Die Gesundheitsversorgung Luxemburgs ist nicht in jedem Fall „sozial“. Geringverdiener verzichten mitunter auf Arztbesuche, Unversicherte müssen auf Freiwillige und Lydia Mutsch hoffen

Die Besten der Galaxis

Arztsprechstunde bei den Médecins du monde in Bonneweg
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 20.10.2017

2015 gingen sämtliche Einwohner der Gemeinde Parc Hosingen kein einziges Mal zum Arzt, weil ihnen das zu teuer schien. Das ist, wohlgemerkt, ein Sinnbild: Zum Jahreswechsel 2015/16 zählte Parc Hosingen 3 350 Einwohner, und das entsprach ziemlich genau den 0,7 Prozent der Landesbevölkerung ab 16 Jahren, die 2015 aus Kostengründen auf einen Arztbesuch verzichteten.

Die Daten stehen in der Erhebung EU-Silc zu den Lebensumständen in den EU-Staaten. Schärfer wird das Bild, wenn man die Bevölkerung nach Einkommensgruppen aufschlüsselt. Im untersten Quintil, dem Fünftel der Leute mit den niedrigsten Einkünften, gingen zwei Prozent nicht zum Arzt. Dabei klammert EU-Silc Zahnbehandlungen aus. So dass man vermuten kann, dass unter den Einkommensschwächsten jeder Fünfzigste vielleicht gar den Besuch beim Hausarzt vermied.

Eigentlich ist das erstaunlich. In Luxemburg besteht für Berufstätige und Rentner Krankenversicherungspflicht. Einen festen Wohnsitz zu haben, reicht bereits für eine freiwillige Versicherung bei der CNS, die beim derzeitigen Indexstand schon für knapp 106 Euro im Monat zu haben ist. Im Gegenzug übernimmt die Kasse fast 95 Prozent aller Gesundheitskosten. Die Leistungen, für die sie aufkommt, müssen laut Gesetz dem „acquis de la science“ entsprechen. Deshalb nannte LSAP-Sozialminister Mars Di Bartolomeo seinerzeit das Luxemburger Gesundheitssystem „das beste der Galaxis“.

Trotzdem ist die Diskussion, wie „sozial“ das Gesundheitswesen ist und wie „zugänglich“, es wert, geführt zu werden. Im September hatte die Organisation Médecins du monde, deren 70 freiwillige Ärzte, Krankenpfleger und Psychologen in Bonneweg und in Esch/Alzette Patienten unentgeltlich versorgen, Alarm geschlagen: „Unsere Wartezimmer werden nicht leerer!“ 1 500 Konsultationen „de première ligne“ wurden von Januar bis August geleistet.

MDM betreuen vor allem Leute ohne Krankenversicherungsschutz, Obdachlose etwa, aber auch Drogenabhängige oder Asylbewerber, deren Antrag abgelehnt wurde. Aber auch arme Menschen mit festem Wohnsitz und CNS-Karte, denen der Arztbesuch zu teuer erscheint und die den Tiers-payant social für „zu kompliziert“ halten. „Wie kann all das sein“, fragte MDM-Direktorin Sylvie Martin, „im zweitreichsten Land der Welt, dessen öffentliche Krankenversicherung 2016 Überschüsse von 182 Millionen Euro verbuchte?“

Wie so oft, ist das eine Frage, die sich nicht genau beantworten lässt. Zumal sie zwei verschiedene Personengruppen betrifft, Leute mit Krankenversicherung und Leute ohne, deren Probleme sich aber überschneiden können. Médecins du monde finden, Luxemburgs Gesundheitssystem müsse „inklusiver“ werden, auch „Menschen ohne festen Wohnsitz“ einschließen. Tatsache ist: Luxemburg hat keinen „National Health Service“ wie Großbritannien, wo jeder Patient von einem Arzt empfangen wird und das keinen Penny kostet. Hierzulande ist jeder Arzt gehalten, Patienten nach der Krankenversicherung zu fragen, sofern es sich um keinen Notfall handelt. In den Spitäerln ist das genauso: „Vitale Notfälle behandeln wir natürlich auch falls sie nicht versichert sind“, sagt Romain Nati, Generaldirektor des Centre hospitalier de Luxembourg (CHL). „Es nicht zu tun, wäre unterlassene Hilfeleistung und sowieso gegen das Ethos eines jeden, der im Gesundheitswesen tätig ist.“ Die Behandlung sei dann auch dieselbe wie für einen versicherten Patienten. Ist ein Pa-
tient dagegen ohne Versicherung und kein Notfall, „wird es schwieriger“.

Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) weiß, dass der Zugang zu Gesundheitsleistungen nicht nur eine soziale Frage ist, sondern auch eine der öffentlichen Gesundheit. Vereinfacht gesagt: Wer sich mit etwas infiziert hat und nicht zum Arzt geht, kann andere anstecken. Aber eine Gratisversorgung wie in Großbritannien ist etwas ganz anderes als das System hierzulande. Der britische NHS ist komplett steuerfinanziert und deshalb kostenlos. Er bietet aber nur eine Grundversorgung und wer keine Zusatzversicherung hat, bekommt bei weitem nicht alles. In Frankreich sind die Verhältnisse mittlerweile ähnlich, dort trägt die Allgemeine Krankenkasse nur 40 Prozent der Gesundheitsleistungen. In Luxemburg dagegen gilt das „Versicherungsprinzip“, nach dem jeder bei der CNS Eingeschriebene Anspruch auf dieselben Leistungen hat. Eine Zusatzversicherung ist zumindest bislang nur in ganz bestimmten Hinsichten nötig, denn die CNS trägt fast 95 Prozent der Gesundheitskosten.

Damit nicht all jene aus der Versorgung fallen, die weder bei der CNS noch einer anderen Versicherung Mitglied sind, besteht im Gesundheitsministerium seit Benny Bergs Zeiten ein Budget, aus dem Behandlungen für Menschen ohne Versicherung bezahlt werden können. „Darüber entscheide ich von Fall zu Fall“, erklärt Lydia Mutsch. Ist das CHL involviert, erläutert dessen Direktor, „prüfen zunächst unsere Sozialarbeiter, welche Finanzierungsmöglichkeiten bestehen, und kontaktieren wenn nötig das Ministerium“. Nach Einschätzung von Médecins du monde ist diese Prozedur „schwerfällig“. Der CHL-Direktor findet nicht, dass sie beschleunigt werden müsste; es gehe dabei „schließlich um öffentliche Mittel“. Die Ministerin verweist darauf, dass es sich dabei ja nicht um eine „zweite Krankenkasse“ handele. Sie stellt aber fest, dass der Bedarf zunimmt: 2016 waren dafür im Staatshaushalt 850 000 Euro eingeplant, benötigt wurden am Ende 1,3 Millionen. Dieses Jahr sind 975 000 Euro vorgesehen, weitere 660 000 wurden beim Finanzminister angefragt. Im Haushaltsentwurf 2018 stehen 1,05 Millionen Euro.

Die Subventionsmöglichkeit sei allen Kliniken, Sozialämtern und Diensten über Land bekannt, sagt Lydia Mutsch. Sie kann auch auf die „Referenz-
adressen“ verweisen, einen Passus in der Sozialgesetzgebung: Kann ein Mensch ohne festen Wohnsitz für die fünf Jahre, ehe er diesen verlor, eine „Verbindung“ nach Luxemburg nachweisen, kann er an einer De-facto-Adresse einer Obdachlosenunterkunft angemeldet werden. Das vermag den Zugang zu einer freiwilligen Krankenversicherung zu ermöglichen. Welchen Anteil der Obdachlosen man damit erreicht, ist allerdings unklar. „Wir haben dazu keine Zahlen“, ist von Caritas und Croix-rouge zu hören. So dass auch die Gesundheitsministerin nicht wissen kann, was ihr Subsid vermag. Aber sie will auch nicht zu „viel Reklame“ dafür machen, damit es nicht ao aussieht, als bestehe in Luxemburg „ein zweites Recht“ über die CNS-Krankenversicherung hinaus.

