Die Gitarre fest auf den breiten Rücken geschnallt, betritt Pierre Rausch sein Beggener Stamm-Café. Es ist noch früh am Abend. Am Tresen sitzen zwei Männer. Einer im karierten Hemd schlürft seinen Feierabendwein, der andere mit Pferdeschwanz unterhält sich mit der portugiesischen Tresenkraft. Pierre bestellt sich einen doppelten Espresso. Als er sich an den Tisch setzt und sein Instrument neben sich abstellt, deutet nur ein kleines Kippeln mit dem Fuß darauf hin, dass der junge Mann aufgeregt ist. Der 35-Jährige will mit dem Land über seine Liebe zur Musik sprechen ... und über seine Krankheit.
Beides hängt irgendwie zusammen. Die Musik als Dr. Jekyll und Mr. Hyde seines Lebens. „Songs zu schreiben, macht mir Spaß und hilft mir, zu entspannen“, sagt Pierre langsam und zündet sich eine Zigarette an. Er stimmt ein Lied an, seine Stimme klingt hoch, das Lied melancholisch. „Meine Vorbilder sind Muse, Placebo, Ben Harper und Thom Yorke”, erklärt Pierre. Der Sänger von Radiohead ist bekannt für seinen Falsetto-Gesang und emotionale Texte. „The goal is a follow-up to Radiohead“ heißt es auf Pierres Profil in Musikernetzwerk Myspace. Im Impressum dort steht, er habe sein Musikprojekt der Justiz, dem Parlament und dem Hofmarschall unterbreitet. Auf seiner eigenen Webseite summernightbrand.doomby.com hat der Luxemburger unzählige Texte, diverse Songs und mehrere Alben von sich hochgeladen. Er arbeite bereits an einem neuen, erzählt er stolz. Gedichte schreibt er ebenfalls, für Nichteingeweihte sind sie allerdings schwer zu entschlüsseln.
Auf seiner Webseite befinden sich auch einige Videos. Zwei davon zeigen Schlüsselmomente seines bisherigen Lebens – und seiner Krankheit. Pierre Rausch ist psychisch krank. Die genaue Diagnose lautet: paranoide Schizophrenie (F.20).
Es war 2011, als Pierre sich für die Castingshow „Deutschland sucht den Superstar“ meldet und er vor DSDS-Macher und Musikproduzent Dieter Bohlen auftritt. Der kanzelt ihn vor einem Millionenpublikum als „miesesten Gitarrenspieler aller Zeiten“ ab. Pierres Sichtweise auf diese Zeit lässt sich auf der Homepage nachlesen, er führt den desaströsen Auftritt auf sein Lampenfieber zurück. Fakt ist: Der junge Mann hat sich und sein musikalisches Können überschätzt und bricht komplett zusammen. Er hat Wahnvorstellungen, glaubt sich verfolgt, wird aggressiv und für seine Umwelt unberechenbar. Und kann es doch nicht lassen. Auch bei „Unser Star für Baku“ mit Stefan Raab tritt er auf – und erlebt ein ähnliches Debakel.
Heute erzählt Pierre mit ruhiger Stimme: Ausgebrochen sei die Psychose eigentlich in Straßburg, wo er 2005 bis 2006 als Student der Wirtschaftswissenschaften lebte. Aber statt zu studieren, zupfte er lieber auf der Gitarre und besuchte Musikkurse; das Spielen hatte er sich selbst beigebracht. „Obwohl ich daheim ein guter Schüler war, hatte ich an der Uni Konzentrationsschwierigkeiten“, sagt er und nimmt einen großen Schluck Sprudelwasser, das die Tresenfrau auf den Holztisch gestellt hat. Pierre bestand das erste Jahr mit Ach und Krach. Lieber schrieb er Songs bis spät in die Nacht, rauchte Joints, träumte davon, wie seine Vorbilder als neuer Star entdeckt zu werden – und erlebte seinen ersten Schub. So schlimm erwischte es ihn, dass seine verzweifelte Mutter vor der Wahl stand, ihn in die Straßburger Psychiatrie einzuweisen oder zurück nach Luxemburg zu nehmen. Sie holte ihn nach Hause.
