In seinem auch nach über hundert Jahren noch erschreckend komischen Dictionnaire des idées reçues verzeichnete Gustave Flaubert unter dem Stichwort „littérature“: „Occupation des oisifs“2. Warum Flaubert in dieser Formulierung ein dummes Vorurteil gefunden zu haben meinte, will auf den ersten Blick gar nicht einleuchten. Ministerien vergeben nationale Literaturpreise, die nicht einmal der Hälfte eines monatlichen Anfangsgehalts (netto) beim Staat entsprechen. Minister veröffentlichen Krimis im Zweijahrestakt. Ganz klar: Schreiben ist ein Hobby, also etwas, was man neben der richtigen, der „eigentlichen“ Arbeit tut. Auch lesen muss ein Hobby sein, weil man, wenn man liest, sonst nichts tun kann, als zu lesen. Deswegen bietet sich das Lesen besonders in Situationen an, in denen man ohne Buch (beziehungsweise ohne elektronische Lesetafel) nur blöd herumstünde oder-säße, in öffentlichen Verkehrsmitteln zum Beispiel, in Wartesälen, oder, wenn man Glück hat, während man sich am Strand die Sonne auf den speckig glänzenden Rücken scheinen lässt. Abends nach der Arbeit zieht man meistens den Fernseher vor, weil Lesen doch ein wenig anstrengend ist, es sei denn, man liegt schon im Bett und kann partout nicht einschlafen.
Wer jedoch häufiger liest, als es die sporadisch entstehenden Leerstehlen im gut gefüllten Tagesplan eines regulär Arbeitenden zulassen, macht sich verdächtig. Hat er denn nichts Besseres zu tun? Es lässt sich nicht von der Hand weisen: Wer liest, bleibt einstweilen außen vor. Die Leser klinken sich aus. Sie machen nicht mit. Sie leisten auch keinen unmittelbaren Beitrag zur Gesellschaft. Schlimmer noch: Ihre Nichtsnutzigkeit ist ihnen völlig gleichgültig. Was um sie und ihre Lektüre herum vor sich geht, interessiert sie allem Anschein nach nicht im geringsten. Wer liest, scheint der Außenwelt signalisieren zu wollen, dass er gerade ganz gut auf sie verzichten kann.
Lesen ist also nicht nur frivol, sondern speziell in Zeiten des frenetischen „social networking“ eine regelrechte Provokation. Die allgemeine Geringschätzung des routinierten Lesers als eines unsozialen Müßiggängers geht bis in den Sprachgebrauch hinein. Man hält ihn offensichtlich für einen Schmarotzer. Wo in anderen Arten der Freizeitgestaltung äußerst schmeichelhafte Tiermetaphern zur Verfügung stehen, wie etwa, wenn von „Partylöwen“ und „-mäusen“ die Rede ist, müssen sich Bücherfreunde mit zweifelhaften Titulierungen wie „Leseratten“ und „Bücherwürmer“ zufrieden geben.
Aber macht der routinierte Leser tatsächlich frecherweise ein Hobby zu einer Hauptbeschäftigung? Es gibt wohl Gründe, daran zu zweifeln.
Von der Queen darauf hingewiesen, dass er sich die Wartezeit doch mit Lektüre vertreiben könne, ist der Chauffeur in Alan Bennetts grandioser kleiner Novelle The Uncommon Reader irritiert: „Read? Of course he read. Everybody read. He opened the glove compartment and took out his copy of the Sun.“3 Sicher, wir alle lesen. Doch genauso wenig wie Buchpublikationen, und seien sie noch so zahlreich, den Schreiber automatisch zum Literaten machen, lässt sich an der Anzahl einverleibter Buchseiten Belesenheit festmachen. Gerade, dass wir alle ständig lesen – nicht nur Zeitungen, Magazine, Bücher, sondern auch Kurznachrichten, E-Mails, Reklametafeln –, ist der sicherste Hinweis dafür, dass es sich beim Lesen grundsätzlich nicht um eine bloße Freizeitbeschäftigung handeln kann. Lesen ist: ein Sammeln und Ordnen, ein interpretierendes und verstehendes Aufnehmen von Impulsen verschiedenster Art. Wer liest, stellt einen Zugang zur Welt her4. Ausgerechnet derjenige also, der sich da auf Zeit scheinbar von der Welt verabschiedet, während er in sein Buch vertieft ist, kann ihr zuweilen noch am nächsten sein.
In diesen Verstehensprozess kann man sich bewusst begeben, indem man sich mit Literatur auseinandersetzt, beziehungsweise mit Büchern, die eher zur Welt hin als von ihr weg führen.
Mit dem Lesen ist es also ein wenig wie mit dem Essen: Die Nahrungsaufnahme allein reicht den wenigsten. Ebenso kommt es bei der Lektüre nie nur darauf an, dass man liest, sondern vor allem darauf, was man liest.
Auf die Frage, welche Bücher man sich also zulegen muss, gibt es natürlich keine Antwort. Wenn Lesen Spaß machen soll (und das soll es unbedingt), muss die Autonomie des Lesers schon bei der Wahl des Lesestoffes ihren Anfang nehmen. Das Wagnis ist gering: Wenn das Buch nicht gefällt, schlage man die Deckel zu und werfe es in die nächstbeste Ecke. Es gibt kein Rezept; man vermeide lediglich Moden, die aus überhitzten Debatten entstehen (Charlotte Roche, Helene Hegemann) und unkritische Empfehlungen einer verantwortungslosen Presse. Auch lasse man sich weder von Freunden noch von Werbeanzeigen einreden, Dan Brown sei ein großartiger Autor, wenn man seine Geschichten dumpf und an den Haaren herbeigezogen findet. Man entscheide selbst. Mag man am Ende auch zu den Ratten und Würmern zählen, kann man sich immerhin damit trösten, dass man seine Zeit nicht vertut.