Für die Direktion des Centre hospitalier du Nord (CHdN) kam die Nachricht unverhofft, aber auch nicht ganz unerwartet: Vor zweieinhalb Wochen kündigten vier Kinderärzte am Klinikstandort Ettelbrück ihren Vertrag mit dem Spital. Falls nicht noch etwas geschieht, das sie zur Zurücknahme der Kündigung veranlasst, könnte das ab 1. Juli ziemlich dramatische Folgen haben: Seine Maternité, in der pro Jahr an die 800 Kinder zur Welt kommen, müsste das CHdN dann schließen. Denn für den risikolosen Betrieb einer Geburtenstation müssen Fachärzte für Pädiatrie verfügbar sein, die bei Komplikationen während der Entbindungen herbeigerufen werden können und die an Neugeborenen Routineuntersuchungen vornehmen. Ausgerechnet die Bereitschaftsdienste aber waren der Anlass für die Kündigungen gewesen.
Willkommen in der Komplexität der Services de garde in den Krankenhäusern. Nicht erst seit zwei Wochen macht der CHdN-Direktion ihre Pädiatrie Sorgen: Die vier Ärzte hätten „auf einen dringenden Handlungsbedarf aufmerksam machen“ wollen – so beurteilt Generaldirektor Hans-Joachim Schubert die Kündigungsschreiben von Ende April und scheint seine Ärzte damit sogar irgendwie verstehen zu können. Gemeinsam werde man versuchen, bis Ende Juni eine Lösung zu finden. Die Schließung der Maternité will Schubert natürlich verhindern. Fragt sich nur, wie die Lösung aussehen wird. Denn diskutiert wurde mit den Kinderärzten schon vorher. Und falls das Verständnis, das der Klinikchef für deren Anliegen zeigt, nicht nur diplomatisch gemeint ist, würde es darauf hindeuten, dass die Lösung über das Nordklinikum hinausreichen müsste.
Wahrscheinlich muss sie das auch. In den Klinik-Bereitschaftsdiensten gibt seit Jahren Probleme – nicht nur im Norden und nicht nur in der Kindermedizin, aber vor allem da. Bereitschaftsdienst zu leisten, ist für alle Klinikärzte bis zum Erreichen einer Altersgrenze Pflicht. Für Festangestellte, wie die am CHL in der Hauptstadt, ist der Dienst Bestandteil ihres Arbeitsvertrags und ihrer Arbeitszeiten. Die meisten Luxemburger Krankenhausärzte aber sind Freiberufler und als Belegärzte Dienstleister an einem Spital. Ihnen ist die Teilnahme am Service de garde durch das Gesetz über die Ausübung des Arztberufs vorgeschrieben. Doch die „liberalen“ Ärzte sind nicht nur unentgeltlich abrufbereit, weil unterstellt wird, sie erbrächten damit einen Service public als Gegenleistung für die kostenlose Nutzung der öffentlich finanzierten Krankenhausinfrastruktur. Der Dienst hängt überdies davon ab, wie viele Belegärzte pro Fachbereich eine Klinik hat. „Uns geht es wirklich nicht um Geld“, betont Alexander Schulze-Berge, einer der vier Nord-Pädiater. „Unser Problem ist, dass wir nur zu viert sind, das CHdN aber jeden Tag rund um die Uhr in Bereitschaft ist.“ Daraus folgt: Die vier Pädiater, die alle noch eine Praxis in Ettelbrück oder in Diekirch betreiben, teilen sich nicht nur tagsüber die Abrufbereitschaft für das Spital, sondern auch in jeder vierten Nacht und an jedem vierten Wochenende für jeweils 48 Stunden. Schulze-Berge und seine drei Kollegen finden das nicht nur zu viel, sondern auch „ungerecht“: Die meisten Luxemburger Kinderärzte würden entweder keinen Bereitschaftsdienst leisten, oder zwei bis drei Mal im Jahr für einen halben Tag in der Kinderklinik des CHL aushelfen.
