Im Schatten der allgemeinen Aufmerksamkeit für den Bommeleeër-Prozess begann diese Woche am Bezirksgericht Luxemburg eine Verhandlung, die man ebenfalls schon beinah historisch nennen könnte: Über zehn Jahre alt ist die Affäre um die Gebäude der früheren Textil-Großreinigung Express Services in Pulvermühle im Tal unweit der Alzette; doch ihren Anfang nahm sie schon in den Achtzigerjahren. Hinzu kommt, dass ein durchaus namhafter Unternehmer aus der Immobilien- und der Restaurantbranche der fahrlässigen Körperverletzung, aber auch eines Verstoßes gegen die Kommodo- und gegen die Abfallgesetzgebung beschuldigt wird. Das ist eine Anklagekombination, wie sie hierzulande nicht alle Tage vorkommt.
1998 erwirbt der beschuldigte Unternehmer, nachdem die Express Services s.à r.l. zwei Jahre zuvor in Konkurs gegangen war, das Grundstück mit allem Drum und Dran und lässt das Gebäude der einstigen Großreinigung in 1 400 Quadratmeter Bürofläche umarbeiten. Im Laufe des Jahres 2001 mieten die beiden Dienstleistungsbetriebe Artemis und DS Corporation je eine Hälfte des Gebäudes, doch ihren Mitarbeitern wird das Arbeiten am neuen Ort schon im ersten Jahr zur Qual. Sie klagen über Müdigkeit und Kopfschmerzen; der Krankenstand steigt. Die Gewerbeinspektion (ITM) wird eingeschaltet und stellt eine mangelhafte Belüftung fest: Nicht alle Büros haben Fenster. Die Lüftungsanlage im Haus ist eigentlich eine Heizung, wälzt nur die Raumluft um, holt aber keine Frischluft von draußen. Ein Arbeitsmediziner wird konsultiert, Raumluftanalysen durch das Laboratoire national de santé werden bestellt – und sie zeigen eine Belastung mit Perchlorethylen (PER). Vielleicht kein Wunder, denn PER wurde in der früheren Textilreinigung ab 1950 als Lösungsmittel benutzt. Vor dem Fabrikgebäude stand damals ein 5 000 Liter fassender PER-Tank.
Perchlorethylen ist ein gefährlicher Stoff. Er wirkt giftig auf das Zentralnervensystem und die Nieren. Krebserregend zu sein, wird er ebenfalls verdächtigt. Doch PER zersetzt sich auch schnell, und seine Zerfallsprodukte mit zum Teil noch längeren chemischen Namen sind gleichfalls giftig und gelten mitunter eindeutig als krebserregend. Analysen, die ab 2003 nicht nur an der Raumluft, sondern auch am Trinkwasser im Gebäude, am Boden und am Grundwasser im Umkreis der Immobilie vorgenommen werden, ergeben vor allem eine schwere Belastung des Bodens mit PER. Als auch im Juli 2003 im Blut der Mitarbeiter der Mieter-Firmen PER gefunden wird, schickt der Arbeitsmediziner alle schwangeren Frauen sofort nach Hause und teilt der Gesundheitsdirektion mit, die Gesundheit am Arbeitsplatz sei in den Firmen nicht mehr garantiert. Im September 2003 werden die Mietverträge der beiden Dienstleistungsbetriebe gekündigt, Anfang 2004 steht das Gebäude wieder leer.
Doch die Auseinandersetzungen beginnen nun erst richtig: um die Frage, wie stark belastet das Grundstück ist, welchen Risiken die rund 60 Mitarbeiter der beiden Firmen ausgesetzt waren, und nicht zuletzt, ob der Unternehmer, der das 26 Ar große Gelände samt Fabrikgebäude 1998 kaufte, von der Kontamination wusste. Fakt ist: Eine Betriebsgenehmigung gemäß Kommodo-Gesetz liegt nicht vor, obwohl Bürobetriebe ab 1 200 Quadratmeter eine brauchen. Hätte es ein Kommodo-Verfahren gegeben, hätten Analysen vorgenommen werden müssen, bei denen sich die Kontamination zwangsläufig gezeigt hätte. Dann hätte auch festgestanden, dass das Grundstück saniert werden muss. Dass eine Sanierung dringend nötig ist, haben alle bisherigen Analysen und Gutachten ergeben. Die Liste ist beeindruckend lang.
