Immer öfter werden „präventive“ Gentests verschrieben. Die Gesundheitskasse und der Minister sind aufgeschreckt: Es gibt für die Tests keine Regeln

Horch, das Gen spricht

d'Lëtzebuerger Land vom 22.03.2013

Kennen Sie 4PGenomics? So heißt eine neue Produktlinie der Laboratoires Réunis in Junglinster. Man findet sie im Internet unter www.4pgenomics.com, und wer auf seine Gesundheit bedacht ist, könnte sie interessant finden. Sie umfasst 23 verschiedene „präventive“ Gentests. Sie geben Auskunft über ein genetisch bedingtes Risiko, eines Tages womöglich von bestimmten Erkrankungen heimgesucht zu werden.

Ermittelt wird zum Beispiel die Veranlagung für eine bestimmte Form von Grünem Star. Oder es wird einem Darmkrebsrisikofaktor nachgespürt, oder einem für Prostatakrebs, oder Störungen auf Zellniveau, die bei der Entstehung von Alzheimer und Parkinson eine Rolle spielen. Wiederum ein anderer Test verspricht zu erläutern, ob man genetisch zu Übergewicht veranlagt ist. Ein weiterer ist auf Ursachen individueller Nikotinsucht zugeschnitten. Ein Rundum-Paket Well-Being gibt es auch. Es erfasst, so steht zu lesen, „die individuellen Entgiftungskapazitäten, kardiovaskuläre Erkrankungen, Gesundheit der Haut, der Zähne und der Knochen, Gewichtskontrolle, körperliche sowie geistige Fitness“. Und es wird erklärt: „Die personalisierten Empfehlungen ermöglichen das Altern effizient zu verzögern.“

Eigentlich müssten die Gesundheitskasse und der Gesundheitsminister über dieses neue Angebot erfreut sein, könnte man meinen. Erstere, weil sie seit Inkrafttreten des Einheitsstatuts nicht mehr „Krankenkassenunion“, sondern „Gesundheitskasse“ heißt. Was suggeriert, sie werde nicht nur aktiv, wenn Erkrankungen zu kurieren oder zu lindern sind. Minister Mars Di Bartolomeo (LSAP) wiederum predigt seit seinem Amtsantritt vor knapp neun Jahren, welch wichtiges „Kapital“ die Gesundheit für einen jeden sei. Und er hält darauf, innerhalb der Regierung eine wesentliche Rolle gespielt zu haben, als vor fünf Jahren entschieden wurde, die biomedizinische Forschung im Lande in Richtung einer „personalisierten Medizin“ anzukurbeln.

Doch weder der Minister noch die Kasse sind erfreut. Di Bartolomeo hat ministeriumsintern eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die darüber beraten soll, wie mit solchen Gentests umzugehen ist. Die CNS wiederum hat den Laboratoires Réunis einen Brief geschrieben: Für „prädiktive“ Tests werde sie nicht die Kosten rückerstatten. Wer sich für 4PGenomics interessiert, sollte sich das merken: Jeder Gentest aus dieser Reihe kostet zwischen 300 und 500 Euro, das Well-Being-Paket sogar 1 900 Euro.

Sind die Tests Unsinn? „Das sagen wir nicht“, erklärt Geneviève Klepper von der CNS. Vielmehr unterscheide die Kasse zwischen „diagnostischen“ Tests im Zusammenhang mit einer Erkrankung oder einem Krankheitsverdacht und „prädiktiven“. Diagnostische Tests werden schon lange vorgenommen, nicht zuletzt von den Laboratoires Réunis, und die Kasse zahlt dafür im Rahmen der Labor-Gebührendordnung. Dagegen sind Tests, die ein genetisch bedingtes, relatives Risiko vorhersagen, im Laufe des Lebens womöglich von der einen oder anderen Erkrankung heimgesucht zu werden, für die CNS ein „neues Phänomen, dass es vor sechs Monaten so noch nicht gab“. Präventive Gentests, so Klepper, fallen nach Ansicht der CNS nicht unter Artikel 23 des Sozialversicherungsgesetzbuchs. Der besagt, dass die Kasse nur für das aufkommt, was „nützlich und notwendig“ ist. Ob es bei dieser Sicht auf die präventiven Tests bleibt, sollen die Beratungen in der CNS mit dem Ministerium ergeben.