„Das war vielleicht nicht so gut“, sagt sie nachdenklich, als das Land sie und ihren Mann in einem geschmackvoll umgebauten Bauernhaus in einer kleinen Gemeinde im hohen Norden besucht. Für die Familie begann eine Achterbahnfahrt der Gefühle, die Jahre andauern sollte und die erst dann aufhörte, als die Eltern beschließen, dass Pierre seinen eigenen Weg finden muss. „Man ist darauf nicht vorbereitet. Es schien immer nur noch abwärts zu gehen“, beschreibt sein Vater, ein erfolgreicher Ingenieur, jene alptraumhafte Zeit. Ein Arzt, den die Eltern damals zu Rate zogen, diagnostizierte bei dem Sohn Wahnvorstellungen und krankhaften Realitätsverlust. Ihn zur Stabilisierung für einige Wochen in die Psychiatrie einzuweisen, wie das die Familie wünschte, ging nicht. „Wir waren am Anfang ziemlich alleingelassen“, so der Vater. Wohin sich wenden mit einem Sohn, der nicht einsehen will, dass er krank ist und sich behandeln lassen muss? Wie den psychisch kranken Sohn unterstützen, und sich nicht selbst in dessen Krisen komplett aufreiben? Die Rauschs haben noch eine Tochter. „Erst als wir uns Rat in einer Eltern-Selbsthilfegruppe suchten, wurde es besser.“ Dort erfuhren sie, dass sie nicht alleine sind, dass andere Eltern ähnliches durchmachen – und welche negative Rolle psychoaktive Drogen bei der Krankheit spielen können.
„Ich habe mit 17, 18 angefangen, mit Freunden aus der Schule Joints zu rauchen“, gibt Pierre freimütig zu. Heute raucht der kräftige Mann Kette, doch um Cannabis macht er einen Riesenbogen, auch wenn er das Kraut nicht per se verdammen will: „Es gibt Musiker, die rauchen es und fühlen sich in ihrer Kreativität unterstützt.“ Psychiater warnen seit Jahren davor, dass der andauernde Konsum der psychoaktiven Substanz gerade bei Jugendlichen psychotische Zustände auslösen und verstärken sowie schizophrene Erkrankungen begünstigen kann. In Luxemburg warnen Suchtexperten wie René Meneghetti von der Beratungsstelle Impuls vor den Folgen des THC-Wirkstoffs für das jugendliche Gehirn und fordern ein Cannabis-Verbot für unter 21-Jährige, sowie mehr Information und Prävention. Dafür dass hohe THC-Werte im Cannabis wirklich Psychosen verursachen, fehlten aber bislang wissenschaftliche Beweise. Eine Schweizer Studie, die im Januar dieses Jahres erschien, hat nun erstmals einen kausalen Bezug zwischen Cannabis und Schizophrenie belegen können. Forscher des Universitätskrankenhauses Lausanne wiesen anhand von genetischen Markern nach, dass übermäßiger Cannabiskonsum mit einem um 37 Prozent erhöhten Schizophrenie-Risiko einhergeht.
Wird die Psychose nicht rechtzeitig erkannt und behandelt, kann aus einer einmaligen Episode ein chronischer Verlauf werden. So wie bei Pierre. Wie viele seiner Leidensgenossen wollte er seine Krankheit lange nicht erkennen. Das, was ihm das Liebste war, die Musik, schien ihn zugleich gesundheitlich zu ruinieren. Er verlor sich im Wahn, als Musiker den Durchbruch zu schaffen. Das unstete Leben als Straßenmusiker und Geldsorgen taten ein Übriges. Die Ausfälle wurden heftiger, die Krisen länger, mehrfach musste die Polizei einschreiten. Zum Schutz von anderen, aber auch zu seinem eigenen Schutz.
