Nüchtern. Betont nüchtern präsentierten Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek das Programm des Wettbewerbs der diesjährigen Berlinale. Keine Geschichten und Anekdoten aus dem Leben eines Festivaldirektors, keine neue Sektion, die das Programm des Filmfests weiter aufbläht, einzig um an deren Ende wieder neue Rekorde zu vermelden – sei es hinsichtlich der Besucherzahlen und der Anzahl der gezeigten Filme, und schließlich auch keine neue Spielstätte, um der ewigen Rekordjagd unter den A-Festivals neuen Raum zu geben. Und auch keine Konkurrenz mit Cannes und Venedig um Stars und Sternchen, kein Hinterherhecheln um die Oscarpreisträgerinnen und Trophäengewinner, kein Street Food Market, der eröffnet werden muss. Einfach nur nüchtern. Die 70. Internationalen Filmfestspiele von Berlin müssen ohne das Ego und ohne den roten Schal von Dieter Kosslick auskommen, aber auch ohne die Präsenz von Tilda Swinton und Catherine Deneuve. Erstere hatte vor zwei Jahren ohnehin eingeräumt, dass sie bei der Berlinale schon alles gemacht habe – außer Garderobenfrau. Stattdessen präsentierte Chatrian seine Wettbewerbsfilme mit der Leidenschaft eines Cineasten, der unter den vielen Einreichungen echte Trouvaillen gefunden hat, und lieferte jeweils eine kurze Filmkritik mit. Nüchtern. Schließlich muss er neutral bleiben.
Nun also alles auf Neu und alles auf Anfang. Chatrian, der fortan das künstlerische Geschick der Berlinale leiten wird, machte mit seinem Auftritt auch zu Beginn der Auftaktpressekonferenz klar, worauf es ihm ankommt: auf den Film und die Kunst. So steht der Autorenfilm im Mittelpunkt des diesjährigen Berlinale-Wettbewerbs. Dazu zählen etwa First Cow der US-amerikanischen Regisseurin Kelly Reichardt, There Is No Evil vom iranischen Filmemacher Mohammad Rasoulof oder The Woman Who Ran vom südkoreanischen Regisseur Hong Sangsoo. Filme, von denen bereits heute klar ist, dass sie keine Kassenschlager werden, und der Goldene Bär sie eher in der Szene adelt, denn beim Zuschauer. Kleine Reminiszenz an die deutsche Hauptstadt ist, dass drei Filme des Wettbewerbs Berlin zum Thema haben: Undine von Christian Petzold, der Schweizer Beitrag Schwesterlein von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond. Dieser Film, mit Nina Hoss und Lars Eidinger in den Hauptrollen, spielt in der Berliner Theaterwelt. Hinzu kommt eine Neuverfilmung des Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. Der Regisseur Burhan Qurbani versetzt die Handlung in die Moderne und erzählt eine Geschichte über Flucht, Armut und die Probleme, anständig zu bleiben. Über die Gewinner im Wettbewerb entscheidet in diesem Jahr eine Jury unter Vorsitz des britischen Schauspielers Jeremy Irons. Ihm zur Seite stehen die argentinisch-französische Schauspielerin Bérénice Bejo, die Filmproduzentin Bettina Brokemper aus Deutschland, die palästinensische Regisseurin Annemarie Jacir, Kenneth Lonergan, US-amerikanischer Autor und Filmemacher, der italienische Schauspieler Luca Marinelli sowie der Regisseur Kleber Mendonca Filho (Brasilien).
Luxemburg ist in diesem Jahr mit zwei Filmen auf der Berlinale sowie zwei weiteren Streifen und einem Filmvorhaben auf dem Europäischen Filmmarkt (EFM) vertreten. Maret, das neue Projekt von Regisseurin Laura Schroeder, wird von den EFM-Verantwortlichen als eines von drei Vorhaben von Regisseuren mit Berlinale-Erfahrung für internationale Koproduktionen unterstützt. Auf dem EFM werden auch die luxemburgischen Koproduktionen Fritzi und Invisible Sue vorgestellt. Der EFM richtet sich in erster Linie an Filmverleiher, Filmfinanzierer und Produktionsfirmen. Im Rahmen der Berlinale haben Jumbo von Zoé Wittock und Yalda. A Night of Forgiveness von Massoud Bakhshi Premiere. Sie laufen in der Jugendfilm-Kategorie „14plus“.
