„Es ging immer wieder die Rede vom CSV-Staat. Aber wenn es etwas wie den CSV-Staat gab, dann gab es auch eine Staats-CSV“, meinte Marc Thewes. Eine Partei, deren Kurs „zum Schluss exklusiv von den Regierungsmitgliedern“ bestimmt worden sei, wo die Parteimitglieder die Positionen der CSV „aus der Presse und den Kongressreden“ ihrer Minister erfahren hätten, während die Regierungsmitglieder die Stellungnahmen ihrer Partei ignorierten. Aber das war auch „ein erfolgreiches Modell, das niemand richtig beanstandete“.
Doch nun regiert die Staats-CSV nicht mehr den CSV-Staat, und der so erfolgreiche Machtapparat dreht im Leerlauf. Dadurch entsteht in seinem Innern Druck. Druck hatte sich zuvor schon aufgebaut, weil Jean-Claude Juncker und die Seinen sich so lange geweigert hatten, den ungeduldigen Nachwuchspolitikern Platz zu machen. Daran war Kronprinz Luc Frieden verzweifelt, und am Ende scheiterte sogar Geheimdienstchef Jean-Claude Juncker daran.
Um Druck abzulassen, hatte die Parteileitung den Nationalkongress vor einem Jahr eine Resolution verabschieden lassen, in der sie versprach, was jede Parteiführung ihren Truppen in einem Augenblick der Ratlosigkeit, sogar die SED in den letzten Tagen der DDR, so zugesteht: mehr auf die Mitglieder zu hören, mehr Versammlungen, mehr Internet. Die derzeitige Reformdebatte in der CSV dreht sich weniger um politische Standpunkte in der Luxemburger Gesellschaft, als um die interne Organisation der Partei. Es ist die Stunde der Vereinsmeier.
Der 47-jährige Rechtsanwalt Marc Thewes, der sich vor einiger Zeit aus der aktiven Parteipolitik zurückgezogen hatte, ist einer, der den Auftrag bekommen hatte, etwas Druck abzulassen. Der andere ist der fast gleichaltrige, vor zwei Jahren geschasste Chefredakteur des Luxemburger Wort, Marc Glesener. Nach dem Fiasko bei den Kammerwahlen sollten die beiden, wie die Fondation Robert Krieps nach dem LSAP-Fiasko bei den Europawahlen (d’Land, 19.12.14.), Ernst and Young und KPMG spielen und ein internes Audit ihrer Partei erstellen. Doch Marc Thewes wusste bei der Vorstellung vor drei Wochen, dass „der Deckel auch wieder einmal draufkommen muss“, wenn genügend Druck abgelassen ist.
Damit der Deckel wieder draufkommt, hatten Marc Thewes und Marc Glesener mit Vorstandsleuten der christlich-sozialen Frauen, Jugend, Senioren, Gemeinderäte und Einwanderer sowie unzufriedenen Parteimitgliedern geredet, die sich in Briefen an die Partei oder die Presse über den Wahlausgang beschwerten. Die Zusammenfassung dieser Gespräche soll „ein Stimmungsbild der ganzen Partei“ darstellen, das nun als Broschüre unter dem Titel Perspektiven für eine moderne und lebendige Volkspartei. Reformpisten für die CSV vorliegt.
Weder die Parteiführung noch das Gros der CSV-Mitglieder glaubt allerdings, dass die Partei in einer Krise steckt. Womit sie sicher nicht ganz Unrecht haben. Denn seit die Parteiführung nach dem Sturz von Jean-Claude Juncker die Losung ausgab, dass die Partei nicht richtig die Wahlen verlor, sondern bloß bei der Regierungsbildung von der Konkurrenz ausgetrickst worden war, brauchte sie weder die Schuld noch die Schuldigen bei sich selbst zu suchen. Endgültig vermieden werden konnte die Krise aber dadurch, dass es Jean-Claude Juncker doch noch gelang, EU-Kommissionspräsident zu werden. Folglich gebe es unter den Mitgliedern kaum direkte Kritik an seiner Person, schreiben Marc Thewes und Marc Glesener, und wenn doch, werde sie gleich mit der Bemerkung relativiert, wie „viel er für uns und für das Land geleistet“ habe (S. 13). Was die Wähler davon halten, wollte die CSV mit einer Meinungsumfrage herausfinden, deren Ergebnisse nächste Woche veröffentlicht werden.
Wenn die Parteileitung trotzdem „Reformpisten“ in Auftrag gab, dann weil durch den Verlust der Regierungsbeteiligung ein Machtvakuum entstanden ist. Jene, die laut Marc Thewes in der Presse und in Kongressreden den Ton angaben, haben sich aus dem Staub gemacht: Jean-Claude Juncker zur Europäischen Kommission in Brüssel, Luc Frieden zur Deutschen Bank in London. Ein Machtvakuum in einer Partei macht einzelnen Mitgliedern Mut, wenn schon nicht nach Personen, so dann wenigstens nach der Funktionsweise ihrer verwaisten Partei zu fragen. Also organisierte die Parteiführung die Diskussion lieber selbst, um die Kontrolle darüber zu behalten.
