In Luxemburgs Psychiatrien finden keine schweren Menschenrechtsverletzungen statt, auch dann nicht, wenn es um Zwangsmaßnahmen wie das Einweisen von unwilligen und Fixieren von aggressiven Patienten geht. Das ist das Fazit des ersten Berichts des Kontrolldienstes von Ombudsfrau Lydie Err, welcher die Situation von Menschen überprüft hat, die gegen ihren Willen in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurden.
Das Gesetz, das psychiatrische Zwangsmaßnahmen regelt, trat 2009 in Kraft und bildet einen wichtigen Baustein in der Dezentralisierung und Professionalisierung der luxemburgischen Psychiatrie. Heute, gut drei Jahre später, scheinen gravierende Missstände in der Psychiatrie weitestgehend der Vergangenheit anzugehören. Allerdings fehlen noch immer die Ausführungsbestimmungen zu den architektonischen und organisatorischen Mindestnormen, wie Bettenanzahl und Betreuungsschlüssel, wie Err kritisch anmerkte.
In allen überprüften psychiatrischen Landeskrankenhäusern laufen Zwangsmaßnahmen, wie das Einweisen und Fixieren von Patienten gegen ihren Willen, nach einem für alle Spitäler gültigen Verfahren ab. Eine Zwangseinweisung ist nur noch mit richterlichem Beschluss erlaubt, und bei der Fixierung muss ein Arzt genau abwägen, ob sie nötig ist. Fixiert, also an ein Bett angeschnallt, darf ein Patient nur werden, wenn es kein anderes Mittel gibt, um ihn vor sich selbst, beziehungsweise seine Umgebung vor ihm zu schützen.
Daran halten sich die Psychiatrien. Das ist die gute Nachricht. Bedenken hat das Prüfer-Team Serge Legil und Lynn Bertrand um Lydie Err dennoch angemeldet. Die Vorgehensweisen und Angebote für die Patienten in den Kliniken sind zum Teil sehr unterschiedlich. Beispiel Fixierung: Ein Patient kann von einem Punkt an seinem Körper bis zu an zehn verschiedenen Stellen fixiert werden. Eine Anleitung, wie, wo und vor allem in welchen Gefahrensituationen fixiert wird, gibt es nicht.
Generell liegt die Rate von fixierten Personen, die auf geschlossenen Stationen untergebracht, deutlich höher, als bei Patienten auf der offenen Station. Auf der Geschlossenen sind meist die problematischeren Fälle untergebracht. Auf den psychiatrischen Stationen des hauptstädtischen CHL etwa, die zwischen August 2011 und Ende Juli 2012 rund 1 000 Fälle versorgten, wurden 48 Patienten insgesamt 84 Mal fixiert. Auf der Geschlossenen waren es zwölf Prozent aller Patienten, zählt man die der Offenen hinzu, lag die Quote bei 4,6 Prozent. Einige wurden mehrfach fixiert. Die durchschnittliche Dauer betrug rund sieben Stunden.
Wegen Platzmangel geschehen die Fixierungen in verschiedenen Krankenhäusern teilweise im Krankenzimmer des Patienten oder in einem Doppelzimmer. Das sieht die Mediateurin nicht gern. Eine Zwangsfixierung sei grundsätzlich eine traumatisierende Maßnahme, nicht nur für den Patienten sondern auch für die Zimmergenossen. Zudem „sei es entwürdigend und degradierend für eine Person, in einem Zimmer fixiert zu werden, in dem sich bereits ein anderer Patient befindet“, so steht im Prüfbericht. Um andere Patienten nicht zu beunruhigen, sollten Fixierungen grundsätzlich nicht im Beisein von unbeteiligten Dritten geschehen, so die Empfehlung, ebenso sollte das Fixieren in den Zimmern der Patienten vermieden werden: Oft ist das ihr einziger Rückzugs- und Schutzraum.
Schwere Irregularitäten bei Fixierungen und Isolierungen gab es offenbar keine, abgesehen davon, dass in einem Einzelfall in Esch ein Patient mehrfach fixiert und dabei offenbar nicht genügend deutlich wurde, warum der Arzt dies angeordnet hatte. Ein Patient hatte sich beschwert, dass er 15 Tage lang fixiert wurde, und hatte dies als Strafe empfunden. Zwangsmaßnahmen dürfen nur als ultima ratio, und keinesfalls als disziplinarisches Mittel oder Strafe eingesetzt werden.
Der Escher Fall zeigt auch die Schwäche des externen Kontrollsystems. Die Ombudsfrau und ihr Team untersuchen lediglich, ob die Fixierungen regelkonform durchgeführt werden, sie hören dazu Ärzte, Pfleger und Patienten und können auch Einblick in medizinische Akten und Logbücher nehmen. Warum genau ein Patient fixiert wurde, ob die Fixierung angezeigt und ein angemessenes Mittel war, ist aber im Nachhinein schwierig herauszufinden. Schließlich dürfte das Gros der Fixierungen geschehen, wenn die Ombudsfrau nicht im Haus ist. Der Bericht erfasst zwar, wie oft welche Abteilung auf welche Fixierung zurückgreift, noch wichtiger aber wären, so schreibt die Chefinspektorin, klare einheitliche Regeln, an die sich alle halten und die intern streng überwacht werden. Und die gibt es selbst international nicht.