Was Schulze-Berge damit meint, trifft den Kern des Problems. Und beantwortet auch die Frage, wieso das CHdN die vier Ärzte nicht einfach ziehen lässt und sich neue sucht: Ein freiberuflicher Kinderarzt mit eigener Praxis hat dort schon genug zu tun und braucht die Bindung an eine Klinik nicht unbedingt, um seinen Beruf ausüben und genug Umsatz erwirtschaften zu können. „An einer Klinik zu arbeiten, ist natürlich stimulierender, weil die Fälle vielfältiger sind“, sagt Fernand Pauly, Präsident der Pädiatrischen Gesellschaft (SLP). „Aber die Häufigkeit der schwierigen akuten Fälle nimmt in den Kliniken ab.“ Und so herrscht vor allem an den beiden Regionalkrankenhäusern im Norden und im Süden starke Pädiater-Fluktuation und latenter Ärztemangel für den Bereitschaftsdienst. „Wir weisen darauf schon seit Jahren hin”, berichtet Michel Nathan, Generaldirektor des Süd-Klinikums Centre hospitalier Emile Mayrisch (CHEM). Gut möglich, dass auch am CHEM der Betrieb der Maternité in Esch/Alzette eines Tages in Frage stehen könnte, wenn nicht genug Kinderärzte abrufbereit sind. „Grundsätzliche und landesweite Überlegungen“ seien nötig, meint Nathan.
Für die Pädiatrie hat es die schon gegeben. SLP-Präsident Pauly hat ein Lösungskonzept: Sämtliche Kinderärzte, auch die nicht an einem Krankenhaus tätigen, sollten zum Bereitschaftsdienst verpflichtet sein. Damit es dabei keine Probleme gibt, müsse man aber trennen zwischen Klinikbetrieb und Notdienst sowie dem leichten ambulanten Dienst. Unter Klinikbetrieb und Notdienst versteht Pauly die Rufbereitschaft für die Maternités, die Betreuung hospitalisierter Kinder und schwerer akuter Fälle. All das sollten die Krankenhaus-Belegärzte absichern. Um die leichten Fälle dagegen könnten die anderen Pädiater sich im Wechsel kümmern; etwa in den schon bestehenden Maisons médicales.
Dass das eine ziemlich gerechte Arbeitsteilung sein könnte, deuten die Beobachtungen an, die Pauly, Pädiater an der CHL-Kinderklinik, dort über die Jahre gemacht hat: „Als ich 1989 anfing, zählten wir in jenem Jahr 10 000 ambulante Patienten. 2012 waren es 35 000.“ Da im gleichen Zeitraum der Anteil der bis 14-Jährigen an der Bevölkerung nur um 67 Prozent zunahm, wird die Kinderklinik demnach überproportional frequentiert. „Charakteristisch ist jedoch, dass die meisten Kinder Symptome zeigen, wie sie Kinderärzten tagsüber in der Praxis vorgestellt werden“, wurde am CHL konstatiert. Schwere Fälle sind das also eher nicht. Und zwei Drittel aller Konsultationen in der Kinderklinik finden am Wochenende statt. In den Maisons médicales könnte es für Pädiater demnach genug zu tun geben und die Klinik-Kinderärzte müssten nicht wegen Kleinigkeiten ins Spital gerufen werden. Auch am CHdN sind aus Sicht der Direktion 80 bis 90 Prozent der ambulanten Pädiatrie-Patienten leichtere Fälle.
Doch wer Ärzte, die nicht an ein Krankenhaus gebundenen sind, zum Bereitschaftsdienst verpflichten will, muss bedenken, dass für sie die Gleichung „unentgeltlicher Dienst gegen kostenlose Nutzung der Klinik“ nicht zutrifft. Das Mittun in den Maisons médicales müsste den Pädiatern wohl bezahlt werden. Zumal die Allgemeinmediziner, für die die Häuser nahe dem Ettelbrücker und dem Escher Spital und nahe der Zithaklinik vor vier Jahren eingerichtet wurden, ihren Dienst aus der Staatskasse honoriert erhalten. Dass das auch für Pädiater so gehen könnte, hat der Gesundheitsminister schon vorgesehen: Im Staatshaushalt 2014 soll der Bud-getartikel für die Maisons médicales um die Kinderärzte erweitert werden.