Anscheinend aber geht es der Kasse nicht nur um die Tests der 4PGenomics-Reihe aus Junglinster. „Wir hatten ohnehin nicht damit gerechnet, dass die CNS die rückerstattet“, sagt Bernard Weber, der Generaldirektor der Laboratoires Réunis. 4PGenomics ist ein internationales Projekt, das sein Labor mit Partnern in Südafrika, Großbritannien, Deutschland, Spanien und den Niederlanden betreibt und vertreibt. Beteiligt ist auch die Russland-Niederlassung der Laboratoires Réunis in Moskau, auf deren Internetseite die Testmethode sogar ausführlicher erläutert wird als auf der des Mutterhauses in Junglinster. „4PGenomics geht für uns in Richtung Privatmedizin“, sagt Weber. In Luxemburg würden sich dafür „erst wenige Ärzte“ interessieren, „die im Bereich Anti-Aging besonders aktiv sind und eine ganz spezielle Klientel haben“. Den Well-Being-Test verkaufe man bislang nur im Ausland.

Wenn die CNS feststellt, dass in den letzten Monaten präventive Gentests besonders zugenommen hätten, sind auch Tests auf eine genetische Veranlagung zu bestimmten Krebserkrankungen gemeint, die über das hinausgehen, was unter die 4PGenomics angeboten wird. Solche Tests führen nicht nur die Laboratoires Réunis durch, sondern auch das Laboratoire national de Santé. Die Kosten pro Test liegen bei über 3 000 Euro. Das Anfang des Jahres in eine öffentliche Einrichtung privaten Rechts umgewandelte frühere Staatslabo will in den Genanalysen noch aktiver werden. Zumal es eine Spezialistin für genetische Medizin unter Vertrag hat, die Interessenten an präventiven Gentests dazu berät, ihnen nach dem Test auch die Resultate erläutert und mit ihnen das weitere Vorgehen bespricht.

Damit könnte Luxemburg vor einer Diskussion stehen, in der es nicht nur darum geht, wer für welche präventiven Gentests bezahlt. Sondern auch um den Aussagewert der Tests und ihre Grenzen, und darum, in welchem Rahmen sie vorgenommen werden sollten.

Die Häufung von Gentest-Abrechnungen in der letzten Zeit hat die CNS auch aufgeschreckt, weil es zu solchen präventiven Analysen im Grunde keinerlei verbindliche Regelungen gibt. „In Belgien werden solche Tests nur in spezialisierten Zentren vorgenommen“, weiß Geneviève Klepper. Dort seien die Qualität und der Datenschutz garantiert und die Patienten würden vor und nach dem Test betreut. Nach Ansicht der CNS müsste das in Luxemburg ebenfalls so sein.

Aus Patientensicht ist das ein wichtiger Punkt. Ganz regellos aber sind auch die 4PGenomics-Tests aus Junglinster nicht angelegt. Man habe sich drei strenge Prämissen gegeben, versichert Laborchef Weber. Erstens unterlägen alle Tests einer permanenten Qualitätskontrolle. Zweitens werde anhand wissenschaftlicher Publikationen überprüft, ob man aus den Tests die richtigen Schlüsse zieht. Und drittens fühle man sich auch für den klinischen Nutzen der Ergebnisse zuständig: „Eine bestimmte genetische Neigung zu einer Erkrankung festzustellen, ist schön und gut, aber die Gene sind ja nicht alles.“ Ob sich womöglich mal einstellt, wozu ein Mensch veranlagt ist, entscheide er im großen Maß durch seinen Lebensstil mit. Deshalb muss jedem Testantrag ein ausführlicher Fragebogen beigefügt sein, in dem persönliche Vorerkrankungen und solche in der Familie, aber auch Ernährungsgewohnheiten, Alkokohol- und Tabakkonsum genau anzugeben sind. „Daraus, und aus den Testergebnissen leiten wir anschließend Empfehlungen ab, wie man sein Verhalten ändern sollte“, so Weber. Im übrigen würden die Tests nicht einfach so vorgenommen, auch wenn der Patient dafür vorab bezahlen muss – gerne online über die Webseite des Labors. Am Anfang stehe immer eine ärztliche Verschreibung.

