Kaum ein Auto verkehrt auf Dijabarkirs staubigen Boulevards. Kein Café, kein Schuhladen, kein Büro ist an diesem Werktag im Südosten des Landes geöffnet. Wie verlassen liegt die größte kurdische Stadt der Türkei da. Doch es ist kein hoher religiöser Feiertag, der die Menschen vielleicht im Müßiggang zu Hause hält, es ist auch kein ehrwürdiger Imam, der sie alle in die Moscheen gerufen hätte. Es ist die hier mächtige PKK, die demonstrativ Stillstand verordnet hat.
Ein Gefühl von Verbitterung und Hass liegt in der Luft. Sieben Leichen von PKK-Kämpfern sollen an diesem Tag im Mai würdig beigesetzt werden. Der Begräbniszug ist, soviel ist allen klar, ein Anklagemarsch gegen den türkischen Staat und seine Militärs. Deren Gewaltaktionen an der türkisch-irakischen Grenze Ende April waren der letzte Auslöser für eine bis dahin beispiellose Protestwelle. Die Angehörigen hatten lange um die Freigabe der Leichen kämpfen müssen. Einer Demütigung war gleich die nächste gefolgt.
Offiziell hatte die kurdische Partei BDP zu der dreitägigen Trauer für insgesamt zwölf von der Armee getötete PKKler aufgerufen. Hier sprechen alle nur von „der Organisa-tion“ und meinen die zur Terrorgruppe erklärte PKK. Die ist hier in dieser Region die tonangebende Kraft.
Zwangsläufig, wie der Apotheker Mehmet Kaya. Er gehört zu den Honoratioren der Stadt und leitet das kommunale Forschungszentrum Tigris. Er und seine wenigen Mitstreiter setzen sich beharrlich für eine friedliche Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat ein. Kaya ist kein Freund der PKK und verurteilt deren Methoden. „Aber unsere Jugend ist so verbittert, so radikalisiert, die wollen alle wieder kämpfen, weil sie keinen Ausweg sehen.“
Selbst sein eigener Sohn, der Jura-student, ist dem Vater in die Radikalität entglitten. „Ich kann ihn und all die anderen Jungen nicht davon abhalten“, sagt Kaya besorgt. Und: „Wenn meine Generation weg ist, wird niemand mehr für einen zivilgesellschaftlichen Dialog da sein.“
Frauen mit Kindern, Männer mit Protestplakaten hasten in die Innenstadt. Bald ertönen Polizeisirenen, Straßen werden blockiert und eine Weile später kreisen Kampfhubschrauber der türkischen Armee über der Stadt. Passanten sind nervös: „Gehen Sie nicht dorthin, es ist alles möglich, es kann eskalieren“, warnen sie. Ein paar Stunden später: Rauchwolken steigen gen Himmel auf, ein paar Autos brennen, niemand wurde verletzt, flüchtige Erleichterung macht sich breit. Über hundertausend waren an diesem Tag gekommen, zur größten Protestkundgebung seit Jahren. Manche meinen, ein Bürgerkrieg sei nicht mehr unwahrscheinlich.
Dass die Stimmung nicht nur im Südosten der Türkei so aufgeheizt ist wie schon seit Jahren nicht mehr, liegt daran, dass am 12. Juni in der Türkei Parlamentswahlen stattfinden sollen. Für Polarisierung sorgen die zunehmende Islamisierung, die geplante Verabschiedung einer neuen Verfassung und vor allem die Politik der regierenden AK-Partei und ihres Premiers Tayyip Erdogan selbst.
In den zig Nachrichtenkanälen des türkischen Fernsehen sorgen sich längst Intellektuelle und Kommentatoren rund um die Uhr um die Demokratisierung des Landes, den Schutz der Menschenrechte, die Rechte der Minderheiten. Debattiert werden erhitzt und oft auch resignierend die Frage der nationalen Identität und die Rolle des Islam.
Als Premier Erdogan kürzlich auf Wahlkampftour in die ostanatoli-sche Stadt Van reiste, die überwiegend von Kurden bewohnt wird, ließ sich der ansonsten gern hemdsärmelig und volksnah auftretende Premier von einem Großaufgebot der Armee sichern. Sein Wahlkampf glich dem Auftritt eines Politikers in einem besetzten Land.
