Die klassische Musik ist im gegenwärtigen deutschen Film eine Art Fenster zur Seele und sie offenbart nicht selten ungeahnte menschliche Schattenseiten, bis sich entsetzliche Abgründe auftun. Jan-Ole Gersters Lara ist da ein rezentes Beispiel. Corinna Harfouch gab da noch die vereinsamte Klavierlehrerin, die sich in ihrem Drang zur künstlerischen Perfektion zu ihrem Sohn komplett entfremdet hat. In Das Vorspiel (L’audition) folgen wir nun der Geigenlehrerin Anna Bronsky (Nina Hoss), die den jungen Musiker Alexander (Ilja Monti) auf ein anstehendes Vorspiel vorbereiten soll. Sie sieht in diesem Jungen eine Begabung und will ihm zur Perfektion verhelfen. Je mehr wir aber über diese Frau erfahren, ihre Beziehung zu ihrem Mann Philippe (Simon Abkarian) und ihrem Sohn Jonas (Serafin Mishiev), ihre heimliche Affäre mit dem Musiker Christian (Jens Albinus), desto mehr offenbart sich das Porträt einer Frau, die ein Leben von Selbsttäuschung und unerfüllten Träumen führt...
Die Regisseurin Ina Weisse, die auch als Schauspielerin arbeitet, versteht es diesen Film ganz auf seine Hauptdarstellerin zu fokussieren. Sie schafft einen Schauspielerfilm, der ausnahmslos auf Nina Hoss ausgerichtet ist; sie ist das Zentrum dieses Films um das sich alles kreist. Kaum eine Schauspielerin in Deutschland hat komplexere, widersprüchliche Frauenfiguren porträtiert. 2012 war sie in Christian Petzold Barbara als Kinderärztin zu sehen, die unter dauerhafter Stasi-Bedrohung ihre Flucht in den Westen plant oder noch 2014 als Jüdin Nelly Lenz wird nach ihrer Gefangenschaft im KZ Auschwitz in Phoenix, ebenfalls unter der Regie von Petzold.
Ina Weisse versuchte sich 2008 bereits mit ihrem Debüt Der Architekt als Filmregisseurin und mit Das Vorspiel beweist sie eine eindringliche formale Strenge, die den Zuschauer bewusst auf Distanz hält. Das Streben nach der absoluten Kunst muss – wie in Lara auch – zur inneren Einsamkeit führen. Das ist wohl als kritischer Kommentar auf eine Leistungsgesellschaft zu verstehen, die sich durch den vollkommenen Perfektionsdrang selbst isoliert. Dafür setzt Weisse auch immer wiederkehrend auf die Außenperspektive der Männer Philippe und Christian, die zwar nie eine eindeutige moralisierende Position ergreifen, vielmehr registrieren sie das Verhalten Annas mit Irritation und Ratlosigkeit. Von dem intensiven Wechselspiel von Nah- und Weitaufnahmen zu dem kalten Farbspektrum dieser Musikschule zielt nahezu alles auf einen distanziert-reflexiven Blick auf diese Frau und ihre Umwelt. Diese Musikschule ist ein Mikrokosmos menschlicher Gefühlszustände und Ina Weisse zeigt, wie man innerhalb dieses Leistungssystems in Extremsituationen reagieren kann. In all diesen aufgezwungenen Strapazen, dem Fordern nach Perfektion steckt mithin der eigene Selbstzweifel, die Angst zu versagen.
Ilja Monti ist der schüchterne und zögernde Schüler, der gleichsam zu Annas Projektion des eigenen Versagens wird. Nina Hoss entfaltet in diesen Szenen eine nahezu unerträgliche Intensität, mit steinharten Blicken und ganz streng fixierter Körperhaltung strapaziert sie diesen Jungen und offenbart damit das Bild einer ganz ambivalenten Frau, deren Drang zur Perfektion bewundernswert und fragwürdig zugleich ist. In seiner Zeichnung und Steigerung der Konfliktsituationen lässt Ina Weisse immer durchsichtiger werden, dass das Ganze unweigerlich auf die Katastrophe hinauslaufen muss. Diese Anna wagt permanent Grenzüberschreitungen, es kommt zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen und in alledem droht sie dabei an der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu zerbrechen. Unter dem konstanten Druck auf professioneller Ebene überzeugen zu müssen, gerät die familiäre Ordnung immer weiter aus den Fugen, beides kann – so wird uns in Das Vorspiel erzählt – nicht zufriedenstellend zusammenfinden.
Die Intensität in der Darstellung, die formale Strenge der mise-en-scène und seine ambivalente Grundhaltung schaffen aus Das Vorspiel das eindringliche Porträt einer derart fordernden Geigenlehrerin für die womöglich auch die Bestleistung nicht genug ist. Ina Weisse erzählt diese Geschichte nicht aus und belässt es bei einer derart ambivalenten Schlusseinstellung – freilich das bildliche Motiv ist nicht außerordentlich neu – die alles in einem wohlaustarierten Schwebezustand ausklingen lässt.