Nur ist das noch nicht als nationale Lösung publik. Was auch ein Grund für die Kündigung durch die vier Nord-Pädiater ist: Schon vor anderthalb Jahren, erinnert Alexander Schulze-Berge sich, sei mit der CHdN-Direktion, dem SLP-Präsidenten und dem Gesundheitsminister in Richtung der Maison-médicales-Idee diskutiert worden. Mars Di Bartolomeo (LSAP) habe damals versprochen, für eine „nationale Lösung“ zu sorgen. Anschließend aber habe man nichts mehr von ihm gehört. Ein Brief der Pädiater vom Februar sei von einem Beamten beantwortet worden und habe nach „Abwimmeln“ ausgesehen. „Nun“, sagt Schulze-Berge, „haben wir wieder einen Termin beim Minister.“
Im Gespräch mit dem Land bestreitet Di Bartolomeo, das Bereitschaftsdienstproblem der Pädiater verschleppt zu haben: Es müsse auch innerhalb des Ärzteverbands ausdiskutiert werden. Ganz fertig scheint die AMMD damit noch nicht zu sein. Ihr Generalsekretär Claude Schummer weiß, dass die Aussicht, demnächst Kinderärzte neben sich in den Maisons médicales begrüßen zu können, für Unruhe unter Allgemeinmedizinern gesorgt hat: „Die Pädiater wurden als Konkurrenten angesehen.“ Man könne dem jedoch dagegenhalten, dass die Maisons médicales schon jetzt nicht den Zuspruch hätten, den man sich vor vier Jahren erhofft hatte, und dass sie die Notaufnahmen der Krankenhäuser nicht wirklich entlasten. „Die Anwesenheit von Kinderärzten könnte sie attraktiver machen.“
Aber letztlich geht es nicht nur um den Bereitschaftsdienst der Pädiater. Schon vor sechs Jahren wurde der Minister sogar in parlamentarischen Anfragen darauf aufmerksam gemacht, dass auch in der Ophtalmologie ein Ärztemangel für die Services de garde besteht. Daran hat sich nichts geändert: Nur knapp 60 Prozent der Augenärzte seien als Belegärzte an ein Spital angeschlossen und leisteten auch Bereitschaftsdienst, sagt André Muller, Präsident der Fachgesellschaft der Ophtalmologen. Der Trend bei der Zahl der Klinik-Augenärzte sei „eher fallend“, hinzu komme die regional ungleiche Verteilung: „Im Norden haben sich 15 Jahre lang drei Kollegen den Bereitschaftsdienst geteilt.“ Derzeit seien sie zu fünft. Die Bereitschaft, zusätzlich zu den Arbeitsstunden in Praxis und Spital unbezahlt abrufbereit zu sein, was schnell zu einer 80- bis 120-Stunden-Woche führen kann, nehme unter den Ophtalmologen allgemein ab. Was tun? Auch Augenärzte in die Maisons médicales schicken? Muller würde eine generelle Dienste-Verpflichtung der Ophtalmologen befürworten. Ein ambulanter Nacht- und Wochenenddienst sollte aber besser an einem einzigen Spital zentralisiert werden. „Vor 20 Jahren war das schon so.“
Damit aber stellt sich die Frage, welche Krankenhausmedizin angeboten werden soll, ganz allgemein. Sowohl für die Ausrichtung der Kliniken, als auch für Besetzung mit Personal. Und die ist verbunden mit Geld. Für den CHEM-Generaldirektor muss eine „zielgerichtete Tarifpolitik“ her, „die dem Arzt Anstrengungen für einen Service public korrekt honoriert“. Sonst sei „kaum anzunehmen, dass es den Spitälern in den nächsten Jahren noch gelingt, in allen Disziplinen einen vollständigen Bereitschaftsdienst zu gewährleisten“. Ähnlich argumentiert der Ärzteverband: „Wir müssen ermitteln, welchen Bedarf wir an Bereitschaftsdiensten haben, und dann klären, wer das bezahlt“, sagt Generalsekretär Schummer.
So plausibel das klingt: Es durchzusetzen, wäre politisch ein Kraftakt. Für den Minister, der zustimmen müsste, dass die Ausgaben der Gesundheitskasse oder des Staatshaushalts für die Mediziner steigen sollen. Aber auch für den Ärzteverband, denn eine Diskussion um Entgelt für Bereitschaftsdienste könnte in einen Streit um Verdienstunterschiede zwischen den Fachsparten ausarten. Die sauberste Lösung wäre vielleicht, Ärzten ihre Rufbereitschaft auf ähnliche Weise aus der Gesundheitskasse zu vergüten wie dem Urgentisten, der stets in einem Spital anwesend sein muss. Doch diese Entscheidung läge nicht nur beim Minister, sondern auch bei den Gewerkschafts- und Unternehmervertretern im CNS-Vorstand. Gut möglich, dass sich realpolitisch doch nur eine kleine Lösung für besonders betroffene Ärzte ergibt – vielleicht der Kinderarzt in der Maison médicale.
Ob das schon bis Ende Juni zu klären wäre, fragt sich natürlich mit Blick auf die Krise im Centre hospitalier du Nord. Zwar einigten sich Klinikdirektion und Pädiater am Dienstag darauf, „dass wir unser Aufgabengebiet bis Ende Juni neu verhandeln können“, sagt Alexander Schulze-Berge. Die Betreuung der Ettelbrücker Maternité könnten die vier Ärzte also auch weiterhin übernehmen. Doch Schulze-Berge fügt hinzu: „Die Rahmenbedingungen dafür müssten sich ändern.“