Auf dem steilen, kurvigen Weg hoch in die ehemalige britische Sommerfrische ruhen Affen, Ziegen und einige Kühe am staubigen Straßenrand. Die Asphaltpiste nach Dharamsala, die sich die Ausläufer des Himalaya hinauf windet, ist voller Schlaglöcher. Oft trennen nur wenige Zentimeter Erdreich sie vom Abgrund. Kleine weiße Suzuki-Taxen brausen, gekonnt einander ausweichend, hoch und runter zwischen dem was Ortskundige Upper und Lower Dharamsala nennen. Der Ort, den mancher Reiseführer als „Little Lhasa“ anpreist, ist eine bekannte Station auf dem Touringplan der Rucksackreisenden in Indien: Cafés mit Kunst, Restaurants, die Internationales von Porridge bis Pasta offerieren, Yoga-Studios und tibetisches Kunsthandwerk. Auf den engen Straßen schlendern neben traditionell gekleideten tibetischen Hausfrauen auch buddhistische Mönche in karminroten Kutten und zahlreiche westliche Jugendliche mit Dreadlocks und farbenfrohen Schals.
Dharamsala fühlt sich nicht mehr ganz wie Indien an, aber Tibet ist es nicht. Die meisten sind hierher gekommen, um seinem berühmtesten Einwohner, dem Dalai Lama, nahe zu sein. Tenzin Gyatso, wie er als Sterblicher heißt, lebt auf einem von hohen Pinien abgeschirmten Bergvorsprung knapp unterhalb Upper-Dharamsala, von wo er einen freien Blick auf das unten liegende Kangra-Tal, bis hinüber fast nach Pakistan hat.
Der obere Ortsteil heißt offiziell McLeod Ganj, benannt nach dem Offizier des britischen Raj, der auf diesem klimatisch angenehmen Ausblick Mitte des 19. Jahrhunderts eine Garnisonssiedlung errichten ließ. Die britischen Sommergäste, die sich bald scharenweise hier einfanden, waren 1905 schon längst passé, als ein schweres Erdbeben den Ort zerstörte. Dharamsala sank in die Bedeutungslosigkeit, die erst endete, als sich 1960 der aus Tibet geflohene Gottkönig niederließ. Indiens Premier Jawaharlal Nehru hatte ihn nicht in Delhi haben wollen, aus Angst, der Exilant könne seine Chinafreundliche Politik stören. Doch die religiöse Affinität zwischen Tibetern und Indern und die Sympathie, die viele Inder für die von den chinesischen Kommunisten Verfolgten hegten und hegen, ließ die indische Regierung für die bald 80 000 tibetischen Flüchtlinge Land und Siedlungsorte entlang des Himalayasaums und in Südindien hergeben. Offiziell ist bis heute von indischer Seite kein Wort des Unmuts über die jährlich mehr werdenden Tibet-Flüchtlinge zu hören. Heute leben bereits über 100 000 von ihnen als Dauer-Flüchtlinge ohne Staatsangehörigkeit in Indien.
Der junge Dalai Lama zog in die Überbleibsel eines Ashrams, und nach einem Jahrzehnt, als er begriff, dass sein Exil von Dauer sein wird, wurde mit dem Bau von Tempeln, Klöstern und Schulen sowie einem Regierungsviertel begonnen. Die Grenze zu China ist geographisch gesehen nur ein Steinwurf entfernt, markiert von majestätisch Schneebedeckten Gipfeln. Dharamsalaer Fernsehgeräte empfangen das staatliche chinesische TV.
Während am tibetischen Neujahrsabend, der in diesem Jahr auf den 6. März fiel, im chinesischen Staatsfernsehen ein hölzern anmutender Galaabend mit tibetischen Bühnentänzen ausgestrahlt wurde, feierten in Mc-Leod Ganj junge Tibeter eine rauschende Wahlparty. Der Kontrast zwischen dem, was Tibet in den Augen von Chinas Machthabern und in den Augen junger Exiltibeter ist, könnte grotesker nicht sein.
