Harlingen ist ein 400-Seelennest der Öslinger Stauseegemeinde. Dort, im sattgrünen, dünn besiedelten Dreieck zwischen Stausee, Bastogne und Knauf Shopping Center, lebt Marco Koeune. Er ist ein unternehmungslustiger, rundlicher Mann mit Glatze, der auf dem landwirtschaftlichen Gut A Méchels Kühe züchtet. Seit 1998 investiert er in die Produktion von Biomilch, um gezielt eine auf Gesundheit und lokale Produkte bedachte, kaufkräftige Kundschaft zu bedienen.
Denn Marco Koeune ist auch ein Vertreter des Agrarliberalismus. Der Landwirt ist Mitglied der Demokratischen Partei, die nicht nur aus Anwälten und Unternehmensberatern, Geschäftsfrauen und Ärzten besteht. Im rechten Nord- und noch rechteren Ostbezirk ist sie auf Leute wie Charles Goerens und Marco Koeune angewiesen, auch wenn beide vor anderthalb Jahren keine Freunde der Koalition mit LSAP und Grünen waren.
Als Präsident des Regionalvorstands Norden stand Marco Koeune am Sonntagmorgen im blauen Hemd und blauen Sakko vor dem DP-Nationalkongress und erzählte zu Beginn seines Rechenschaftsberichts leicht dialektgefärbt, dass „dort oben, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht wünschen, die Uhren etwas anders ticken“. Doch weil „wir im Norden viel herumkommen“, musste er seine Parteikollegen warnen, dass „die Leute im Norden ganz gemischte Gefühle gegenüber der Regierung“ hegten. Seine Wähler seien „nun kritischer geworden“. Was er auch in Zusammenhang mit der Haushaltspolitik und den Sparplänen der Regierung bringt.
Das wussten selbstverständlich auch die über 250 Teilnehmer des DP-Parteitags und die Parteiführung. Sie sind nicht mehr siegestrunken, wie noch vor einem Jahr, sondern haben in täglichen Gesprächen am Arbeitsplatz und am Tresen selbst erfahren oder aus den vielen Meinungsumfragen herausgelesen, dass der Wind sich gedreht hat. Das von der Marktforschungsfirma TNS-Ilres für Luxemburger Wort und RTL erfragte Vertrauen in die Regierung ist von 63 Prozent im Augenblick der Regierungsbildung, im Dezember 2013, auf einen Tiefstand von 36 Prozent heute, im Mai 2015, abgestürzt. Seit November vergangenen Jahres ist das Vertrauen in die Opposition deutlich größer als das in die Regierung – auch ein seltener Fall in einer sehr legalistischen Wählerschaft.
Die Euphorie eines Teils der Bevölkerung nach dem Regierungswechsel ist vorüber, der Vertrauensvorschuss ist aufgebraucht. Darunter leidet die DP. Denn sie stellt mit ihrem Premierminister das Gesicht der Regierung, die Koalitionspartner LSAP und Grüne waren auf dem Paeteitag keine Erwähnung wert. Doch niemand ging am Sonntag auf Marco Koeunes Warnung ein. Man sei auf dem richtigen Weg, beschworen Generalsekretär Gilles Baum, Fraktionspräsident Eugène Berger und Parteipräsident Xavier Bettel.
Zu den in der Tagesordnung vorgesehenen Diskussionen meldete sich, wie bei der DP üblich, niemand. Niemand reichte eine Motion oder Resolution zur Bestimmung des politischen Standorts ein. Dabei hatte der letztjährige Kongress diskussionslos eine Motion der Jungdemokraten für mehr Diskussion in der Partei angenommen. Auch dieses Jahr blieb der Kongress eine knapp dreistündige Bühnenschau für die stumm im Halbdunkel des Tramsschapp zuhörenden Parteimitglieder, glatt und unangreifbar wie die kratzfesten Stahlwände des Festsaals.
Denn die DP sei „in den letzten Monaten nicht verschont worden“, klagte der Generalsekretär. Zwar stehe sie „wie ein Mann hinter der Regierung“, doch es heiße weiter, zusammenzuhalten. Damit die Partei wie ein Mann hinter der Regierung steht, ist der Regierungschef sicherheitshalber auch Parteipräsident, und gegenüber Le Quotidien meinte er soeben, dass er es sich überlegen wird, ob er nächstes Jahr erneut für den Parteivorsitz kandidieren wird.
Sich selbst bezeichnete Xavier Bettel als „ungeduldigen Menschen“, zügelte dann aber die allgemeinde Ungeduld mit dem Hinweis, dass erst ein Drittel der Legislaturperiode vorüber sei. Und wer nicht länger warten will, dem rechnete er vor, was die Regierung bisher geleistet habe, zählte er die gesellschaftspolitischen Reformen auf: Abtreibungsreform, Homoehe, neue Konventionen mit den Kirchen... Der rote Faden sei stets die liberale Wahlfreiheit, „fir de Choix“.
Einen der so dringend benötigten Erfolge liberaler Politik durfte Familienministerin Corinne Cahen melden. Sie konnte die Vorzüge der geplanten Reform des Elternurlaubs hervorstreichen, Dank einer jährlichen 20-Millionen-Spritze aus der Staatskasse sozial und unternehmerfreundlich zugleich, so dass er sogar ein später Triumpf der Sozialpartnerschaft wurde.