Unterbrochen wurde die Abwärtsspirale erst, als die Justizbehörden auf ihn aufmerksam wurden. Die Richter standen vor der Wahl: Gefängnis oder Psychiatrie? Ein Gutachter diagnostiziert Schuldunfähigkeit nach Artikel 71 des Code pénal. Das ist sein Glück. Pierre wird in die geschlossene Abteilung in Ettelbrück eingeliefert. Das war 2012. So lange dauerte der Teufelskreis von Absturz, Aufrappeln, erneutem Absturz. Dort gesteht er sich erstmals ein, dass er Hilfe braucht. „Mein erster Psychiater half mir nicht. Zu dem im CHNP habe ich Vertrauen, mit ihm kann ich alles besprechen“, erzählt Pierre. „Die ganze Kunst, um Schizophrenie erfolgreich zu behandeln, ist, dass die Beziehung zwischen Doktor und Patient partnerschaftlich verläuft“, sagt Marc Graas, ebenfalls Psychiater und Leiter der Ettelbrücker Psychiatrie. Geholfen hat Pierre auch die 180-seitige Biografie, die der junge Mann zu schreiben begann, um Erlebtes zu verarbeiten, und die er im Selbstverlag veröffentlichte.
Er bekommt Antipsychotika gegen die Wahnvorstellungen und den Realitätsverlust. Nach Monaten fühlt er wieder Boden unter den Füßen. Es ist in der geschützten Umgebung der geschlossenen Abteilung, wo er beginnt, sein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Anders als manche Leidensgenossen findet Pierre, dass ihm die Medikamente helfen. „Manche stört das Medikament. Mir geht es damit besser, ich komme besser klar“, sagt er. Die Einsicht in das eigene Kranksein und die Einnahme von Medikamenten sind wesentlich für die erfolgreiche Behandlung von Psychosen. „Die Arzneimittel sind heute viel besser als früher. Es gibt zwar Nebenwirkungen, wie Diabetes oder Gewichtszunahme, aber sie sind nicht mehr so stark“, sagt Psychiater Marc Graas. Pierre hat durch den Wirkstoff Paliperidon zugenommen, andrerseits kocht er kaum selbst, isst lieber bei McDonalds.
Pierre Rausch hat seine Krankheit heute im Griff. Dass der junge Mann mittlerweile auf eigenen Füßen steht, hat er seiner Behandlung, seiner Entschlossenheit und seiner Beharrlichkeit zu verdanken. Wer mit Pierre auf Tour ist, erlebt einen kontrollierten freundlichen Menschen, der zwar den direkten Blickkontakt meidet, aber durch die dunklen Ränder seiner Brille einen doch stets im Blick hat. Der bereitwillig und offen von sich erzählt und Menschen nicht scheut, sich aber mit Kommentaren zurückhält.
Nach einem weiteren Espresso brechen wir auf und fahren nach Dommeldingen. Dort ist Probe angesagt von einem der Chöre, in denen Pierre mitsingt: Das Singen tue ihm gut, brummt er. Bevor die Probe beginnt, übt die Gruppe gemeinsam mit dem Chorleiter Atemtechniken: Da zischt es und pfeift es aus über 30 Kehlen. An diesem Samstag um 19 Uhr tritt der Chor im Saal Pir Pelkes in Dommeldingen auf mit Kult-Songs aus den 1960-er, den 70-ern und den 80-ern. Für Pierre ist es der erste Auftritt mit der Truppe. Den Tipp bekam er von einem Kollegen aus einem anderen Chor, wo er ebenfalls singt. Wenn er nicht gerade singt, mit seinen Freunden unterwegs ist oder ins Kino geht (letzter Film: das US-Rapper-Biopic Tupac Shakur) spielt Pierre weiter Songs ein, mischt sie ab und lädt sie dann ins Netz. Seine Lieder handeln über die Liebe, das Leben, aber auch über die Natur. Auch das Straßenspiel hat er wieder aufgenommen, aber nur als „Hobby“, wie er betont.