McLeod Ganj, heute Heimat von rund 10 000 Tibetern, ist Sitz aller wichtigen exiltibetischen Institutionen und Organisationen. Seit dem in den 90-er Jahren rasant gewachsenen Ruhm des Dalai Lamas strömen immer mehr Besucher herbei. Für sie bietet der Zettelwald an den schäbigen, oft windschiefen Ladentüren zahllose Angebote, von Kochkursen, über Yoga und Massagen bis hin zu buddhistischen Schweige- und Meditationsseminaren. Doch in diesem Jahr kamen erstmals eine ganze Reihe von Wahlplakaten in englisch und tibetisch hinzu. Denn 2011, das ist in McLeod schnell zu spüren, ist für alle Exiltibeter ein Epoche machendes Jahr. Der Dalai Lama hatte vor zwei Wochen erneut, aber entschlossen angekündigt, sich aus allen politischen Ämtern zurückziehen zu wollen. Zuvor hatte seit Monaten ein ernstzunehmender Wahlkampf um das Amt des Exil-Premierministers alle Tibeter in seinen Bann gezogen.
Am vergangenen Sonntag nun haben die weltweit verstreut im Exil lebenden Tibterinnen und Tibeter gewählt. In 13 Ländern, darunter Belgien, Schweiz, Russland, Bhutan und den USA gingen sie zu den Wahlurnen. Allein in Dharamsala standen sie stundenlang, ihr grünes Wahlbuch in der Hand, in den traditionellen Roben gekleidet, in langen Schlangen vor den Wahllokalen an. Er empfinde dabei großen Stolz, sagt Jampa, ein 39-jähriger Tibeter, der für eine Tibet-NGO arbeitet. „Ich denke mir, dass die Chinesen, bei allem wirtschaftlichen Erfolg, den sie zweifelsohne haben, in fünf Jahrzehnten nicht ein einziges Mal ihre politische Führung wählen konnten.“ Es stimmt, die Exiltibeter können stolz auf das Erreichte sein. Kaum einer Exilgemeinde ist bislang gelungen, ein so transparentes und demokratisches Selbstverwaltungssystem zu errichten. Auch wenn die Dharamsalaer Demokratie mit ihren zweistöckigen Verwaltungsgebäuden vielleicht mehr einem Bürgermeisteramt gleicht – sie hat Respekt verdient.
In den Momo-Restaurants diskutieren junge, kahl rasierte Mönche mit Tibetern in Jeans und Lederjacken über die politische Zukunft Tibets. „Er kann jetzt noch nicht gehen, wo die Lage in Tibet immer schlechter wird. Wir brauchen ihn, er ist unser Führer in spiritueller und auch in politischer Hinsicht“, erklärt ein junger Mönch, in holperigem Englisch einer Gruppe von israelischen Rucksackreisenden.
Bizarr ist, dass es ausgerechnet der Allmächtige, der Dalai Lama selbst seine Anhänger zur Demokratie zwingt. Viele ältere Tibeter sind traurig über seinen Entschluss zum Rückzug. In den letzten beiden Jahrzehnten hatte sich der Dalai Lama immer wieder dafür ausgesprochen, dass eines Tages, rechtzeitig vor seinem Tod, die Tibeter ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen müssten. Er hat die Flüchtlingsgemeinde sanft geschubst, sie hartnäckig belehrt und zwingt sie nun zum Handeln. Er vermeidet es nicht, darüber zu sprechen, dass er nicht mehr lange unter ihnen sein wird. Bereits vor einem Jahrzehnt bestand er darauf, den Premierminister nicht mehr ernennen zu wollen, dann verzichtete er auf die Eröffnung der zweimal jährlich stattfindenden Parlamentssitzungen. Kürzlich verkroch er sich regelrecht in seiner Residenz, nachdem er dafür gesorgt hatte, dass 500 tibetische Intellektuelle nach Dharamsala gereist kamen, um gemeinsam eine Woche lang über die Zukunft Tibets zu debattieren. Er wollte durch seine Anwesenheit keinen Einfluss nehmen, erklärte er später. Er übertreibt nicht. Für die meisten Tibeter hat allein seine physische Präsenz Bedeutung. Er ist für sie der lebende Buddha, dessen Worten sie blind folgen würden. Doch der Oberhirte bleibt hart. „Spirituelle Führer und Gottkönige sind einfach nicht mehr zeitgemäß“, hatte er vergangene Woche umstandslos westlichen Medien gesagt.