Im Jahr 2000 führten Wissenschaftler der Universität Helsinki eine Metastudie zu der Problematik durch. Sie verglichen, welche internationalen Studien es zu psychiatrischen Zwangsmaßnahmen bislang gibt. Erschreckendes Ergebnis: Es fehlt allerorts an verlässlichen Daten. Die wenigen Studien, die es gibt, sind nicht sehr aussagekräftig, weil meistens nur wenige Patienten daran teilnahmen.
Das Projekt Eunomia (European Evaluation of Coercion in Psychiatry and Harmonisation of Best Clinical Practices), das mit Geldern der EU finanziert wird und an dem zwölf EU-Mitgliedstaaten teilnehmen, will das ändern. Leider zählt Luxemburg nicht zu den Teilnehmern. Vorläufiges Fazit: Umfang und Art der Zwangsmaßnahmen unterscheiden sich in den EU-Staaten stark voneinander. So werden in Deutschland rund 18 Prozent der Einweisungen in ein psychiatrischen Krankenhaus gegen den Willen des Patienten vorgenommen, in Portugal sind es nur drei Prozent, und in Schweden 30 Prozent. Allerdings sagt die Zahl alleine nicht viel aus, wenn beispielsweise die ambulante Erstversorgung viele Problemfälle auffängt.
Studien ergaben, dass fixierte Patienten in Deutschland oft über 70 Jahre alt und dement sind. Lydie Err thematisiert im Bericht die (wachsende) Gruppe der Altersdementen, wie viele von ihnen zwangsbehandelt werden, lässt sich dem Bericht aber nicht entnehmen. Sie zitiert eine interne Statistik der Krankenhäuser, wonach zwölf Prozent der Patienten, die in eine Psychiatrie eingewiesen wurden, über 70 Jahre alt waren und an Demenz litten. Sie wurden teils nachts ans Bett angeschnallt, damit sie sich nicht herausfallen und sich verletzen. Die Mediateurin empfiehlt, die Betten etwas niedriger einzustellen. Der Punkt dürfte bei den Beratungen mit dem Familien- und dem Gesundheitsministerium eine Rolle spielen, die derzeit einen Aktionsplan für den Umgang mit dementen Menschen erarbeiten.
Welche Patiententypen wann welche Zwangsmaßnahmen erfahren, geht aus dem Bericht nicht hervor. Dabei wäre das aufschlussreich: Nicht nur ,weil es erklären könnte, warum in einer Klinik mehr Zwangsmaßnahmen erfolgen als in einer anderen. Detallierte Studien zu psychiatrischen Zwangsmaßnahmen wären auch deshalb sinnvoll, um zu dokumentieren, wie sich die Psychiatrie wandelt. In der psychiatrischen Fachliteratur vor 20 Jahren wurden Fixierungen insbesondere bei psychotischen Patienten empfohlen, die so zur Ruhe gebracht werden sollten. Heute fragen sich Experten, ob es nicht Patientengruppe gibt, bei denen eine Zwangsbehandlung unbedingt vermieden werden sollte, etwa bei Personen, die sexuell missbraucht wurden, oder bei suizidgefährdeten Patienten. Immerhin: In Luxemburg wird das Krankenpflegepersonal für den Einsatz von Zwangsmaßnahmen geschult.
Die Patientenwürde zu achten, bedeutet nicht nur Grundrechte wie die körperliche Unversehrtheit zu respektieren. Die Prüfer beanstandeten auch Klinikfenster, die sich nicht einmal zur Belüftung öffnen ließen, fehlendes (zu teures) Trinkwasser oder eingeschränkten Zugang zu Therapieangeboten. Patienten in geschlossenen Einrichtungen haben, ebenso wie Patienten auf offenen Stationen, das Recht auf Bewegung und eine (würdige) Behandlung und Beschäftigung. Das stellt manche Krankenhäuser, wie das CHL, das Centre hospitalier du Nord, wo ein Patient fünf Wochen ohne Ausgang eingesperrt war, oder die Escher Klinik, vor Probleme. Teils weil die Stationen zu klein sind, es an therapeutischem Personal mangelt oder weil aufgrund von Sicherheitsbedenken Patienten nicht nach draußen gelassen werden.
