der Flüchtlingskrise zu lange untätig geblieben sei. Der Spruch hätte aber genauso gut auf die Lage seiner Partei gepasst: Obwohl Kmiotek und Ko-Präsidentin Françoise Folmer die gute Arbeit der Regierung lobten, sehen das Stimmen an der Basis anders. Von der Partei kommen zu wenig Impulse. Grüne Themen würden hauptsächlich von den Ministern gesetzt und von der Fraktion pflichtschuldig durchgewunken, lautet die Kritik. „Dass wir uns erst in der ungewohnten Rolle als Regierungspartner zurechtfinden mussten, kann ich verstehen, aber warum äußert sich die Partei nicht zu grünen Kernthemen wie der Bildung oder den Grundrechten?“, bringt eine Grüne, die seit vielen Jahren dabei ist, ihr Unbehagen auf den Punkt.
Tatsächlich fahren Fraktion und Basis mit deutlich angezogener Fahrradbremse: Sei es die Aufarbeitung der Geheimdienstaffären, Flüchtlingskrise oder Wohnungsnot – Déi Gréng zünden spät oder gar nicht. Kam die Fraktion im Jahr 2012/2013 auf 110 parlamentarische Anfragen, ist ihre Zahl, jetzt da die Grünen mitregieren, auf 78 in der vergangenen Sitzungsperiode geschrumpft. Spitzenreiterin ist Josée Lorsché mit 33 Anfragen, Schlusslichter bilden Roberto Traversini mit zwei Anfragen und Viviane Loschetter mit Null. Fraktionspräsidentin Loschetter zählte allerdings auch früher nicht zu den eifrigsten Fragestellerinnen. Pressekonferenzen gab es nur acht.
Forscht man nach den Ursachen für die neue Bescheidenheit, wird zunächst abgewehrt: Viel Energie sei in die Referendumskampagne geflossen, sagt Viviane Loschetter. Da hatten Déi Gréng versucht, mit Plakaten die phlegmatisch-verbiesterte Stimmung aufzulockern. Genützt hat das bekanntlich nichts. Nun hofft Justizminister Félix Braz beim Nationalitätengesetz Akzente setzen zu können. Doch neben dem Referendum und der Nationalitätenfrage gibt es andere Themen, zu denen die Grünen zu Oppositionszeiten klare Positionen vertraten. Heute scheint es so, als würden Fraktion und Partei eine grüne Variante von Mikado spielen: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren.
Mit der Regierungsbeteiligung gehe eine andere Verantwortung einher als in der Opposition, versucht Viviane Loschetter die Zurückhaltung der Fraktion zu erklären. Statt permanentem Angriffsmodus seien Abstimmung, Koordination und Vermittlung gefragt. Dass Mitglieder grüne Inhalte nicht direkt erkennen, hieße nicht, dass es sie nicht gibt. „Wir machen unsere Arbeit“, beteuert Loschetter. Man habe sich in der neuen Rolle wirklich erst zurechtfinden müssen.
Aber fast zwei Jahre nach Regierungsantritt sollten solche Identitätskrisen behoben sein. Auf dem statutarischen Kongress im Juni wählte die Partei Folmer als Nachfolgerin von Sam Tanson zur Präsidentin. Die Juristin und Erste Hauptstadtschöffin habe den Vorsitz aufgegeben, um Konflikten mit Loschetter aus dem Weg zu gehen, wurde geunkt. Sowohl Tanson als auch Loschetter bestreiten dies. Sie habe das Amt niedergelegt, um in den Staatsrat zu wechseln, so Tanson, die meint, „anders zu funktionieren“ als ihre ältere Parteikollegin. Ihr juristischer Sachverstand ist dem Staatsrat sicher dienlich, ihr politisches Gespür und ihre Schlagfertigkeit fehlen der Partei jetzt aber.
Im Herbst meldete der Telecran, Loschetter könnte ihren Posten im Schöffenrat der Hauptstadt für den jüngeren François Benoy räumen, immerhin gehörte die Kritik von Doppel- und Dreifachmandate früher zum grünen Standard-Repertoire. Zudem kann die Partei weitere Verjüngung gebrauchen und Loschetter hätte den Rücken frei gehabt, sich ganz auf die Fraktionsarbeit zu konzentrieren. Dass solche Überlegungen stattgefunden haben, bestreitet Loschetter nicht. Allerdings könne sie Fraktionsführung und Gemeindearbeit „sehr gut vereinbaren“, so die Zentrumsabgeordnete, die ihr Schöffenamt bis zum Ende der Amtsperiode ausüben will. Differenzen zwischen ihr und Abbes Jacoby galten als heimlicher Grund für den abrupten Fortgang des Ex-Fraktionssekretärs. Lob bekommt die meinungsstarke Politikerin, andere würden vielleicht launisch sagen, unter anderem vom amtierenden Fraktionssekretär sowie von Françoise Folmer, die ihr bescheinigt, sich „schnell in wichtige Dossiers eingearbeitet“ zu haben und die „gute Stimmung“ in der Fraktion hervorhebt.
