Ist Fettleibigkeit eine Krankheit oder Ergebnis des heutigen bewegungsarmen Lebensstils? Sollten sich damit vorrangig Mediziner und allenfalls nachrangig mit Blick auf die Krankheitsfolgen Gesundheitsökonomen befassen? Was wäre aber, wenn Fettleibigkeit (auch) eine von der Lebensmittelindustrie gesteuerte Sucht wäre? Dann könnte Fettleibigkeit auch ein Thema für Mainstream-Ökonomen werden, das mit ganz anders gearteten Forschungsansätzen und Forschungsmethoden untersucht werden könnte, als dies heute die Medizin tut. Möglicherweise ergäben sich auch ökonomische Mechanismen zur Verhaltenssteuerung und damit neue Ansätze zur Bekämpfung dieser modernen Volkskrankheit in reichen Ländern.
Als fettleibig oder adipös werden diejenigen Menschen bezeichnet, die einen Körpermasse-Index (die Relation von Gewicht in Kilogramm geteilt durch die quadrierte Größe in Metern) von 30 oder mehr aufweisen. Der Prozentsatz von übergewichtigen und fettsüchtigen Menschen ist seit 1980 stark gestiegen, wobei es allerdings starke regionale Unterschiede gibt. In armen Ländern ist die Fettleibigkeit weiterhin ein recht seltenes Phänomen, aber in den vergleichsweise reichen OECD-Ländern schwankte die Quote der Fettleibigen in der Bevölkerung im Jahr 2009 zwischen rund vier Prozent in Korea und Japan und 34 Prozent in den USA (Quelle: OECD, 2011).
Immerhin: Es scheint, als ob in einigen Ländern die bisher stetige Zunahme des Anteils fettleibiger Menschen gestoppt ist, allerdings handelt es sich dabei oft um eine Stabilisierung auf hohem Niveau. So liegt nach Angaben der OECD der Prozentsatz der Fettleibigen in Luxemburg bei 22,1 Prozent und damit nur geringfügig hinter den EU-Spitzenreitern Irland und Großbritannien, die beide eine Quote von 23 Prozent aufweisen. Zur Ehrenrettung dieser drei Länder sei allerdings darauf hingewiesen, dass für sie die zugrundeliegenden Daten gemessen wurden, während zum Beispiel für Frankreich oder Deutschland die Daten aus Eigenberichten (in Deutschland eigene Angaben der Befragten aus dem Mikrozensus) stammen und deshalb möglicherweise nicht direkt vergleichbar sind. In jedem Fall sind diese Zahlen alarmierend, da Fettleibige im Durchschnitt bei schlechterer Gesundheit sind und eine geringere Lebenserwartung haben. Es scheint auch kein Zufall zu sein, dass es zeitgleich mit der Fettleibigkeitsepidemie zu einem starken Anstieg der Raten von Diabetes II sowie Herz- und Kreislauferkrankungen gekommen ist, Krankheiten, deren Behandlung jedes Jahr hohe Gesundheitskosten verursacht. Schätzungen für die USA ergeben einen Gesundheitskostenanteil von fünf bis zehn Prozent, der auf Fettleibigkeit zurückgeht (OECD 2012).
Was sind die Ursachen für die Fettleibigkeitsepidemie? Es wird allgemein vermutet, dass es eine Kombination von Bewegungsarmut und veränderten Essgewohnheiten als Ursache für das vermehrte Auftreten von Fettleibigkeit verantwortlich zu machen ist. Auffällig ist, dass in den Industrieländern regelmäßig Menschen mit niedrigem sozialen Status häufiger fettleibig sind als solche mit höherem Status. So ergab die im Jahr 2008 veröffentlichte deutsche Verzehrstudie, die vom Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel durchgeführt wurde, dass rund ein Viertel der deutschen Männer in der Unterschicht (definiert über Haushaltseinkommen, eigene Ausbildung und berufliche Stellung des Hauptverdieners) adipös war, aber nur 13 Prozent in der Oberschicht. Bei den Frauen waren die Unterschiede in den verschiedenen Gesellschaftsschichten noch extremer: 35 Prozent in der Unterschicht gegenüber zehn Prozent in der Oberschicht.
Die Rolle der Lebensmittelindustrie rückt dabei inzwischen verstärkt in den Fokus. Immer mehr Lebensmittel werden bereits fertig zubereitet verkauft, so dass der Käufer auf den Inhalt der Lebensmittel, die er kauft, immer weniger Einfluss hat. Was in den Lebensmitteln enthalten ist, wird von der Lebensmittelindustrie bestimmt, die erhebliche Ressourcen in die Erforschung, welche Inhaltsstoffe zum höchstmöglichen Konsum führen, steckt. Der amerikanische Enthüllungsjournalist und Pulitzer-Preisträger Michael Moss hat kürzlich einen Bestseller veröffentlicht, in dem er versucht zu belegen, dass die großen Lebensmittelhersteller, wie zum Beispiel Nestlé, Kraft und Coca-Cola, daran arbeiten, ihre Kunden durch die inhaltliche Zusammensetzung von Lebensmitteln zu höherem Konsum ihrer Produkte zu bewegen und dabei willentlich in Kauf nehmen, dass dies auf Kosten der Gesundheit geht.