Während die Kurden seit Wochen Aktionen des zivilen Ungehorsams unternehmen, um zu erreichen, dass die Regierung in Gespräche mit ihren gewählten kurdischen Vertretern einwilligt, erklärte Erdogan in Van erneut, die kurdische Frage sei erledigt. Jetzt gehe es darum, die wirtschaftliche Situation im Südosten zu verbessern.
Nichts könnte provokanter klingen in den Ohren der größten Minderheit der Türkei. Mit einem erst kürzlich eingeführten kurdischsprachigen Fernsehsender und einigen kurdischen Sprachschulen wollen sich die rund 25 Millionen Kurden nicht abwimmeln lassen. Sie und ihre Vertreter wollen Autonomie, denn die Bevormundung und Unterdrückung aus Ankara reicht ihnen. Sie schnürt ihnen die Kehlen zu.
Dabei hatte die AKP erst guten Willen gezeigt und Schritte in die richtige Richtung unternommen. Doch seit dem Scheitern seiner kurdischen Friedensinitiative im Jahr 2009 setzt Erdogan nun wieder auf Repression: Hunderte politisch aktive Kurden sind angeklagt, zum zivilen Arm der PKK zu gehören. Kurdische Menschenrechtsorganisationen berichten, dass auch zahlreiche Jugendliche in Hochsicherheitstrakten gefangen gehalten werden, unter den geltenden Anti-Terrorgesetzen zu Terroristen erklärt. Alle Bürgermeister kurdischer Orte sind mit Ermittlungen und Anklagen konfrontiert.
Doch der Ministerpräsident und seine AK-Parteifunktionäre spielen mit dem von ihnen angerichteten Chaos ein gefährliches Spiel. Im glitzernden AKP-Hochhaus hinter getönten Scheiben sitzend, sagt in Ankara Erdogans Wahlkampfstratege Haluk Ipek einer Gruppe ausländischer Journalisten mürrisch, dass es um die Pressefreiheit in der Türkei besser bestellt sei als in Europa. Dass es nie einen Völkermord an den Armeniern gegeben habe. Dass die Türkei schließlich auch andere Freunde habe als die Europäer, wie zum Beispiel Russen und Chinesen.
Kalkulierte Arroganz ist der neue Stil in der Parteizentrale. Neun Jahre Macht haben die einst pragmatischen Islamisten der AKP zur selbstherrlichen Regenten werden lassen. Längst ist der einst positive Reformeifer erloschen. Heute geht um Machtausbau mit allen Mitteln. Manche sagen, Erdogan bastele an einer neuen Autokratie. Er wolle sich tief in die Geschichte des Landes einbrennen – ganz so, wie der türkische Übervater Kemal Atatürk, der noch immer von den Wänden jedes Geschäftes, jedes Büros, ja auch von Medaillons streng auf seine Landeskinder blickt.
Ein Präsidialsystem nach französischem Vorbild ist Erdogans Traum. Nach der Wahl will er zu diesem Zweck eine neue Verfassung in Auftrag geben. Um dies durchzusetzen, muss die AKP am 12. Juni eine verfassungsändernde Mehrheit bekommen. Das aber wird dem Premier nur gelingen, wenn er es schafft, nicht nur die Kurden, sondern auch die kleinere der beiden Opposi-tionsparteien, die ultranationalistische MHP, aus dem Parlament zu verdrängen. Mit antikurdischer Rhetorik wirbt der Premier daher gezielt um nationalistische Stimmen.
Auf einer kleinen Dachterrasse in der Istanbuler Innenstadt, einen türkischen Tee trinkend und Simit, Sesamkringel, kauend, erklärt Pakrat Estukian, Redakteur der armenischen Wochenzeitung Agos, dass die AKP dennoch Erfolg bei den Minderheiten und Christen des Landes habe. „Natürlich stört uns der neue nationalistische Ton, aber die anderen Parteien sind auch so drauf und haben dabei nichts zu bieten.“ Obwohl die rund 60 000 Armenier der Türkei nach Genozid und Unterdrückung noch immer keinen guten Stand in der türkischen Gesellschaft haben, sagt Estukian, „werden viele von uns die AKP wählen“.
