„I’m her yesterday’s man, well my friends, that’s what I am!”, singt eine näselnde Stimme so laut ins Mikrofon, dass die Beschallungsanlage ins Rattern kommt. Doch im The Wickham Arms, dem ältesten Pub im Südosten von London, krachen an diesem Abend die Lautsprecher mehrmals: hier findet eine Karaoke Night statt. Eine pummlige Frau am Tresen schwingt ihre Hüften zum Rhythmus der Musik und umarmt gleichzeitig ihren Begleiter, der es trotz der Umarmung noch schafft, ein Pint Lager-Bier mit der rechten Hand festzuhalten. Nach dem Auftritt des Yesterday Man legt ein älteres Ehepaar, das zum Abendessen kam, kurz das Besteck nieder, um zu applaudieren. Auch die vier Frauen, die an einem Tisch neben der Jukebox diskutieren und manchmal laut auflachen, klatschen in die Hände.
Der Wickham-Pub ist ein traditionelles britisches Public House mit dichtem Teppichboden, verschnörkeltem Tapetenmuster und einem schweren hölzernen Tresen. Die einzige Angestellte zapft hier an den klobigen Holzgriffen der Zapfanlage frisches Ale oder Lager. Die Kundschaft wohnt vorwiegend in der Nachbarschaft, man kennt sich untereinander. Doch auch Studenten der nahe gelegenen Goldsmith University kommen gerne hierher – des authentischen Looks wegen, aber auch, weil es im Wickham nie so gerammelt voll ist wie in den angesagteren Pubs auf der Hauptstraße.
Die Auswahl an Kneipen wird jedoch auch hier kleiner werden. Denn Lokale wie The Wickham Arms sind in Großbritannien vom Aussterben bedroht. Einem Bericht der britischen Bier- und Pub-Vereinigung (BBPA) zufolge schließen jede Woche rund 25 Pubs. Die Hauptstadt ist am härtesten getroffen: Von den 1 300 Schließungen des letzten Jahres kamen 275 auf London. Mittlerweile soll aber schon die Hälfte aller Dörfer in Großbritannien keinen örtlichen Pub mehr haben. Grund dafür sind die niedrigen Alkoholpreise in den Supermärkten, die kürzliche Mehrwertsteuer-Erhöhung (von 17,5 Prozent auf 20 Prozent) sowie das 2007 eingeführte Rauchverbot.
Vor allem aber treibt die Biersteuer die Besitzer der Pubs in die Knie. Die Beer Duty hängt von der Infla-tionsrate des Einzelhandelspreises ab. Die Steuer wird automatisch zwei Prozentpunkte über der Inflationsrate gerechnet, was dieser Tage 7,5 Prozent Beer Duty ergibt. Ein Pint wird dadurch um rund zehn Pence teurer; viele Lokale werden die Preise noch hoher festsetzen müssen, um über die Runden zu kommen.
Traditionelle Pubs fürchten bereits seit längerem um ihr Bestehen, denn seit den Neunzigerjahren ist die Biersteuer in Großbritannien um 20 Prozent gestiegen. Sie ist zwölf Mal höher als die in Deutschland und so eine der strengsten in Europa. Brigid Simmonds, die Vorsitzende der britischen Bier- und Pub-Vereinigung, klagt, dass diese Steuererhöhungen dem Schatzamt nicht mehr Geld einbrächten, sondern allein dieses Jahr 10 000 Arbeitsplatze kosten und das Aus für weitere Gaststätten bedeuten würden.
Obwohl der Bierkonsum letztes Jahr um ein Prozent gesunken ist, wird in Großbritannien natürlich immer noch viel getrunken – allerdings eher zuhause als in der Kneipe. Denn in Supermärkten sind alkoholische Getränke bis zu vier Mal günstiger als im Pub. Die britische Supermarktkette Sainbury’s zum Beispiel bietet in der Reihe der Billigprodukte auch Bier an. Gerade mal 55 Pence pro Liter (61 Euro-Cents) kostet das Basics-Lager, während man für ein Pint im Pub bis zu vier Pfund zahlen muss. Cider kann man im gleichen Supermarkt in einer Zwei-Liter-Flasche mit nüchternem Design für nur 1,40 Pfund kaufen. Wer dem süffig-seifigen Geschmack dieser Getränke abgeneigt ist, kann zu Tante-Emma-Läden gehen. Mit der Lizenz zum Alkoholverkauf (auch off-licence genannt) bieten diese Shops Markenbier zu Preisen an, die sich nicht einmal Supermärkte erlauben können – und das bis spät in die Nacht.
Andere Umstände haben Ende der Achtzigerjahre bereits für radikale Änderungen in der Kneipenlandschaft gesorgt. Zuvor wurden Pubs vorwiegend von Brauereien betrieben; die konservative Regierung unter Margaret Thatcher hielt das jedoch für wettbewerbsfeindlich und begrenzte die Zahl der so genannten Tied Houses auf 2 000 Kneipen pro Brauerei. Anschließend bildeten sich andere Geschäftsmodelle: Pub-Firmen (auch Pubcos genannt) und Betreiberketten sollten von nun an die britische Institution Pub grundlegend verändern. Pubcos sind Firmen, die Gaststätten kontrollieren und sie entweder selbst managen oder vermieten. In den meisten Fallen sind die Mieter verpflichtet, Produkte der Pubco zu verkaufen.