Der beschuldigte Unternehmer aber erklärte diese Woche vor Gericht, nicht an Kommodo gedacht zu haben. Ebenso wenig wie an eine Verseuchung: Selbst als er mit dem früheren Besitzer die alte Reinigung besichtigte und dort unter anderem „Maschinen aus der Vorkriegszeit“ sah, habe er sich keine Fragen gestellt. Erstaunlich ist das auch deshalb, weil der Kaufpreis für die insgesamt 26 Ar große Immobilie in schöner Hauptstadt-Lage mit 14 Millionen Franken auch für das Jahr 1998 äußerst günstig erscheint. Überdies hatte er schon zwei Jahre zuvor für eine Million Franken den Geschäftsfonds der Reinigung erworben, die nur Tage später in Konkurs ging, und er wurde gleichzeitig zum Mieter der Fabrik und kaufte die Maschinen darin. Im Vertrag steht eine Klausel, nach welcher der frühere Betreiber für zwei Wochen mit seinem Knowhow zur Verfügung stehe, um die Maschinen wieder anlaufen zu lassen. Das jedoch, so der Beschuldigte, bedeute nicht, dass er die Reinigung betreiben wollte. Die Formulierung sei „Standard“; er selber sei damals nur am Parkplatz der alten Reinigung interessiert gewesen, den er den Gästen seines Restaurants unweit der Reinigung zur Verfügung stellte. Er habe verhindern wollen, dass der Parkplatz nach dem absehbaren Konkurs der Reinigung an einen anderen verloren ginge.
Dass 19 Mitarbeiter der DS Corporation als Nebenkläger vor Gericht auftreten, macht die komplexe Affäre plastischer. Zwar gibt es zu der Frage, welchen Risiken sie ausgesetzt waren, als ihr Betrieb 27 Monate lang in der umfunktionierten Reinigung ansässig war, eine Art Gutachterstreit. Am Donnerstag meinte der Luxemburger Toxikologe Robert Wennig ebenso wie sein Kollege Robert Garnier aus Paris am Montag, es lasse sich nicht genau sagen, ob die gemessene Belastung mit PER und anderen Chemikalien chronische Schädigungen nach sich gezogen habe. Neurologische Beeinträchtigungen hatte ein Trierer Neurologe an zehn der früheren Mitarbeiter festgestellt, doch diese Befunde seien nicht präzise genug, so Garnier. Insgesamt war er der Meinung, anhand der vorliegenden Daten dürften Gesundheitsbeschwerden nur vorübergehender Natur sein; chronische seien wenig wahrscheinlich.
Das heißt im Umkehrschluss aber auch: Ganz auszuschließen sind sie nicht. Und der Experte beklagte die Datenlage: unpräzise, mittelmäßig, unvollständig. Man hätte „richtig“ messen und testen müssen. Damit aber stellt die Frage sich, ob jemand ein Interesse daran hatte, nicht richtig zu messen. Der Besitzer der Immobilie etwa? 2004 hatte auch er Messungen in Auftrag gegeben, weil er den früheren Besitzer beschuldigte, die Dekontamination des Grundstücks versäumt zu haben. Manche Messungen endeten mit besorgniserregenden Resultaten. Das Büro Soresma aus Namur etwa stellte im Mai 2004 „ernsthafte Belastungen“ des Grundwassers mit zwei PER-Zerfallsprodukten fest; der „Interventionswert“ sei, je nach Substanz, um den Faktor 1 260 beziehungsweise 1 020 überschritten und nicht auszuschließen, dass irgendwo im Boden oder im Wasser „primäre Verschmutzer“ in „reiner Form“ lauerten. Wegen der „beträchtlichen Belüftung“ konnten die belgischen Ingenieure aber keine Messungen an der Raumluft vornehmen.