Erklärungsbedarf scheint dagegen noch immer zu den in liberalen Kreisen stets verpönten Steuererhöhungen und den Budgetkürzungen zu bestehen, vielleicht mehr denn je, da die Staatsfinanzen den Maastricht-Kriterien besser gehorchen, als vorausgesagt. Eugène Berger erzählte die erbauliche Geschichte, wie die DP mit ihrem Zukunftspak die unter CSV und LSAP heruntergewirtschafteten Staatsfinanzen wieder ins Gleichgewicht gebracht habe. Xavier Bettel betonte staatsmännisch, dass die Regierung die Sparmaßnahmen „nicht aus Spaß“ beschlossen habe, sondern weil es verantwortungslos gewesen wäre, die bisherige Finanzpolitik fortzusetzen. Und er bedankte sich „bei Pierre“, dem Finanzminister, der „von der Opposition viel kritisiert“ worden war.
Aber das war kein Thema, das auf einem Kongress offen angesprochen werden durfte: Dass der DP in fast zehn Jahren Opposition das Personal ausgegangen war, um eine ordentliche Regierungsmannschaft aufzustellen. Erst vier Wochen zuvor hatte der Premier Ministerin Maggy Nagel das Wohnungsbauministerium weggenommen und sie durch Staatssekretär Marc Hansen ersetzt. In anderthalb Jahren hatte sie sich unfähig erwiesen, die während des Wahlkampfs versprochene Trendwende in dem politisch brisanten Ressort einzuleiten. Man wahrte den schönen Schein, der vor einem Jahr zum neuen Generalsekretär gewählte Gilles Baum beschwichtigte zwar, dass man gerade im Wohungsbau „in 18 Monaten keine Wunder bewirken“ könne, aber Xavier Bettel betonte, das sei „keine Personalfrage“, und sagte „Danke Maggy, Danke Marc!“
Schließlich hat die DP mehr als eine Personalfrage. Auch Finanzminister Pierre Gramegna wird in den eigenen Reihen vorgeworfen, durch seine Personalpolitik das Ministerium destabilisiert, die Luxleaks-Katastrophe verschlafen und mit seinem „Haushalt der neuen Generation“ vor allem Chaos gestiftet zu haben. Während Erziehungsminister Claude Meisch mit seinen Reformankündigungen mehr Verwirrung stifte, als dass er greifbare Ergebnisse vorweise, nachdem er als Bürgermeister von Differdingen einen politischen Scherbenhaufen hinterlassen habe. Darüber, dass Premier Bettel vergangene Woche mit seiner Erklärung zur Lage der Nation die Chance zur Remobilisierung der von der Koalition Enttäuschten verpasste, versuchte Gilles Baum mit der Bemerkung hinwegzutrösten, dass die „Erklärung keine leere Versprechen“ enthalten habe.
In seinem Rechenschaftsbericht hob der Generalsekretär hervor, dass die DP eine weitere Funktionärin eingestellt habe, um „die Partei professioneller aufzustellen“, das heißt wohl auch, ihre Regierungspolitik besser zu vermitteln. Doch Kassierer Patrick Goldschmidt musste melden, dass die DP nach einem Verlust von 135 404 Euro im Jahr 2013 vergangenes Jahr einen Verlust von 177 526 Euro bilanzierte. Die DP hatte sich den Europawahlkampf über eine halbe Million Euro kosten lassen, um am Ende von 18,7 auf 14,8 Prozent der Stimmen zurückzufallen, ihr schlechtestes Ergebnis in 35 Jahren Europawahlen.
Bei solchen Konten läuft die DP Gefahr, unter die vom Parteifinanzierungsgesetz vorgeschriebene Schwelle von mindestens 25 Prozent Eigenmittelfinanzierung zu fallen. Also musste der Kongress eine Erhöhung der bisher konkurrenzlos niedrigen Mitgliedsbeiträge von 15 Euro auf 25 Euro jährlich beschließen.
Wenn es der Mehrheit nicht gelingt, das Ruder im letzten Augenblick herumzureißen, wird auch noch ihr Referendum zur Blamage. Dass in den vergangenen Monaten die Zahl der Gegner aller drei Reformvorschläge, sogar desjenigen zur Begrenzung der Mandatsdauer von Regierungsmitgliedern, stieg, lässt einen bösen Verdacht aufkommen: Dass beim Referendum mit Nein zu stimmen auch einen Überdruss mit den Initiatoren des Referendums, der Regierung, auszudrücken beginnt.
Deshalb bekannten sich alle Redner zu einem dreifachen Ja am 7. Juni, und Premier Xavier Bettel brachte noch einmal allerlei Argumente zugunsten des legislativen Ausländerwahlrechts vor. Die Überzeugungsarbeit galt nicht zuletzt den eigenen Reihen. Denn laut Meinungsumfragen würde derzeit noch eine knappe Mehrheit von 54 Prozent der DP-Wähler für das Ausländerwahlrecht stimmen. Und die DP hatte sich schon seinerzeit bei der Ratifizierung des Maastrichter Vertrags wie keine andere der großen Parteien mit dem kommunalen Ausländerwahlrecht schwer getan.
Sicherheitshalber stellte Xavier Bettel klar, dass das Referendum „kein Politbarometer über die Zufriedenheit mit der Regierung“ sei, sondern „ein Spiegel, in dem sich die Wähler betrachten können“. Das wollten die Parteimilitanten im Saal am liebsten auch so sehen. Denn viele von ihnen denken schon an die Gemeindewahlen im übernächsten Jahr.