Denn es war der CSV vor einem Jahr gelungen, eine interne Krise zu vermeiden und mit der Präsentation des manierlichen Claude Wiseler als provisorischen Spitzenkandidaten für 2018 und der Wahl von Marc Spautz zum neuen Mann fürs Grobe den erfolgreichen Machtapparat für die Reconquista vorzubereiten. Das will man sich jetzt nicht wieder durch eine in alle Richtungen schießende Reformdebatte einiger Hitzköpfe kaputt machen lassen.
Organisiertere Kritik an der Funktionsweise der Partei kommt vor allem aus der Christlich-sozialen
Jugend (CSJ), der Kaderschmiede, die wie immer verlangt, dass die Alten den Jungen Platz machen müssen. Sie hatte für den Nationalkongress vor einem Jahr eine lange Resolution ausgearbeitet, welche die Parteiführung kurzerhand in ihre eigene Resolution einbaute.
Daneben versuchen einige Dutzend Mitglieder, die sich nach dem Vorbild der deutschen Liberalen Dreikönigsgruppe nennen, über den Umweg der Medien von außen Druck auf die Parteiführung auszuüben. Der Ursprung dieser Gruppe liegt in dem sehr konservativen Nordbezirk der Partei. Ihre nicht selten gläubigen Mitglieder waren oft zuvor in der CSJ und arbeiten vorwiegend in Sozial- und erzieherischen Berufen, wenn sie nicht Theologen sind. Aber auch der Jungabgeordnete Serge Wilmes und der kurzzeitige beigeordnete Generalsekretär Pierre Lorang zählen zu ihnen. Bei ihrem diesjährigen Dreikönigstreffen im Luxlait-Vitarium bei Mersch stellten sie am 10. Januar ein Buch vor, das wohl nicht zufällig C wéi de Choix heißt, wie die vom Erzbistum unterstützte Bewegung Fir de Choix zur Verteidigung des Religionsunterrichts in den öffentlichen Schulen. Die in dem Buch enthaltenen „Chrëschtlech-sozial Perspektiven op Politik, Gesellschaft a Partei“ sind vor allem auf traditionelle CSV-Themen, wie Religion, Familie und eine eher karitative Sozialpolitik, gerichtet. Die meisten Autoren verteidigen mit dem liberalen Prinzip der Wahlfreiheit den Anspruch, dass der Staat und die liberale Regierung weiterhin auch konservative Erziehungs- und Familienmodelle unterstützen. Parteiintern macht sich die Gruppe für eine größere Einbeziehung ihrerselbst und der anderen Mitglieder bei der Festlegung politischer Positionen und der Wahl der Mandatsträger und Kandidaten stark. Da dies aber auch in den Reformpisten der Parteileitung vorgeschlagen wird, läuft diese Kritik nun ins Leere.
Denn vor 14 Tagen fasste der Nationalrat der CSV einen Beschluss unter dem Titel der bei Parteipräsident Marc Spautz beliebten Losung „voir, juger, agir“ des belgischen Arbeiterpriesters Joseph Cardijn. Darin werden die von Marc Thewes und Marc Glesener aufgezählten Reformpisten implizit gutgeheißen und kurz in der Partei zur Diskussion gestellt. Der Nationalvorstand soll dann für den Nationalkongress am 28. März ein Aktionsprogramm vorbereiten, wie die Reformpisten in die Tat umgesetzt werden sollen.
Läuft das alles wie geplant, soll die Reform der CSV darauf hinauslaufen, dass sie erstens stärker für ihre laut Marc Thewes und Marc Glesener selbst unter der Mitgliedern kaum bekannten Grundsätze wirbt und so ihr politisches Profil gegenüber anderen Parteien schärft. Mangels hilfreicher Ministerialbürokratie sollen zweitens nun verstärkt die Kompetenzen der Mitglieder in Arbeitsgruppen und Fachtagungen gebündelt werden, um politische Standpunkte auszuarbeiten. Und schließlich sollen drittens die Parteistrukturen demokratisiert werden, um die Mitglieder an den programmatischen und personellen Entscheidungen der Parteiführung zu beteiligen – zumindest so lange, bis die Staats-CSV wieder den CSV-Staat regieren darf.
