Es gibt Krankheiten, körperliche wie politische, die man längst ausgerottet glaubte und die dann wieder neu aufflammen. Eine davon ist der Philhellenismus, die Griechenland-Schwärmerei der Romantik. Als Reaktion auf den griechischen Freiheitskampf gegen das Osmanische Reich vor bald 200 Jahren meldete das Luxemburger Wochenblatt am 29. April 1826 die Gründung eines „Unterstützungs-Vereins“ für „Hellas noch seufzende tapfere Bevölkerung“. Dieser „Luxemburger Griechen-Verein verdankt seine Entstehung eben demselben Mitgefühl hochherziger Männer, welches alle, die für einen ähnlichen Zweck früher und später wirkten, beseelte. Der hiesige Griechen-Verein, welcher die ausgezeichneten und angesehensten Personen aller Stände, wie auch verehrte Geistliche zu Vorstehern und Mitgliedern hat, beabsichtigt mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln die zweckmäßigste und schleunigste Unterstützung der bedrängten Griechen.“
Am Sonntagvormittag mussten die Führungsleute der LSAP im Mamer Kulturzentrum Kinneksbond einer nach dem anderen ans Rednerpult treten, um den Philhellenismus in den eigenen Reihen zu bekämpfen. Ihren besorgten Appellen nicht an das Herz sondern an die Geldbörse der Delegierten nach zu urteilen, müssen viele LSAP-Mitglieder heimlich mit den Griechen sympathisieren, die wieder einen Freiheitskampf, diesmal gegen die Schuldenknechtschaft, den deutschen Finanzminister und die Brüsseler Technokraten zu führen scheinen. Denn so wie vor 200 Jahren in der Sympathie für den griechischen Freiheitskampf auch die Sehnsucht nach dem Ende der Despotie hierzulande mitschwang, so meinte auch der ehemalige FNCTTFEL-Präsident Nico Wennmacher am Sonntag: „Viele Leute in Europa verbinden mit einem möglichen Erfolg der Griechen die Hoffnung auf ein Ende der Austerität, der Liberalisierungen und Privatisierungen in Europa.“
Also musste Vizepremier Etienne Schneider die Delegierten vor übertriebener Solidarität mit den Griechen warnen. Denn falls diese sich weigerten, ihre Schulden zu bezahlen, koste das die Luxemburger Steuerzahler „400 bis 500 Millionen“ Euro. Wer Solidarität üben wolle, müsse laut dem ehemaligen Europaabgeordneten Robert Goebbels auch bedenken, dass Luxemburg im Fall einer griechischen Zahlungsunfähigkeit mit „315 Millionen“ Bürgschaften in der Kreide stehe. Parteipräsident Claude Haagen meinte, dass der Rechtsstaat für jeden gelte und man deshalb nicht in Populismus fallen dürfe wie die griechische Regierung. Generalsekretär Yves Cruchten warf dem griechischen Linksbündnis Syriza vor, viel versprochen und nichts gehalten zu haben, während die LSAP „für realistische Politik steht und die Leute nicht betrügt“.
Nur der populäre Jean Asselborn wusste wieder einmal einem großen Teil der schweigenden LSAP-Basis aus dem Herzen zu sprechen, wie sie da nach Lokalsektion geordnet an den langen Tischen saßen, die schallend lachenden Matronen aus den Arbeitergemeinden im Süden, ihre bescheidenen, schon etwas müden Männer, die ein Leben lang der Partei die Treue hielten, mit ihrer roten Rose im Knopfloch, die strebsamen, in modische Halstücher gewickelten jungen Frauen und die fußballbegeisterten Gemeindearbeiter. Asselborn brachte Verständnis für ihre Großzügigkeit auf und dafür, dass die Griechen sich nicht länger mit ihrer „sozial katastrophalen Lage“ abfinden wollen, an der er sich als langjähriger Außenminister „mitschuldig“ fühle.
Dass der LSAP-Kongress in dem mattschwarzen, diskret holzvertäfelten Festsaal des 20 Millionen Euro teuren Kulturzentrums immer wieder auf das überschuldete Griechenland zu sprechen kam, war mehr als eine Anekdote, drückte mehr als die Angst aus, bei einem Erfolg von Syriza LSAP-Wähler an déi Lénk zu verlieren. Denn der Widerspruch zwischen der Solidarität mit den armen Griechen einerseits und mit dem Triple-A-Finanzplatz andererseits steht als Frage, wie sich sozialdemokratische Ideale und Realpolitik vereinen lassen, im Mittelpunkt des Positionspapiers Krise und Aufbruch der LSAP, das die Fondation Robert Krieps nach dem Fiasko bei den Europawahlen verfasste (19.12.14).
Doch darüber, was nun aus diesem Papier werden soll, das den seit Jahrzehnten chronischen Wählerverlust umkehren soll und für eine linksliberale Modernisiererpartei mit Herz wirbt, war man sich auch nicht ganz einig. Der noch etwas neue Parteipräsident Claude Haagen kehrte den Studienrat heraus und kündigte das Ende der Pause im Schulhof an: Die Partei habe „nun die Analyse abgeschlossen und Schlussfolgerungen gezogen“, man habe sich „sechs bis sieben Monate Zeit genommen, um unsere Probleme zu betrachten“, doch „die Probleme des Landes gehen vor“.
Generalsekretär Yves Cruchten sah dagegen den „internen Reformprozess“ noch nicht abgeschlossen, da die LSAP sich nächstes Jahr „ganz neue Statuten“ geben wolle. Vielleicht zusammen mit einem zwischen kurzfristigem Wahlprogramm und langfristiger Grundsatzerklärung anzusiedelnden „sozialistischen Leitfaden“, der „den Bürgern zeigen soll, wo die Reise hingeht mit der LSAP in 15 oder 20 Jahren“. Der Leitfaden muss dann das Missing Link zwischen Idealen und Realpolitik werden, nach dem die Sozialdemokratie seit einem Jahrhundert sucht und die verhassten „Rambos“, so ein Sprecher, von Syriza inzwischen auch.