Folmer fühlt sich auf dem Tandem mit Kmiotek und mit Loschetter als Gegenüber jedenfalls wohl. Die 53-jährige Architektin und ehemaligen Präsidentin der Femmes cheffes d’entreprises sieht ihre Stärken bei Genderfragen und in Umweltthemen, während Kmiotek das Soziale liegt. Kmiotek ist bekannt für seine emotionalen Ansprachen. Er fährt Kritikern auch mal über den Mund, während Folmer eher vermittelnd wirkt; „eine gute Ergänzung“ findet die Feministin. Vielleicht ist es ihrer Frische im Amt zu verdanken, dass Folmer ohne viel Umschweife einräumt, in der internen und externen Kommunikation bestehe „Nachholbedarf“. In den nächsten Wochen und Monaten will die Partei ihr Profil schärfen, die Arbeitsaufteilung zwischen Basis, Fraktion und Regierung verbessern. Die Themen würden im Parteivorstand mit der Fraktion und den Ministern abgestimmt.
Das lässt sich als Eingeständnis lesen, dass Déi Gréng insgesamt einen Zahn zulegen müssen, wollen sie nicht mehr Unmut an der Basis riskieren. Mitglieder bescheinigen der grünen Ministerriege zwar eine exzellente Arbeit. Besonders bei der Nachhaltigkeit und in der Umwelt hätten Déi Gréng mit dem Tram, der wiederentdeckten Nordstad und dem raschen Krisenmanagement bei der Altlastenproblematik und der Wasserverschmutzung Akzente gesetzt – doch diese positive Sichtweise ist nicht ungeteilt. Die Sorge der Basis, grüne Prinzipien könnten durch die Konsenspolitik in der Regierung vereinnahmt oder verwässert werden, drückte sich auch im Votum auf dem Parteikongress im Juni aus: Mehrheitlich stimmten Mitglieder gegen den Vorschlag, Minister, Staatsräte und Abgeordnete voll in die Parteileitung zu integrieren. Begründet wurde der Vorstoß der Parteiführung damit, den Informationsfluss zu verbessern. Doch die Basis sorgte sich um ihren Einfluss und wehrte das Anliegen ab. Zur Freude vor allem der grünen Jugend, die mit Realpolitik und Pragmatismus von jeher nicht viel am Hut hat.
Dass allerdings selbst erfahrene Abgeordnete fürchten, mit eigenen Stellungnahmen den blauen oder roten Koalitionspartner zu verprellen, erstaunt dann doch. Nur vier der acht Pressekonferenzen gehen auf das Konto der Abgeordneten. Spätestens wenn Wahlen anstehen, zählt das eigene Profil, dann heißt es wieder, (grüne) Farbe bekennen. Die Meinungsumfragen sind den Grünen recht wohlgesonnen, doch sollten diese lieber nicht zu viel darauf geben: In vergangenen Jahren haben sich die Prognosen stets als zu optimistisch herausgestellt.
„Unsere Aufgabe ist heute eine andere als in der Opposition“, betont Fraktionssekretär Dan Michels. Man wirke hinter den Kulissen statt „auf dem Marktplatz“ zu rufen. Sachlichkeit, konstruktive Mitarbeit und moderates Auftreten statt lautstarke Forderungen oder Ungeduld waren schon zu Oppositionszeiten prägend für den grünen Stil – eine Strategie, die sich zumindest teilweise auszahlt, wie im Regierungsprogramm zu sehen ist. Da haben Déi Gréng deutliche Akzente gesetzt, etwa bei der Energie- und Umweltpolitik. Dass die Basis dennoch mit den Füßen scharrt, hat damit zu tun, dass die blau-rot-grüne Koalition bei ihrem Antritt versprochen hatte, die herkömmliche Ressortlogik aufzubrechen, mehr Beteiligung zu wagen und viel transparenter zu sein als ihre Vorgänger. Kein Minister werde mehr in seinem Eck arbeiten, Austausch und Vernetzung sollten großgeschrieben werden. Dazu gehört aber scheinbar nicht, offen eigene Meinungen zu vertreten. Überall dort, wo die Grünen nicht den Ressortminister stellen, herrscht verdruckstes Schweigen. Das galt bis zur Rentrée-Pressekonferenz auch für die Bildung, wo die grüne Mutlosigkeit besonders auffällt.