Einen krassen Fall stellt die Station BU6 der Ettelbrücker Psychiatrie dar. Die Abteilung, in der Patienten untergebracht sind, die nach Artikel 70 und 71 des Strafgesetzbuches straffällig geworden, aber nicht schuldfähig sind, war in der Vergangenheit wiederholt in den Schlagzeilen: weil gefährliche Insassen den Freigang zur Flucht nutzten. Daraufhin wurden Spaziergänge an der frischen Luft zunächst deutlich reduziert. Doch selbst dem gefährlichsten Insassen steht, ebenso wie Häftlingen im Strafvollzug, mindestens eine Stunde täglich Ausgang unter freiem Himmel zu. Das sehen internationale Bestimmungen so vor. Als Lydie Errs Vorgänger Marc Fischbach im Jahr 2010 das erste Mal die forensische Abteilung im CHNP besuchte, zeigte er sich geschockt: „Le contrôleur est consterné par la manière de laquelle ces personnes sont traitées dans un établissement hospitalier national.“
Sein Protest trug Früchte: Der Staat investierte in die teils sehr marode Struktur des Ettelbrücker Building, wie das Hauptgebäude im Volksmund genannt wird. Der mit einer vier Meter hohen Mauer umzäunte Minihof auf dem Dach des Gebäudes, wird nur noch zum Rauchen, aber nicht mehr für den Hofgang genutzt. Dafür gibt es einen kleinen überwachten Hof hinter dem Building. Grundsätzlich aber, betont Nachfolgerin Lydie Err, eignen sich die Strukturen im CHNP nicht für gefährliche psychisch gestörte Straftäter. Im Gespräch mit dem Land hatte sich CHNP-Generaldirektor Marc Graas sehr besorgt gezeigt: Nicht nur, um die Patienten zu schützen, sondern auch zum Schutz der Mitarbeiter sei es wichtig, „rasch eine Lösung zu finden“.
Die gibt es im Grundsatz auch: Im Rahmen der Strafvollzugsreform soll innerhalb der Mauern der Schrassiger Vollzugsanstalt eine gesicherte forensische Abteilung gebaut werden. Das habe den Vorteil, dass die Sicherheitsstrukturen – Wachpersonal, Mauern – bereits existieren, argumentieren die politisch Verantwortlichen. Gleichwohl soll die Abteilung unabhängig von der Gefängnisdirektion funktionieren. Sie wäre dem CHNP unterstellt. Dann könnten auch die Transporte zwischen Gefängnis und Psychiatrie reduziert werden, ein weiterer Punkt, den die Ombudsfrau in ihrem Kontrollbericht beanstandete. Häftlinge, die in ein Krankenhaus zur psychiatrischen oder sonstigen Behandlung müssen, werden häufig von uniformierten Polizisten begleitet. Schon Marc Fischbach hatte dies als Verletzung von Persönlichkeitsrechten beanstandet. Err weist auf eine weitere Gefahr hin: Weil die Polizeibeamten bewaffnet sind, bestehe ein zusätzliches Sicherheitsrisiko, sollte ein Häftling die Dienstwaffe entwenden. Dass das kein Hirngespinst ist, zeigt ein Ereignis, wo ein Häftling eben das versuchte. Seine Attacke konnte im letzten Moment durch einen Polizisten abgewehrt werden.
Auf die Problematik psychisch kranker Häftlinge und straffälliger psychisch Kranker kommt Err auch in ihrem Gutachten zur geplanten Strafvollzugsreform zu sprechen, das sie der Presse vorstellte. Der Plan, die Forensik innerhalb, respektive an den Gefängnismauern der Schrassiger Vollzugsanstalt zu bauen, sei ein Kompromiss. Grundsätzlich sollen Psychiatrie und Gefängnis getrennt sein: Menschen, die unter Artikel 70 und 71 des Strafgesetzbuches verurteilt werden, haben zwar schlimmes Unrecht begangen, aber sie waren nur vermindert oder gar nicht schuldfähig. Die Menschenrechtskommission betont in ihrer Stellungnahme zum Bericht der Ombudsfrau, dass eine „strikte Separierung“ zwischen Psychiatrie und Gefängnis unbedingt gewährleistet bleiben müsse, schließlich handele es sich bei der Einweisung in eine Forensik eben nicht um eine Strafe. Lydie Err versteht die Einwände, ihre Antwort fällt jedoch pragmatischer aus: Weil die nötige Anzahl an Patienten fehle, um eine eigenständige Forensik zu bauen, die Zeit aber dränge, eine Lösung für die Betroffenen zu finden, kann sie mit dem Kompromiss leben. Allerdings nur unter strengen Auflagen. Beide, Psychiatrie und Gefängnis, sollten baulich weitestgehend getrennt sein. So solle die Forensik bestenfalls über einen eigenen Zugang verfügen. Die Forensik dürfe auch nicht im Sichtfeld der Häftlinge liegen.
Unabhängig davon, welche Variante die politisch Verantwortlichen schlussendlich zurückbehalten werden: Von der unterschiedlichen Bewertung, der „Konkurrenz“ zwischen Mediateurin und Menschenrechtskommission, ihrem doppelt kritischen Blick auf mögliche Menschenrechtsverletzungen, können die Betroffenen nur profitieren. Um sie geht es schließlich.