Tagsüber arbeitet er in einer der therapeutischen Werkstätten des Haff Ditgesbaach. Weil er sich im CHNP bald stabilisierte, konnte er 2014 auf dem Bio-Bauernhof alsbald einen Job in der „Équipe agricole“ antreten. Auf dem Hof arbeiten etwa 50 Personen, allesamt psychisch krank. Er und seine Teamkollegen schneiden Hecken, mähen und stapeln Heu, kümmern sich um Wartungs- und Unterhaltsarbeiten. Die Arbeit ist körperlich anstrengend, die Wartelisten für das Atelier daher eher kurz, doch Pierre gefällt sie: „Ich bin draußen, ich kann die Natur erleben. Das erinnert mich an meine Kindheit.“
Als das Land ihn dort besucht, führt er uns bereitwillig herum. Seine liebste Station sind die Ziegen: Die drei Möhren, deren orange Spitzen aus Pierres grüner Arbeiter-Latzhose ragen, sind schnell verfüttert. Dann geht es in den Hühnerstall. „Wegen der Vogelgrippe müssen die Hühner drin bleiben“, sagt er bedauernd. Er sammelt braune Eier vom Fließband und sortiert sie auf eine Plastikpalette. In einem Ordner wird akribisch ihre Anzahl festgehalten. Im Moment ist der Bestand leicht dezimiert, da sind es statt über 100 nur um die 50 bis 60 Eier täglich. Pierre erledigt alle Handgriffe routiniert.
Später wird ATP-Psychologin Véronique Mousty von ihm sagen, dass er zu den Motiviertesten zählt. In den Werkstätten werden nur befristete Arbeitsverträge vergeben. Läuft ein Vertrag aus, wird überprüft, wo die Teilnehmer in ihrer persönlichen Entwicklung stehen. „Wir führen ein Gespräch entlang dreier Schwerpunkte“, erklärt Mousty. „Wir fragen, wie sich der Beschäftigte bei uns fühlt. Wie seine Lebenssituation ist, also sein soziales Umfeld, und wie er sich bezüglich seiner Krankheit entwickelt.“ Pierre Rausch macht Fortschritte in allen drei Bereichen, aber in einem hat er einen besonderen Erfolg zu verbuchen: Seit drei Monaten lebt er in der Hauptstadt in einer eigenen Wohnung, ohne psychosoziale Betreuung. Die Miete bezahlt er vom sozialen Mindesteinkommen RMG, das er bekommt. Sein Vater steht als Bürge ein.
Auch sonst zeigt sich Pierre motiviert: Er sucht eine neue Arbeit. Sein Traum ist es, den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen. Wie realistisch das ist, hängt auch davon ab, ob er sich weiter gut entwickelt. Und ob er seine Medikamente einnimmt und die Krankheit unter Kontrolle bleibt. „Wir lassen ihn machen. Oberstes Prinzip bei uns ist, dass wir die Menschen ermutigen, so autonom wie möglich ihr Leben zu führen“, betont Véronique Mousty. Dazu gehöre, die Beschäftigten eigene Erfahrungen sammeln zu lassen. Pierre schreibt derweil eifrig Bewerbungen. Gefragt, was er machen will, entgegnet er: „Am liebsten etwas mit Musik.“
Schizophrene Störungen
sind im Allgemeinen durch grundlegende und charakteristische Störungen von Denken und Wahrnehmung sowie inadäquate oder verflachte Affekte gekennzeichnet. Die Bewusstseinsklarheit und intellektuellen Fähigkeiten sind in der Regel nicht beeinträchtigtobwohl sich im Laufe der Zeit gewisse kognitive Defizite entwickeln können. Die wichtigsten psychopathologischen Phänomene sind GedankenlautwerdenGedankeneingebung oder GedankenentzugGedankenausbreitungWahnwahrnehmungKontrollwahnBeeinflussungswahn oder das Gefühl des GemachtenStimmendie in der dritten Person den Patienten kommentieren oder über ihn sprechenDenkstörungen und Negativsymptome.Der Verlauf der schizophrenen Störungen kann entweder kontinuierlich episodisch mit zunehmenden oder stabilen Defiziten seinoder es können eine oder mehrere Episoden mit vollständiger oder unvollständiger Remission (Nachlassen der Krankheitssymptomedie Redaktion) auftreten.