Damit unterscheidet sich, was die Laboratoires Réunis anbieten, von Gentests, wie sie in den USA per Internet erhältlich sind. Dort haben sich Start-up-Firmen auf Massenangebote spezialisiert. Die vielleicht bekannteste ist 23andMe, die von Anne Wojcicki, der Ehefrau von Google-Mitbegründer Sergej Brin, gegründet wurde. Als 23andMe – die 23 im Firmennamen ist eine Anspielung auf die 23 Chromosomen im Menschen – 2007 an den Start ging, bot sie Gen-Scans zum Preis von 995 Dollar an. Mittlerweile liegt der Preis dafür bei 99 Dollar. Nach Einsendung einer Speichelprobe erhält der Kunde ein paar Wochen später einen Befund, in dem nicht nur die prozentuale genetische Veranlagung für 120 Krankheiten im Vergleich zu einer Referenzpopulation aufgelistet ist, sondern auch steht, für welche von 49 möglichen Abweichungen man ein „Träger“ sein kann, um sie weiterzuvererben. Außerdem wird die voraussichtliche Reaktion auf 21 Medikamente getestet – von Blutdrucksenkern bis hin zu Arzneien gegen Gelbsucht –, und zu guter Letzt erhält man noch Auskunft zu 57 genetisch bedingten Merkmalen, von der Augenfarbe über die Muskeleffizienz bis hin zur Gedächtnisleistung. Allerdings: Bei den wenigsten der so erhobenen Daten ist die Treffsicherheit durch wissenschaftliche Stu-dien abgesichert. Für welche dem nicht so ist, teilt 23andMe offen mit. Und die Firma nennt ihr Angebot vorsichtshalber nicht Gentest, sondern „Information“. Denn die Frage, ob solche Tests für jedermann nicht doch grundsätzlich ärztlich verschrieben werden sollten, beschäftigt in den USA den nationalen Ärzteverband und die Bundes-Arzneimittelbehörde noch immer.

Technisch gesehen aber basieren die präventiven Tests, wie sie in den Laboratoires Réunis in der 4PGenomics-Reihe angeboten werden, auf demselben Prinzip wie in den Start-ups nach dem Google-Geschäftsmodell: Sie sequenzieren nicht etwa das gesamte Genom der Testperson, denn das ist noch immer aufwändig. Stattdessen wird nach bestimmten Abweichungen gesucht, die sich nach bisherigem wissenschaftlichen Kenntnisstand auf Veranlagungen zu Krankheiten zurückführen lassen (siehe nebenstehenden Text).

Das macht die Tests anfällig für Kritik, auch aus der Biomedizinbranche selbst. Die Laboratoires Ketterthill zum Beispiel bieten präventive Gentests nicht an und hätten das auch nicht vor, wie ihr Generaldirektor Jean-Luc Dourson erklärt: „Ihre wissenschaftliche Validität ist noch immer diskutabel.“ Dourson sieht aber noch ein Problem: Welchen medizinischen Nutzen hat die Angabe von Risiken, die selbst die wissenschaftlich am besten abgesicherten Tests nur in Prozent angeben können? Dourson gibt ein Beispiel. „Man weiß, dass sich aus einer Mutation im Gen BRCA-1 eine prozentual erhöhte Anfälligkeit ergibt, an Brustkrebs zu erkranken. Man kann aber nicht sagen, ob eine Frau mit dieser Mutation tatsächlich erkranken wird und wann.“ Wofür sei der Befund dann gut? Sollte die Betroffene sich etwa nur deshalb vorsorglich ihre Brüste wegoperieren lassen, wenngleich nicht auszuschließen sei, dass sie nie erkranken würde?

Doursons Einwand berührt das Patientenrecht, „nicht zu wissen“. Im Entwurf zum Patientenrechtsgesetz, das derzeit im parlamentarischen Gesundheitsausschuss diskutiert wird, steht es ausdrücklich verankert. Der ärztliche Deontologiekodex schreibt jetzt schon vor, dass ein Mediziner dieses Recht achten muss. Und falls ein Arzt der Auffassung ist, dass dies im Interesse des Pa-tienten sei, kann er ihm bestimmte Informationen sogar verschweigen – zumindest zeitweise. Müssten vor dem Hintergrund präventiver Gentests solche Regeln womöglich überdacht werden?

