Vierundzwanzig Stunden nachdem beim Referendum vom 7. Juni eine überwältigende Mehrheit der Wahlberechtigten eine Ausweitung des Ausländerwahlrechts, eine Senkung des Wahlalters und eine Befristung der Regierungsmandate abgelehnt hatte, rief Flavio Menei aus Ötringen die Internetseite des Parlaments auf. Er füllte das Formular aus, mit dem öffentliche Petitionen gestartet werden können, und meldete, dass er Unterschriften sammeln wollte, damit „e Referendum fir Regierungsneiwahlen“ organisiert würde.
Der Mann war vorsichtig und stellte sich das alles möglichst demokratisch und kompliziert vor: Zuerst wollte er Unterschriften sammeln, damit ein Referendum organisiert würde. Sollte die verlangte Volksbefragung dann tatsächlich stattfinden, würden die Wähler gefragt, ob sie Neuwahlen wollten. Stimmte eine Mehrheit der Wähler mit Ja, sollte dann zu Neuwahlen aufgerufen werden, um eine neue Regierung zu wählen. Eine neue Regierung, welche nach zwei Jahren die Koalition aus DP, LSAP und Grünen vorzeitig beenden und wieder zu für geordnet gehaltenen Verhältnissen zurückkehren sollte.
Viel hatte sich der Mann bis dahin nicht mit Politik beschäftigt. Sonst hätte er auch gewusst, dass bei Legislativwahlen gar keine Regierung, sondern ein Parlament gewählt wird – findet sich in diesem Parlament eine Mehrheit, stellt diese die Regierung. Der von dem Oppositionsabgeordneten Marco Schank (CSV) geleitete parlamentarische Petitionsausschuss legte dem Antragsteller deshalb nahe, den Wortlaut seiner Petition zu ändern, so dass im endgültigen Text die Wähler bei einem Referendum nicht über „Regierungsneiwahlen“, sondern darüber entscheiden sollten, „ob si Neiwahlen wëllen oder net“.
Der Petitionsausschuss begutachtete den Petitionsantrag am 15. Juni positiv, so dass die parlamentarische Konferenz der Fraktionspräsidenten am 3. Juli dem Antrag endgültig stattgab. Fünf Tage später ließ Kammerpräsident Mars Di Bartolomeo (LSAP) dann die gute Nachricht nach Ötringen schicken: Vom 8. Juli bis 19. August könne die Petition im Internet unterzeichnet werden. Dem Brief beigefügt war ein Formular, mit dem zusätzliche Unterschriften auf Papier gesammelt werden konnten, wie es das Parlament seit dem 1. Juni erlaubt.
In der Begründung der Unterschriftensammlung hieß es, dass bei den vorgezogenen Wahlen 2013 „e kloere Vote“ abgegeben worden sei, der allerdings „net respektéiert gouf“, so dass das Land von „net gewollten Dreier-Koalitiounen“ regiert werde. Das Referendum habe nun deutlich gemacht, dass „déi meescht Leit mëttlerweil ganz onzefridde mat der Regierung sinn“.
Solange es die Koalition von DP, LSAP und Grünen gibt, stricken rechte Kreise an der schwarzen Legende, dass sie durch den Ausschluss der CSV illegitim sei. Mit ihrem ungeschickten Referendum und dessen für sie verheerendem Ausgang hat die Regierung das Ihre dazu beigetragen, diesen Verschwörungsgerüchten neue Nahrung zu verleihen. Laut den alle sechs Monate im Tageblatt veröffentlichten Meinungsumfragen würde die Koalition seit dem Frühjahr vergangenen Jahres bei Wahlen keine Mehrheit mehr zusammenbekommen.
Am Wahlsonntag waren deshalb noch nicht einmal alle Wahlzettel ausgezählt, als sich der für seine robusten Umgangsformen bekannte CSV-Abgeordnete und ehemalige Parteipräsident Michel Wolter über Twitter ereiferte: „Wann den Här Bettel Éieregefill huet an de Wellen vum Vollek respektéiert dann presentéiert hien nach den Owend seng perséinlech Démissioun.“ Die CSV ging dann allerdings zu einer vorsichtigeren Wortwahl über und formulierte ihre Rücktrittsforderung lieber indirekt: Fraktionssprecher Claude Wiseler suggerierte in der Rolle des schwarzen Schattenpremiers, er wüsste sehr wohl, was er zu tun hätte, falls er sich in der Lage des Premierministers befände. Marc Spautz meinte, wenn die CSV in der Regierung gewesen wäre, hätte er ihr als Parteipräsident den Rücktritt der Regierung vorgeschlagen. Allerdings schien die CSV schon vergessen zu haben, wie sie 2013 mit Spitzfindigkeiten den Rücktritt ihrer Regierung zu leugnen versuchte und danach monatelang behauptet hatte, die Wahlen gewonnen zu haben.
Die CSV formulierte ihre Rücktrittsforderungen so vorsichtig, weil sie sich keine Illusionen über den Ausgang einer Vertrauensabstimmung im Parlament machte. Denn anders als in der linksliberalen Koalition der Siebzigerjahre kann sie noch keinen Jean Gremling oder Alain Schaack im Mehrheitslager entdecken. Deshalb gab sie sich staatsmännisch zurückhaltend und erinnerte sich daran, dass die politische Stabilität als wichtiger Standortvorteil beim Nation Branding gilt.
Die ADR tat es der CSV nach: Zwei Tage nach dem Referendum betonte Gast Gibéryen vor dem Parlament: „Mir hu kee Récktrëtt verlaangt.“ Aber wenn seine Partei eine solche Abfuhr durch die Wähler erlitten hätte, „da wiere mer bei de Grand-Duc gaangen a mir hätten eis Demission agereecht“.