Denn die Bemühungen der AKP um EU-konforme Reformen haben tatsächlich eine Verbesserung der Religionsfreiheit gebracht. Das sieht ganz im Südosten der Landes, in der Stadt Mardin, auch Pater Ga-briel Akyüz so. Er und seine Familie gehören zu den wenigen Assyrern, der syrisch-orthodoxen Minderheit, die trotz Unterdrückung und Religionsverbot die Türkei nicht verlassen haben. Pater Gabriel ist heute glücklich, dass seine kleine christliche Gemeinde floriert und sogar zum Christentum konvertierte Muslime zu ihren Mitgliedern zählt.
Vor rund 100 Jahren waren die syrisch-orthodoxen Christen, genau wie die christlichen Armenier, vom Osmanischen Reich systematisch vertrieben und auf Todesmärschen vernichtet worden. Die AKP ist zwar keineswegs interessiert an einer Aufarbeitung dieser Geschichte. Dennoch hat sie vor zwei Jahren das Gesetz aufgehoben, unter dem die Besitzungen der christlichen Kirchen und Gemeinden 1936 beschlagnahmt worden waren.
Pater Gabriel, seit 27 Jahren Pfarrer im malerischen Mardin, ist zufrieden: „Jeden Morgen und jeden Abend dürfen wir die Glocken läuten, und ich trage auch auf der Straße mein Kollar.“ Seine Kirchturm ragt, gemeinsam mit zierlichen Sandsteinminaretten, weit über die hier beginnende syrische Ebene. Über die heiklen Themen will er nicht so gerne sprechen. Etwa, dass Konvertiten in der Türkei häufig bedroht werden, und dass die Kinder der Gemeinde nach wie vor in den lokalen Schulen nicht Aramäisch, die Sprache in der schon Jesus predigte, lernen dürfen. Pater Gabriel lacht gerne und viel. Wenn er durch Mardins Basar geht, wird er von allen freundlich gegrüßt. Aber er weiß, wo die unsichtbaren Grenzen verlaufen: „Solange die Religion sich nicht in die Politik einmischt, kann man als Minderheit in der Türkei gut leben“, meint er und lacht.
Das Lachen ist Osman Baydemir, dem Bürgermeister von Dijarbakir, schon vergangen. In exzellentem Englisch referiert der quirlige Politiker, den viele den inoffiziellen Premier der Kurden nennen, die Erfolge seiner Stadt. Er schwärmt von einem Passivhaus, dem ersten der Türkei, von Sozial- und Bildungsprojekten für kurdische Frauen. Von Jobinitiativen für die wirtschaftlich schwer angeschlagene Region. Ein Vierteljahrhundert Bürgerkrieg haben die einst blühende Handelsstadt Dijarbakir zu einem Fluchtpunkt der Vertriebenen und Hoffnungslosen werden lassen. Jede Initiative koste doppelte Anstrengungen, sagt Baydemir, „denn wegen Drucks von oben gibt keine türkische Bank uns noch Kredite“. Wenn in Dijabarkir etwas geht, dann nur mit ausländischer Hilfe.
Wie allen Bürgermeistern kurdischer Orte, drohen auch ihm Ermittlungen und Anklagen, Mitglied oder Unterstützer der PKK zu sein. Baydemir arbeitet vor beständiger Drohkulisse und er ist keineswegs optimistisch, dass die Lage in Ostanatolien sich bald entspannen könnte. Innerhalb seiner Partei, der kurdischen BDP, werde überlegt, sagt er, angesichts der Repression auf eine Teilnahme an den Wahlen am 12. Juni zu verzichten.
Verzichten die Kurden auf eine Teilnahme an der Wahl und scheitern die übrigen Oppositionsparteien an der Zehn-Prozent-Hürde, wird auch diesmal Erdogans AKP die große Siegerin sein. Schon ist Erdogan der mächtigste Regierungschef, den die Türkei seit Einführung des Mehrparteiensystems 1949 je hatte. Aber im Parteihochhaus von Ankara, vor dem die Flaggen mit dem Parteilogo, der Glühbirne, wehen, arbeitet man an mehr: Noch mächtiger zu werden.