Ob die diesjährige Berlinale damit den Erwartungen an den von vielen Kritikern und Zuschauern herbeigesehnten Neuanfang gerecht werden kann, bleibt abzuwarten. Dazu braucht es auch einen Blick auf die anderen Sektionen, insbesondere auf das Panorama und den neuen Nebenwettbewerb „Encounters“, in dem „ästhetisch und strukturell wagemutige Arbeiten von unabhängigen, innovativen Filmemachern“ gezeigt werden sollen. Im Grunde genommen also das zeigen wird, was die Sektionen „Forum“ und „Forum Spezial“ auf die Leinwand bringen sollen. Auf diese Doppelung angesprochen, stellte Chatrian klar: „Im 21. Jahrhundert werden immer mehr Filme abseits des traditionellen Produktionssystems gedreht. Heute kann jeder Filme mit seinem Handy drehen. Die sind vielleicht nicht immer perfekt, aber sie können sehr stark und vibrierend sein.“ Sie im Bären-Wettbewerb zu zeigen, sei nicht die richtige Wahl, so der Festivalleiter weiter. „Aber wir wollen ihnen trotzdem ein Podium geben. Was dann auch dem Festival zugutekommt, weil es anderen narrativen Formen nachspürt.“
Doch aller Neuanfang ist schwer. Und so startet die diesjährige Jubiläumsausgabe der Berlinale unter äußerst ungünstigen Vorzeichen in die Festspiele. Zum Jahresende schloss der Cine Star-Kinokomplex am Potsdamer Platz, der mit seinen zehn Kinosälen eine wichtige Spielstätte des Festivals war. Es ist ein Vorzeichen auf die kommenden Jahre, wenn der Potsdamer Platz sich neu erfinden wird und Gebäude, die heute noch die Festspiele beherbergen, zu Disposition stehen. So halten sich etwa hartnäckig Gerüchte, dass der Berlinale-Palast, das Premieren-Kino, in spätestens drei Jahren einem Bürokomplex weichen soll.
Damit nicht genug: Ende Januar berichtete die Wochenzeitung Die Zeit über die Nazi-Vergangenheit des ersten Festival-Direktors Alfred Bauer. Bauer, so der Bericht, sei ein „hochrangiger Funktionär in der NS-Filmbürokratie“ und bis Ende 1942 Referent der Reichsfilmintendanz gewesen. Bauer soll eine organisatorisch zentrale Position innegehabt haben und habe die personelle Seite der laufenden Spielfilmproduktion des Dritten Reichs kontrolliert und überwacht, also den Einsatz von Schauspielern, Regisseuren, Kameraleuten und sonstigem Filmpersonal koordiniert. Zudem soll er auch an der Entscheidung beteiligt gewesen sein, wer vom Kriegseinsatz freigestellt wurde und wer in die Rüstungsindustrie oder an die Front musste. Bislang war lediglich bekannt, dass Bauer – wie die meisten Filmschaffenden in dieser Zeit – eine „Tätigkeit in der Reichsfilmkammer“ ausgeübt habe. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben Bauer in seinem Entnazifizierungsverfahren seine Karriere im Dritten Reich verschleiert und gelogen, auch was seine Mitgliedschaften bei SA und NSDAP betraf. Chatrian und Rissenbeek reagierten sofort auf die Veröffentlichung: Der Alfred-Bauer-Preis für einen Spielfilm, „der neue Perspektiven eröffnet“; und einer von sieben Bären des Festivals ist, wird in diesem Jahr nicht vergeben.