Das ist interessant. Der Anwalt der Nebenkläger wies vor Gericht darauf hin, dass er durch Gerichtsvollzieher mehrfach feststellen ließ, dass 2004 in dem längt geräumten Gebäude alle Fenster sperrangelweit geöffnet waren. Wollte der Besitzer bessere Messwerte? Auch dem Büro Socotec aus Howald waren, bei Tests im Auftrag des Besitzers, Luftanalysen nicht möglich. Dafür fand es etwas anderes: Im Küchenbereich des Gebäudes war das Leitungswasser mit 480 Mikrogramm PER pro Liter belastet, im Sanitärbereich mit 570 Mikrogramm pro Liter. Der zulässige Maximalwert liegt bei zehn Mikrogramm. Es sei „nicht zu empfehlen“, in dem Gebäude „Wasser vom Hahn zu trinken“, resümierte Socotec lakonisch. Was davon zu halten ist? PER-Trinkwasserbelastungen in dieser Höhe hatte kein anderer Test ermittelt. Vielleicht habe die hohe Konzentration sich in der Leitung angesammelt, da das Gebäude nicht mehr genutzt wurde, oder PER sei von außen her in die Plastik-Wasserleitungen hinein diffundiert, schätzte 2004 das Gutachterbüro GFA aus Berlin. Aber: Hätte man der Belastung des Wassers nicht gezielter nachgehen müssen? Das von den Nebenklägern angerufene Gefahrstoffbüro Professor Stephan aus Halle meinte im April 2009, man müsse klären, ob nicht etwa die Trinkwasserquelle Pulvermühle PER-belastet sei. Dazu sei die Quelle abzuschalten und zeitweilig nur Sebes-Trinkwasser in die Leitungen zu speisen. Überhaupt sei eine „vollständig neue Messkampagne des gesamten Expositionspfads (Boden, Grundwasser, Bodenluft, Raumluft) durch ein autorisiertes Labor nötig.
Doch eine neue Messkampagne, diesmal aus einer Hand, aus einer Hand wurde nicht mehr bestellt. Aber hätten, so fragt man sich, nicht auch staatliche Stellen aktiv werden müssen? Die ITM kannte die Angelegenheit ab 2002, ebenso die Gesundheitsdirektion. Das Wasserlabor schaltete sich 2003 ein, wie auch die Umweltverwaltung, die in der Kommodo-Frage zu recherchieren begann. Auf ihre Empfehlung hin ordnete der damalige Umweltminister Lucien Lux (LSAP) Anfang 2007 an, der Besitzer der Immobilie habe ihren Zustand zu analysieren und müsse sie dekontaminieren. Ein Einspruch des Besitzers vor dem Verwaltungsgericht wurde abgewiesen.
Der Eindruck, dass die Verwaltungen nicht genug unternahmen – vor allem nicht gemeinsam –, kommt durchaus auf. 1985 ging der Betrieb der Reinigung von der Express s.a., die 1949 von Nicolas Scholer gegründet worden war, an einen Mitarbeiter der Reinigung über, der dazu die Express Chemische Reinigung s.à r.l. gründete. Der neue Betreiber wurde 1991 von Umweltverwaltung und ITM aufgefordert, eine Kommodo-Genehmigung für seinen Betrieb zu beantragen. Die bisherige Genehmigung, die von 1950 datierte, hielten die Verwaltungen für nicht mehr ausreichend. Doch während das Arbeitsministerium dem Betreiber die Genehmigung, die Arbeitssicherheit betreffend, 1993 erteilte, gab die Umweltverwaltung die den Umweltschutz betreffende nie.