Das Buch von Moss war wiederum der Aufhänger für Leitartikel im deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel (Ausgabe 10/2013) und dem Wochenmagazin der New York Times (20. Februar 2013) zum Thema, ob die Nahrungsmittelkonzerne uns absichtlich an bestimmte, ungesunde Lebensmittel, die viel Zucker, Fett und Salz enthalten, gewöhnen, uns sogar süchtig nach ihnen machen. Kartoffelchips werden von Moss als ein Paradebeispiel dafür angeführt, wie die Lebensmittelindustrie Menschen zur Überkonsumtion verführt. Sie enthalten viel Fett, Zucker und Salz, aber ihre Konsistenz, das Im-Munde-Zerschmelzen, führt dazu, dass man immer weiter davon isst, ohne dass sich ein Sättigungsgefühl einstellt. Passenderweise heißt der Slogan von Jay’s Kartoffelchips in den USA „Can’t stop eating em.“ In Tierversuchen hat sich bereits herausgestellt, dass Zucker zumindest bei Laborratten ein größeres Suchtpotenzial aufweist als intravenös verabreichtes Heroin oder Kokain (Ahmed, S. H., Is Sugar as Addictive as Cocaine?, in: Food and Addiction: A Comprehensive Handbook, hrsg. von K. D. Brownell und M. S. Gold, Oxford 2012). Die Verbindung von Fett, Zucker und Salz ist aber möglicherweise noch deutlich stärker in der Wirkung als Zucker allein.
Wie kann man das Suchtpotenzial von Junk Food nachweisen? An erster Stelle sind hier natürlich klinische Experimente zu nennen. Eine andere Möglichkeit besteht aber darin, Kaufdaten von Lebensmitteln darauf zu untersuchen, ob sich je nach Inhaltsstoffen unterschiedliche Kaufmuster ergeben. Die Autoren dieses Artikels arbeiten zurzeit gemeinsam mit einem amerikanischen Koautor an einem entsprechenden Projekt, das US-amerikanische Daten von Kartoffelchipeinkäufen nutzt. Die Daten geben Auskunft darüber, wann die an der Studie teilnehmenden Haushalte welche Kartoffelchips in welcher Menge und zu welchem Preis gekauft haben. Diese Kaufdaten werden dann mit Packungsinformationen zu den Inhaltsstoffen, wie etwa der Verwendung von Glutamat, der verschiedenen Kartoffelchipmarken abgeglichen.
Forschungsfrage ist in einem ersten Schritt, ob der Verzehr von Kartoffelchips an sich süchtig macht, und in einem zweiten Schritt, inwieweit der Glutamat-Gehalt das Suchtpotenzial erhöht. Als theoretische Grundlage für die Arbeit dient dabei das Modell der rationalen Abhängigkeit des US-Ökonomen und Nobelpreisträgers Gary Becker. Die von ihm entwickelte Hypothese besagt, dass mehr heutiger Konsum von süchtig machenden Substanzen dazu führt, dass der Konsum morgen als stärker nutzenstiftend empfunden wird. Im empirischen Modell führt das dazu, dass sowohl der Konsum in der Vorperiode als auch der erwartete Konsum in der Folgeperiode den Konsum in dieser Periode erhöhen. Diese Voraussage des Modells kann man empirisch testen: Fällt der Test positiv aus, weist dies auf rationale Abhängigkeit im Sinne von Becker hin. Fallen die Effekte bei Glutamat-Kartoffelchips höher aus als bei anderen Kartoffelchips, dann ist dies weiterhin ein Beleg dafür, dass Glutamat-Gehalt das Suchtpotential noch erhöht.
Eine ökonomische Analyse kann also neben die medizinische Analyse treten, um die Frage nach dem Suchtpotenzial von Lebensmitteln zu beantworten. Nur die ökonomische Methodik aber, also nicht medizinische Studien, kann angewendet werden, um abschätzen zu können, inwieweit Preismaßnahmen, wie zum Beispiel Steuern auf Fett-, Zucker- oder Salzgehalt, in der Lage sind, den Konsum von potenziell schädlichen Lebensmitteln einzudämmen. Dass die Steuereffekte bisher nicht oder nicht richtig abgeschätzt worden sind, zeigt sich dabei am Schicksal der Fettsteuer in Dänemark: Sie war im Oktober 2011 auf Lebensmittel mit gesättigten Fettsäuren eingeführt worden. Doch schon im November 2012 war sie wieder vom Tisch: Angeblich habe sich die Nachfrage nicht verringert, sondern nur ins Ausland verlagert – zum Schaden der dänischen Produzenten.