Denn Diskutieren ist schön und gut, aber das geht rasch auf Kosten der Parteidisziplin. „Militante können nicht Aussagen machen, die konträr zum Wahlprogramm sind“, man müsse sich vertrauen und geschlossen auftreten, forderte Claude Haagen. Yves Cruchten beschwerte sich über „feige und faule Beschuldigungen Einzelner, die ihr Wahlergebnis nicht verdaut haben“. Doch jeder, der eine Funktion ausübe, vertrete die Partei und spreche im Namen aller. Wenn etwas von der Partei beschlossen worden sei, könne man nicht hinausgehen und das Gegenteil behaupten. Im Visier waren verschiedene Mandatsträger, vom Präsidenten der Dippacher Parteisektion, Gemeinderat Philippe Meyers, der eine Petition gegen Frauenquoten in Umlauf brachte, über Sozialisten, die sich auf Facebook gegen das Ausländerwahlrecht auslassen, bis zum Abgeordneten Franz Fayot, der für eine Erbschaftssteuer in direkter Linie wirbt.
Da konnte sich die linke Escher Bürgermeisterin Vera Spautz nur wundern, dass der Parteitag zwar unter dem Willy-Brandt-Motto „Mehr Demokratie wagen“ stand, dies aber offensichtlich nicht innerhalb der Partei gelten soll. Andernfalls hätte wohl eine Diskussion in der LSAP stattfinden müssen, bevor sie sich zugunsten von TTIP und anderen Freihandelsabkommen festgelegt hätte. Andere Sprecher kritisierten auch die geplante Fusion von Religions- und Werteunterricht in den Schulen, die einseitig das Erzbistum bevorzuge. Von rechts kamen Einwände gegen das „Ja“ beim Referendum zum legislativen Ausländerwahlrecht und Änderungsanträge zur Tagesresolution beim Punkt Frauenquoten. Die Parteiführung taktierte schlitzohrig und meinte bald, die Einwände kämen zu früh, weil noch kein Konzept vorliege, bald, sie kämen zu spät, weil das Wahlprogramm oder das Referendumsgesetz das schon alles vorgesehen hätten. Bei den Abstimmungen ließen sich die rote Delegiertenkarten, die zugunsten der Kritiker in die Höhe gestreckt wurden, jeweils an einer Hand abzählen.
So fand auch keine weitere Debatte über den geplanten Höhepunkt des Kongresses statt, ein Vortrag von Fraktionssprecher Alex Bodry über die Verfassungsreform, in deren Rahmen das Referendum vom 7. Juni stattfindet. Gefolgt von zwei mehr oder weniger geschickten Plädoyers von Simone Adam und Jimmy Skenderovic für das legislative Ausländerwahlrecht und die Senkung des Wahlalters. Keine der drei Fragen sei schon entschieden, warnte Alex Bodry, entscheidend sei nun die Debatte während der kommenden zweieinhalb Monate, an der sich alle Sozialisten beteiligen müssten. Dann wurde ein Antrag der Sozialistischen Frauen, die Begrenzung der Mandatsdauer von Regierungsmitgliedern strenger zu handhaben, von der Parteiführung abgelehnt, weil die mit DP und Grünen abgemachten Referendumsfragen schon Gesetz seien und so nur Verwirrung entstünde.
Auf diese Weise schob die Partei drei Monate nach der Erhöhung der Mehrwertsteuer und einem neuen Sparpaket auch die soziale Frage auf, die immer den Geschäftsfundus der LSAP darstellte. Nachdem man dekretiert hatte, dass das verfügbare Einkomme der Haushalte hierzulande in Ordnung sei, aber zu sehr von den Wohnkosten belastet werde, klagte der LSAP-Präsident, dass „unsere Ungeduld ständig größer wird“, weil DP-Wohnungsbauministerin Maggy Nagel „nicht umsetzt“, obwohl „die Leute große Erwartungen an diese Regierung und diese Ministerin“ hätten. Dabei zeige sich in Frankreich mit dem Anschlag auf Charlie hebdo, wozu die gesellschaftliche Spaltung führe, die auch durch einen Mangel an erschwinglichem Wohnraum entstehen könne. Cruchten machte Ministerin Nagel dafür verantwortlich, dass der Entwurf über Mietzuschüsse seit über einem Jahr darauf warte, umgesetzt zu werden.
Den anderen Teil der sozialen Frage schob die Partei auf die für übernächstes Jahr angekündigte Steuerreform ab, wenn die LSAP mit ihrer Forderung nach einer Reichensteuer politisches Profil im Wahlkampf zeigen will. Präsident Haagen begann schon, das Terrain vorzubereiten für den Preis, den die Partei ihren Koalitionspartnern für einen neuen Spitzensteuersatz der Einkommensteuer zahlen muss: Angesichts des hohen „realen Steuersatzes“ sage man unter Berücksichtigung der Besteuerungsgrundlage „Ja zu einer Flat Rate“ bei der Körperschaftssteuer, wenn dadurch die Unternehmer nicht weniger Steuern zahlten und eben der Spitzensteuersatz geändert werde. Es gebe halt keine Tabuthemen und man müsse alles intern diskutieren, meinte er, um dann klarzustellen, dass eine Erbschaftssteuer in direkter Linie „zur Zeit nicht zur Debatte und nicht im Wahlprogramm steht“.