Etwas mehr Klarheit herrscht darüber, wie sozial – oder nicht – das System CNS ist. Im EU-Vergleich besteht neben Luxemburg nur noch in Belgien, Frankreich und Schweden Vorabzahlungspflicht, müssen Patienten Rechnungen für ambulante Behandlungen erst einmal begleichen und können sie erst danach zur Rückerstattung einreichen. Artikel 24 des Sozialversicherungsbuchs erklärt dieses Prinzip ausdrücklich zur Regel und die unmittelbare Kostenübernahme durch die Kasse – den Drittzahler oder Tiers-payant – zur Ausnahme.

Dass das womöglich immer mehr zum Problem wird, lässt der Jahresbericht 2016 der CNS erahnen: Vergangenes Jahr stellte sie 224 063 Schecks für Patienten aus, die ihre Rechnung lieber zu einer CNS-Agentur trugen, statt sie per Post einzureichen und auf die Überweisung der Rückerstattung zu warten. Noch 2010 waren es 187 628 Schecks, und lag der Betrag pro Scheck damals bei durchschnittlich 257,36 Euro, waren es vergangenes Jahr 235,86 Euro. Man könnte sagen: Immer öfter holen die Leute sich immer kleinere Beträge so früh sie können zurück.

Stark zugenommen hat der Rückgriff auf den Tiers-payant social. Der wurde 2013 eingeführt und erlaubt, sofern das zuständige Sozialamt das für drei, eventuell sechs Monate anerkennt, Arzt- und Zahnarztrechnungen gleich komplett von der CNS übernehmen zu lassen. Um den Patienten entgegenzukommen, trägt die Kasse dann sogar ausnahmsweise die Aufschläge CP8, die Zahnärzte ihren Patienten für Dinge in Rechnung stellen, für die es keinen Kassentarif gibt. Die regulären Eigenbeteiligungen, die sie für die Patienten mit übernahm, holt die CNS sich vom Sozialamt zurück.

Die Nutzung des sozialen Drittzahlers ist allein zwischen 2015 und 2016 um fast 50 Prozent oder von 24 677 auf 33 116 von der CNS beglichene Rechnungen gewachsen. Was der Tiers-payant social bringt, werde „demnächst studiert“, erklärt Sozialminister Romain Schneider (LSAP) dem Land. Nach Ansicht der Médecins du monde führe „längerfristig“ kaum ein Weg vorbei an dem „allgemeinen“ Drittzahler.

So weit will Schneider sich noch nicht äußern. Denn in die Richtung hatte 2010 sein Vorgänger Mars Di Bartolomeo gezielt, wollte Ärzten und anderen Dienstleistern Anreize setzen, sich lieber unmittelbar von der Kasse als vom Patient bezahlen zu lassen. Aber vor allem der Ärzteverband AMMD fand das gar nicht gut, fürchtete Kontrollen und womöglich eines Tages Budgets, die die CNS den niedergelassen Ärzten auferlegen könnte. „Gegen den allgemeinen Tiers-payant sind wir nach wie vor“, sagt AMMD-Präsident Alain Schmit. Er schlägt dagegen vor, die Eigenbeteiligungen der Patienten nach deren Einkommen zu staffeln.

Weil das an der Vorabzahlungspflicht nichts ändern würde, fragt sich, ob dadurch der Verzicht auf den Arztbesuch aus Kostengründen abnähme. Auf jeden Fall ist der Tiers-payant généralisé nichts, worüber die CNS allein entscheiden kann. „Das gibt das Gesetz nicht her“, sagt CNS-Präsident Paul Schmit. Dass eine Initiative noch von der aktuellen Regierung ausgehen könnte, je nachdem wie die Studie zum Tiers-payant social ausfällt, will Romain Schneider nicht ausschließen: „Die Wahlen sind ja erst in einem Jahr, wir haben noch zu arbeiten.“

Peter Feist
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