Bei der CNS ist man der Meinung, dass die Tests deontologische Fragen aufwerfen, und zwar ganz akute. Muss ein Patient, der einen Test aus der Präventiv-Palette der Laboratoires Réunis verschrieben bekam, doch in einer Einverständniserklärung versichern, ausführlich aufgeklärt worden zu sein. Doch wie die Dinge liegen, dürfte es sogar Ärzten schwerfallen zu entscheiden, was „ausführlich“ wäre. Laborchef Weber aus Junglinster, selber Facharzt für Immunologie, räumt ein, dass wohl längst nicht jeder Arzt seinen Patienten erklären könne, wonach genau die Tests suchen und was aus den Resultaten folge.

„Doch wer die Tests verschreibt, weiß, worauf er sich einlässt“, lautet Webers Ansatz. Und er sagt: „Das Resultat eines präventiven Gentests ist keine Fatalität.“ Es könne ein Anreiz sein, gesünder zu leben. Man könne das vergleichen mit einem Bluttest, der einen zu hohen Cholesterinwert ergibt.

Vermutlich aber ist der Kreis der potenziellen Verschreiber ziemlich eng. Ob dazu jeder Hausarzt in Frage käme? Claude Schummer, Generalsekretär des Ärzteverbands AMMD und Allgemeinmediziner, erklärt: „Ich könnte solche Tests nach bestem Wissen und Gewissen nicht verschreiben.“ Die große Frage sei, was zu tun wäre, wenn ein Test mit einem problematischen Resultat endet. Zwar habe er an Fachseminaren über Gentests teilgenommen, die die Laboratoires Réunis anboten. „Die waren sehr interessant, aber ganz ehrlich: Ich verstehe von dieser Materie trotzdem nichts.“

Dass jüngere Allgemeinmediziner mit ganz frischem Uni-Wissen am ehesten präventive Gentests verordnen könnten, ist ebenfalls nicht gesagt. „Ich kenne“, sagt Paul Heuschling, Professor für Molekularbiologie an der Universität Luxemburg, „ältere Hausärzte, die stundenlang über Genetik referieren können, weil sie sich dafür interessieren.“ Dagegen hätten so manche jüngere ihr Genetik-Wissen aus der Grundausbildung an einer ausländischen Uni schon nach ein paar Jahren Berufspraxis wieder vergessen, weil sie es im Alltag kaum benötigen.

Wenn schon präventiv getestet werden soll, dann von „spezialisierten Teams“, findet der AMMD-Generalsekretär. Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo erklärt im Gespräch mit dem Land, die Diskussion zu den Gentests sei „lanciert“. Gegenüber präventiven Tests findet der Minister „eine gewisse Reserviertheit nicht unangebracht“. Einen „Mehrwert“ erkenne die mit der CNS gebildete Arbeitsgruppe „im Moment hauptsächlich bei weiterführenden therapeutisch-diagnostischen Tests und nicht bei präventiven“.

Was freilich nicht ausschließt, dass die CNS die Kosten für bestimmte präventive Tests doch übernehmen könnte. Und was überhaupt nicht verhindert, dass Tests angeboten werden, für die der Kunde zahlt. Ob man Regeln für Gentests generell braucht, müsse man „ganz breit“ und „mit allen Akteuren“ diskutieren, sagt Mars Di Bartolomeo.

Wenn aber so viel zu besprechen bleibt, dann sind die neuen Gentests ein notwendiger Steinwurf ins Wasser gewesen. Immerhin hat Luxemburg auch die Konvention des Europarats über Biomedizin und Menschenrechte zwar 1997 unterzeichnet, aber noch immer nicht ratifiziert. Geschweige das 2008 veröffentlichte Zusatzprotokoll zu medizinischen Gentests. Darin geht es auch um die Qualität der Tests, die Beratung der Patienten und die Frage, wann ein Patient als aufgeklärt anzusehen ist. Ganz ohne Anhaltspunkte von außen muss die Diskussion also nicht geführt werden.

Peter Feist
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