Weshalb nicht, konnte auch der langjährige Chef der Abteilung Kommodo und heutige stellvertretende Direktor der Verwaltung vor Gericht nicht erhellen. War er doch erst ab 1999 zuständig für die Kommodo-Abteilung. Ein Mitarbeiter der Abteilung aber berichtete dem Gericht, er habe 1998, als die Reinigung schon nicht mehr in Betrieb war, von einer Person, die sich ihm als Geschäftsführer der Express Services s.a. vorgestellt habe, eine Studie der Hannover Umwelttechnik GmbH (HUT) erhalten. Das Papier war damals schon zehn Jahre alt; 1988 hatte HUT an drei Tagen das Betriebsgelände der Reinigung, als die noch in Betrieb war, untersucht. Resultat: „Erhebliche Kontaminationen“ im Boden, und es sei zwar „unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen“, dass durch den Betrieb kontaminiertes Grundwasser „unterhalb der Alzette“ abfließe. Von diesem „sehr erstaunlichen Bericht“, sagte der Beamte aus, habe er unverzüglich seine Vorgesetzten informiert. Doch die Verwaltung unternahm nichts: Gegenüber der Kriminalpolizei gab der Beamte zu Protokoll, intern sei entschieden worden, „trotz Anwesenheit dieser schädlichen Substanz sei eine Intervention nicht opportun“ gewesen. Stattdessen behielt man das Fabrikgelände „in Erwartung seiner künftigen Nutzung unter Beobachtung“.
Heute schlägt das auf die Verwaltung zurück: Der Anwalt des Beschuldigten erklärte in seinem Plädoyer am gestrigen Donnerstag, die Verwaltung hätte seinen Mandanten, der von dem HUT-Bericht nichts gewusst haben will, informieren müssen. Dass sie das nicht tat, sei ein Hinweis darauf, dass er ohnehin keine Betriebsgenehmigung für die Büroflächen erhalten hätte.
Man kann sich aber auch die Frage stellen, ob die Verwaltung das Dossier „Pulvermühle“ nicht zu groß werden lassen wollte. Sie muss zwar nicht gewusst haben, was ehemalige Arbeiter der Reinigung gegenüber der Kriminalpolizei erklärten: Dass in den Siebzigern und bis Anfang der Achtzigerjahre das Personal keine Anweisungen über den Umgang mit den Chemikalien erhielt. Dass damals Rückstände aus den Reinigungsmaschinen, die auch Perchlorethylen enthielten, einfach draußen auf den Boden geschüttet wurden. Oder dass es ab und zu Pannen an den Maschinen gab und PER dann in den nächstbesten Abfluss gelassen wurde, um direkt in die Alzette zu gelangen. Zwei bis drei Mal im Jahr sei das vorgekommen; jedes Mal gerieten 60 Liter Lösungsmittel in den Fluss. Erst nach dem Betreiberwechsel 1985 habe sich das geändert.
Sollte vielleicht die Wasserbelastung größer sein als angenommen? Vor Gericht schnitt bisher niemand das Thema Wasser an. Saniert ist das Gelände in Pulvermühle bis heute nicht; mag sein Besitzer auch vor dem Kadi stehen und der Umweltminister 2007 verlangt haben, binnen dreier Monate müsse etwas geschehen. Der letzte Briefwechsel datiere vom Januar, gab der stellvertretende Direktor der Umweltverwaltung an; man habe alle Mittel ausgeschöpft. Doch er hofft, „im Rahmen eines neuen Teilbebauungsplans“ über den der Immobilienunternehmer mit der Gemeinde Luxemburg im Gespräch sei, würden „die nötigen Studien vielleicht doch gemacht und dann saniert“. Die Gerichtsverhandlung wird am Montag mit dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft fortgesetzt. Der Anwalt der Nebenkläger plädierte gestern für neue Gesundheitstests an seinen Mandanten.