Viele junge, gebildete Tibeter stimmen ihm durchaus zu. Von ihnen gibt es im Dharamsala eine ganze Menge. Denn der unbestreitbar größte Erfolg der tibetischen Exilregierung ist ein hervorragendes Bildungssystem für alle. Die Jungen machen keinen Hehl daraus, dass auch sie denken, die Zeit der Allmacht sei vorbei. Einer von ihnen ist Dhondup Lhadar, 36, Vizepräsident der größten exiltibetischen Nichtregierungsorganisation, des Tibetischen Jugendkongresses, der 35 000 Mitglieder zählt. „Der Dalai Lama sollte nicht die Regierungsverantwortung tragen. Wir haben seit 2001 einen vom Volk gewählten Premierminister“, betont der energische Funktionär.
Auch ihm sei es schwer ums Herz zumute, bekennt er, wenn er an den alternden Dalai Lama denkt, sagt Dhondup. Aber schließlich „wird der Dalai Lama sich trotz seines Rückzuges nicht vom Kampf um Tibet verabschieden.“
Auch Bagdro, ein in Dharamsala bekannter 42-jähriger Mönch und aus Tibet geflohener Menschenrechtsaktivist, tröstet andere, dass der Dalai Lama die Tibeter doch gut auf seinen Rückzug vorbereitet habe. „Er hat dafür gesorgt, das die jungen Exiltibeter alle eine gute Ausbildung bekommen haben. Die sollen jetzt mal den politischen Kampf auf sich nehmen“, findet er.
In den Dharamsalaer Cafés und Buchläden geht es ständig um den Kampf und die Idee, was Freiheit für Tibet bedeuten muss. Es stimme nicht, dass sich die jungen Tibeter radikalisierten, „aber wir haben keine Geduld mehr mit China, den Tibetern in Tibet geht es schlechter und schlechter, unsere Kultur stirbt, wir können nicht mehr 50 Jahre warten“, sagt erregt Dowa, ein anderer junger Mönch. „Der Dalai Lama ist mit seiner Politik des mittleren Weges gescheitert“, sagt auch Dhondup Lhadar vom Tibetischen Jugendkongresses. Wie er fordern viele junge Tibeter weltweit, dass die künftige Exilregierung die ergebnislosen Dialoge mit Beijing abbricht. „Wir glauben nicht wie der Dalai Lama an Autonomie. Sie funktioniert schon jetzt nicht. Nur die Unabhängigkeit bringt das Recht auf Eigenständigkeit, stimmen ihm andere zu.
Nach der Wahl vom Sonntag herrscht in Dharamsala nun gespannte Ruhe. Es wird einen Monat dauern, bis das weltweit ermittelte Wahlergebnis vorliegt. Favorit unter den Kandidaten war der smart und jugendlich wirkende Harvard-Juradozent Lobsang Sangay. Er trägt Anzug und Krawatte statt Mönchskutte und ist kein Tibetflüchtling wie seine Mitkämpfer, sondern wuchs in Darjeeling auf. Er galt bislang nicht als exilpolitisches Schwergewicht, aber sein Charisma hat ihn schnell zum beliebtesten Kandidaten werden lassen. Seine Gegenspieler sind der Ex-Exilpremier Tenzin N. Thethong und der Ex-Außenminister Tashi Wangdi. Vor allem der schon ergraute Thetong ist den Tibetern schon seit Jahrzehnten als erfolgreicher US-Lobbyist bekannt und gilt als „erfahrener Macher“.
Egal, wie die Wahlen ausgehen, eines steht bereits fest: Der künftige Premier wird gleich die größte Krise der Exilgemeinschaft seit ihrer Flucht vor 52 Jahren managen müssen. Denn der Rückzug des Dalai Lama ist in der seit 1959 geltenden Exil-Charta nicht vorgesehen. Der noch amtierende Premier, Samdhong Rinpoche, fürchtet daher eine „Legitimitätskrise“. „Das ist für uns in Dharamsala die entscheidende Frage: Ohne den Dalai Lama werden die Tibeter in Tibet sich von der Exilregierung möglicherweise nicht mehr repräsentiert fühlen“, sagt der 76-jährige Mönch müde. „Aber wir und sie haben langfristig keine andere Wahl, wir müssen zusammenarbeiten für Tibet.“