Das entspricht zu einem wesentlichen Teil dem, was auch parteiinterne Kritiker fordern. Trotzdem fühlen diese sich nicht bestätigt, sondern überrollt: „Wir sollen den Reformprozess nicht schon auf dem Nationalkongress abschließen“, meinte Serge Wilmes auf dem Treffen bei Mersch. Aber obwohl sich keiner bei dem entscheidenden Nationalkongress nach der Wahlniederlage getraut hatte, gegen Marc Spautz zu kandidieren, ist den diskussionsfreudigen, konservativen Kritikern aus dem Norden der Parteipräsident ein Dorn im Auge, ein wenig diskussionsfreudiger ehemaliger Gewerkschafter aus dem Südbezirk und Überbleibsel der Juncker-Ära. Volkspartei ist schön und gut, aber laut Marc Thewes und Marc Glesener beklagten auch „mittelständische und selbstständige Mitglieder“, dass die CSV „zu stark auf den Arbeitnehmer ausgerichtet“ sei. (S. 12). Spautz klagt, dass er nicht überall in der Partei akzeptiert werde, weil es ihm an einem Hochschulabschluss mangele.
Denn selbstverständlich geht es auch um die Nachfolge Jean-Claude Junckers. Laut Marc Thewes und Marc Glesener wünsche sich „eine klare Mehrheit“ der Mitglieder, „auch in Zukunft von einer herausragenden Führungspersönlichkeit angeführt“ zu werden. Wie der Spitzenkandidat und meist dann auch Landesvater bestimmt werden soll, darüber gehen die Meinungen auseinander. Er müsse sich „bestenfalls von selbst herausstellen“, das heißt nach dem Recht des Stärkeren hinter den Kulissen, so die für die Reformpisten befragten Mitglieder. Die Dreikönigsgruppe verlangt dagegen eine Urabstimmung in der Partei, die den Auftsieg Claude Wiselers zum definitiven Spitzenkandidaten behindern könnte.
Doch hinter der Person, die 2018 die Nachfolge Jean-Claude Junckers antreten soll, verbirgt sich die weit wichtigere und deshalb von allen Seiten sorgsam verschwiegene Frage über die politische Ausrichtung, welche der „Leader“ zu verkörpern hat. Der rechtsliberale, unternehmerfreundliche Flügel der Partei hatte sich von dem lang erwarteten Abgang des bekennenden Arbeitersohns und Herzjesu-Marxisten Juncker ein klareres Aggiornamento in Richtung Neoliberalismus erhofft, als einer Volkspartei gut tut. Doch nach dem Abgang Luc Friedens scheint ein solcher Kandidat einstweilen nicht verfügbar und auf der landespolitischen Bühne ist die Rolle bereits mit den Bettel, Schneider und Gramegna besetzt.
Sowieso hat die Partei nun ganz andere Sorgen als die Juncker-Nachfolge, ihre Reformpisten und ihre Dreikönigssinger. Denn am meisten schmerzt Letzterer Vorwurf, die Parteiführung habe einen schweren Fehler begangen, als sie im Herbst ohne parteiinterne Diskussion beschloss, viermal Nein zu den von der Regierung vorgeschlagenen Fragen für das Referendum vom kommenden 7. Juni zu sagen. Inzwischen zeigt sich nämlich, dass die CSV sich mit dieser Trotzhaltung zuerst ins Abseits manövriert hatte und dann erneut von der Regierung hereinlegen ließ.
Die Partei, die noch Ende vergangenen Jahres Nein zur Frage sagte, ob der Verfassungsartikel über die staatliche Finanzierung der Priestergehälter gestrichen werden soll, stimmte vergangene Woche im Parlament eine Resolution mit der Aufforderung „de ne pas reprendre l’article 106 actuel de la Constitution dans le corps du texte de la proposition de révision de la Constitution (doc. parl. 6030) “. Selbst CSV-Wähler, die bereit wären, diesen Meinungswechsel gutzuheißen, dürften schon daran scheitern, ihn auch nur zu verstehen.
Denn nachdem DP, LSAP und Grüne die CSV samt Großherzog schon bei der Regierungsbildung im Oktober 2013 ausgetrickst hatten, ist es ihnen nun mit der Konvention zwischen Staat und Religionsgemeinschaften erneut gelungen. Mit dem angekündigten Referendum setzten sie das Erzbistum unter Druck, eine Konvention über die Priestergehälter, die Kirchenfabriken und den Religionsunterricht zu unterzeichnen, welche die CSV sprachlos lässt: Als Oppositionspartei will sie nicht für die Konvention sein, aber sie kann auch nicht richtig dagegen sein, wenn der Erzbischof damit einverstanden ist. Jede Kritik an der Konvention schafft den Eindruck, als ob die Partei heiliger als der Papst sein möchte, wo sie doch seit Jahren vom Image der alten klerikalen Partei loskommen möchte. Und das war nur eine der vier geplanten Fragen des Referendums.