Die Welt ist nicht grün, aber auch nicht schwarz oder weiß: Zwischen den Extremen Fundamental-opposition und eiserner Koalitionsdisziplin wäre Platz für mehr Profil sowohl für die Fraktion als auch für die Partei. Laut Regierungsprogramm soll beispielsweise die Drogenpolitik überprüft werden. Bisher ist davon nichts zu sehen. Aus der Fraktion heißt es, die Entkriminalisierung von Cannabis sei keine Priorität. Die Jugend sieht das anders. Warum nicht dort eine Initiative starten? Noch schwieriger dürfte der Duck-and-Cover-Kurs in der Steuer- und in der Haushaltsdebatte zu halten sein. Denn da tun sich schon jetzt deutliche Meinungsdifferenzen in der Koalition auf. Sicher, eine Öko-Steuerreform wird es mit der DP nicht geben. Aber auch zu Individualisierung oder Vermögens- und Erbschaftssteuer kommt von Déi Gréng derzeit nichts. Die Sprachregelung lautet auch hier: innen diskutieren, nach außen Mund und Reihen geschlossen halten. Zu dem Preis womöglich, dass die Mitglieder das als rückgratlos auslegen. Immerhin: Beim Handelsabkommen TTIP sorgen der EU-Abgeordnete Claude Turmes und Claude Adam gemeinsam dafür, dass grüne Kritik nicht in Vergessenheit gerät.
Andere Minenfelder sind für Déi Gréng die Vorratsdatenspeicherung und der Datenschutz. Während die Grünen auf europäischer Ebene gegen Massenüberwachung mobilisieren, eiern Déi Gréng hierzulande seit Monaten herum und mussten sich zuletzt von den Sozialdemokraten links überholen lassen: Deutschland und Österreich setzten die mit EU-Recht unvereinbare Vorratsdatenspeicherung außer Kraft; die deutschen Grünen erwägen gar eine erneute Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Derweil lässt der grüne Minister in Luxemburg die Regelung in Kraft. Eine Pressekonferenz der Fraktion, um den Schlingerkurs zu erklären, fand dann doch nicht statt. Außer von der Jugend, die die Vorratsdatenspeicherung entschieden ablehnt, kam auch von der Parteibasis nichts.
Félix Braz ist bisher der grüne Minister, der sich öffentlich am meisten zurückhält. Mag sein, dass seine Hausaufgaben Familienrechtsreform, Strafvollzugsreform, Unternehmens-Konkursrecht echte Brocken sind. Mit der EU-Präsidentschaft gehen zahlreiche Treffen einher, die der ehemalige Journalist beflissen absolviert. In der Srel-Affäre schien der brave Braz plötzlich über sich hinauszuwachsen, als er im Sommer 2013 die Bedeutung von Rechtsstaat und Demokratie in Parlament und auf dem Parteikongress mit eindringlichen Worten beschwor – zuletzt verlor der Escher beim Politbarometer jedoch mit minus zehn Prozent deutlich an Zuspruch. Dass die Fraktion für die Aufarbeitung des Srel-Archivs nicht einmal Kontakt zu bespitzelten Mitgliedern aufnahm, überraschte selbst Insider. Fragt man nach den Gründen für das Versäumnis, heißt es einmal mehr, man wirke „hinter den Kulissen“. Auf Nachhaken, wo die grüne Handschrift bei den Srel-Gesetzentwürfen sei, folgt geheimnisvolles Schweigen. Beim Jugendschutz sorgen sich mittlerweile auch Grüne, die als Tiger vorgestellte Reform könnte als Bettvorleger enden. Seitdem Loschetter den Fraktionsvorsitz innehat und Josée Lorsché den Nachhaltigskeitsausschuss leitet, scheint sich niemand mehr des Themas anzunehmen.
Die Personaldecke ist bei Déi Gréng insgesamt sicherlich dünner als bei den anderen großen Parteien. Seitdem die Grünen zunehmend auf Gemeindeebene Verantwortung übernehmen, ist der Personalmangel noch spürbarer geworden. Roberto Traversini mag in Differdingen sehr engagiert sein, im Parlament gibt er kaum Impulse. Teilweise sind neue Gesichter zur Partei hinzugestoßen, wenn auch vielleicht nicht in dem Tempo, wie das nötig wäre. Andere, wie der Escher Manuel Huss, haben sich aus der aktiven Politik zurückgezogen. Sein Rückzug fällt auch deshalb auf, weil Huss wie kein zweiter Grüner in den sozialen Netzwerken präsent war. Inzwischen sind Déi Gréng auch dort kaum mehr zu sehen.