Den Markt bestreitet heute eine Handvoll Riesenfirmen: die beiden größten Betreiber, Punch Taverns und Enterprise Inns, besitzen zusammen mehr als ein Viertel aller Kneipen in Groß-britannien. Pubcos haben stark zur Homogenisierung der britischen Kneipenwelt beigetragen, doch es sind vor allem Betreiberketten, die ihren Pubs das immergleiche Fast-food-Ambiente verpassen. Ein interessantes Beispiel ist J D Wetherspoon, eine Kette, deren rund 800 Pubs sich von anderen Gaststätten durch lange Öffnungszeiten, preisreduziertes Bier, billiges Essen und den Verzicht auf Musik unterscheiden. Solche Lokale sind betriebsam, aber auch sehr unpersönlich: man hat den Eindruck, nicht das gesellige Zusammensitzen, sondern das Burger-Angebot mit Pint sei für viele Kunden der einzige Grund, doch nicht zu Burger King zu gehen.
Der Boom der Ketten endete jedoch erst einmal mit der Wirtschaftskrise. Wahrend Pubcos vor der Krise kräftig expandierten, zwangen ihre riesige Schuldenberge sie nunmehr, Kneipen zu verkaufen. Auch eine Firma wie J D Wetherspoon zog die Notbremse und versuchte verzweifelt, mit Schnäppchen wie dem Pint zu 99 Pence wieder Kundschaft anzulocken. Die hohen Arbeitslosenzahlen bremsen auch heute noch den Umsatz der Ketten.
Kleine Pubs, die die Krise überstanden haben, können mit den Preisen der Großen natürlich nicht mithalten. Auch The Wickham Arms in Brockley ist umgeben von Pubcos und Pub-Ketten. Eine Straße weiter befindet sich The Brockley Barge, eine Filiale von J D Wetherspoon, fünf Minuten weiter in Richtung New Cross steht The Amersham Arms, ein Pub, der zu Enterprise Inns gehört. Doch auch hier gibt es Probleme. Denn obwohl die Pubs großer Firmen zwar widerstandsfähiger sind als Freehouses, müssen ihre Mieter Zielvorgaben erfüllen, die oft zu hoch sind. „Momentan läuft das Geschäft nicht gut, denn die Studenten haben Semesterferien. Wir versuchen die Leute mit Entertainment-Angeboten anzuziehen“, sagt Olivia, die auf den Veranstaltungskalender zeigt. Hier sind Treffen des Brockley Ukelele Club, Kunstausstellungen, ein Pub-Quiz und eine „Tropennacht“ angekündigt. Im The Amersham Arms wird auch bald wieder das Management wechseln, da Enterprise Inns die Miete erhöht hat.
Den Verlust an britischer Pub-Kultur betrauern viele. The Dead Pub Society und The Lost Pubs Project dokumentieren im Internet Kneipenschließungen in ganz Großbritannien. Letztere Organisation hat eine eine Liste von 15 000 „verlorenen“ Pubs zusammengestellt, die regelmäßig aktualisiert wird. Hier kann man lesen, wie mit dem Verschwinden der Local Boozers auch die Geschichte ganzer Stadtviertel ausradiert wird. The Frying Pan in Brick Lane im Osten Londons etwa war bekannt durch die Besuche des amerikanischen Schriftstellers Jack London, der hier Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts für sein Buch über das Armenviertel im East End (The People of the Abyss) recherchierte. Auch wurde Mary Ann Nichols, das erste Whitechapel-Opfer von Jack The Ripper, angeblich kurz vor ihrem Tod hier gesehen. 1991 schloss der Pub seine Türen, und außer dem Jack-The-Ripper-Wanderweg erinnert heute nichts mehr an die Geschichte der Kneipe.
Ähnlich erging es dem Pub Grave Maurice, Stammtisch der kriminellen Krays-Zwillinge, die das Nachtleben und die Unterwelt im East End in den Fünfziger- und Sechzigerjahren beherrschten. Später diente die Kneipe als Hintergrund auf einem Cover einer Morrissey-Platte. Die Gaststätte wurde letztes Jahr von einem Wett-Anbieter gekauft, und auch Morrissey-Fans posieren nicht mehr vor dem Gebäude.
Verglichen mit der Arbeitslosigkeit und sozialen Kürzungen ist das Pub-Sterben in Großbritannien zwar momentan ein weniger debattiertes Problem – das Ausmass der Krise, durch die nun sogar ur-britische Traditionen bedroht sind, illustriert es trotzdem. Brigid Simmonds von der BBPA betont, dass die Bier- und Kneipenbranche „nicht nur eine Industrie“ sei, sondern „Teil unseres kulturellen Erbes“.
In The Wickham Arms denkt man momentan nicht über die Probleme der Industrie nach. Hier wird es jetzt ausgelassener. Eine der Frauen neben der Jukebox hat ihr Bein auf den Tisch gehoben, um ihren Freundinnen ihre weißen Cowboystiefel zu zeigen. Der Absatz landet mit einem dumpfen Geräusch auf der Tischplatte, die Lederfransen der Stiefel fliegen hin und her, und die Freundinnen halten sich den Bauch vor Lachen. Am britischen Kulturerbe kann man hier auf jeden Fall noch bis in die Frühe teilhaben.