Um den Rücktritt Xavier Bettels als einzige ehrenhafte Reaktion darzustellen, zitierte CSV-Präsident Marc Spautz den ehemaligen Premierminister der Rechtspartei, Joseph Bech, als Vorbild für den politisch korrekten Umgang mit einem gescheiterten Referendum. Als dessen Maulkorbgesetz 1937 bei einem Referendum knapp verworfen worden war, blieb die Koalition von Rechtspartei und Liberalen allerdings an der Macht und erweiterte die Regierung um zwei sozialistische Minister; die rechten Joseph Bech und Pierre Dupong tauschten bloß den Regierungsvorsitz. So als würden heute DP, LSAP und Grüne einige CSV-Minister hinzunehmen und Xavier Bettel und Claude Meisch die Ämter tauschten.
Doch auch der ehemalige LSAP-Fraktionssprecher Ben Fayot meinte vergangene Woche gegenüber dem Luxemburger Wort: „Die Regierung hat sich beim Referendum verhalten, als ob es sich um eine Meinungsumfrage gehandelt hätte. Das ist ein wenig die Geisteshaltung der 30- bis 40-Jährigen. [...] Politik hat nun mal nichts mit Facebook und Likes zu tun. Nach der Volksbefragung hätte sich die Politik auch ernsthafter mit den Konsequenzen auseinandersetzen müssen.“
Da sämtliche Fragen des Referendums zu rund 80 Prozent abgelehnt wurden, machte sich die Überzeugung breit, dass 80 Prozent der Wähler mit den Regierungsvorschlägen auch die Regierung ablehnten, so dass diese in die Minderheit versetzt wurde. Somit bestärken die direkten und indirekten Rücktrittsforderungen nur die Kritiken an der demokratischen und moralischen Legitimation der Regierung, wie sie schon vor zwei Jahren, teilweise von den gleichen Leuten, vorgebracht worden waren.
Denn es war wieder der damalige CSV-Präsident Michel Wolter, der schon in der Woche nach den Kammerwahlen 2013 die Koalition aus DP, LSAP und Grünen einen „Bedrug un de Wieler“ nannte, ein bereits vor den Wahlen abgekartetes Spiel, das zu einem schweigenden Einverständnis geführt habe, noch bevor der Großherzog seine Konsultationen begonnen hatte. Deshalb herrsche in „breeden Deeler vun der Bevölkerung en richteg Roserei“, denn „d’Leit wollten eng Koalitioun vun der CSV mat der DP“.
Somit war die Legitimation der Koalition bereits vor der Regierungsbildung angezweifelt, auch als rechte Revanche auf den Sturz Jean-Claude Junckers wenige Monate zuvor. Seither regiert zum ersten Mal seit 34 Jahren und zum dritten Mal innerhalb eines Jahrhunderts eine Koalition ohne Beteiligung der CSV. Die wiederholten Zweifel an ihrer demokratischen und moralischen Legitimation scheinen jedenfalls nicht nur auf die Stimmenzahlen und Meinungsumfragen zurückzugehen, sondern eine tiefer gehende Überzeugung rechter Kreise auszurücken: dass im CSV-Staat eine Regierung ohne CSV illegitim oder zumindest unanständig ist, einen Haufen antiklerikaler Putschisten, Usurpatoren und Thronräuber darstellt.
Danach wäre die liberale Reformkoalition, die die Fenster weit aufreißen und den CSV-Staat ausmisten wollte, aufgrund ihres ungestümen Wunsches nach Veränderung und mangels eines CSV-Premiers keine vollwertige Regierung, sondern lediglich ein Experiment, das bereits gescheitert sei. Die vorgezogenen Wahlen nach dem Sturz Jean-Claude Junckers verdeutlichten zudem einer ganzen in der lähmenden Stabilität des CSV-Staats groß gewordenen Generation, dass es eine Alternative dazu gibt, alle fünf Jahre geduldig auf den nächsten Wahltermin zu warten.
Glaubt man allerdings den Meinungsumfragen – was man nach den Vorhersagen über das Ergebnis des Referendums nicht unbedingt tun sollte –, so gibt es keine Mehrheit in der Bevölkerung, die den Rücktritt der Regierung wünscht: In der Woche nach dem Referendum hatten das Luxemburger Wort und RTL bei TNS Ilres eine Meinungsumfrage gekauft, laut der bloß ein Viertel der Befragten den Rücktritt der Regierung verlangte. 18 Prozent wollten den Rücktritt und anschließende Neuwahlen, weitere neun Prozent forderten eine Regierungsumbildung ohne Neuwahlen.
Deshalb hatte der ehemalige Kammerpräsident Laurent Mosar (CSV) vielleicht seinen Wunsch für Wirklichkeit gehalten, als er zur Unterschriftensammlung für Neuwahlen L’Essentiel anvertraute: „Je pense qu’elle va facilement obtenir toutes les signatures.“ Damit meinte er die magische Zahl von 4 500 Unterschriften, die laut Kammerreglement vorgeschrieben ist, um eine öffentliche Anhörung des Initiators im Petitions- sowie in diesem Fall im Ausschuss der Institutionen und Verfassungsrevision zu erlauben.
Doch Laurent Mosar sollte sich irren. Bis zum Mittwoch dieser Woche um Mitternacht, dem letzten Tag, an dem sie auflag, kam die Petition für ein Referendum zugunsten von Neuwahlen lediglich auf 3 293 elektronische Unterschriften, so dass der parlamentarische Petitionsausschuss sie nun zu den Akten legen dürfte. Die ähnliche Petition des Initiators einer sehr rechten Biergerpartei, Daniel Rinck, liegt noch bis nächste Woche auf und kam bisher auf 1 200 Unterschriften.