"Ich schreibe dies alles ohne Unterlagen. Meine einzige Quelle ist mein Gedächtnis", heißt es an einer Stelle (S. 15) in den Lebenserinnerungen, die der erblindete Kunsthistoriker Joseph-Émile Muller Huguette Kugeler-Battin diktierte und wenige Tage vor Mullers Tod vor einem Monat mäßig editiert und korrigiert erschienen.
Es ist die Geschichte eines Luxemburger Intellektuellen im 20. Jahrhundert. Muller wurde 1911 in einer Handwerkerfamilie in Kehlen geboren. Der später bewunderte, gehasste und belächelte Kunstpapst des Nationalmuseums war Autodidakt. "Meine Eltern waren bescheidene kleine Leute und sie fanden, dass sie bescheiden zu bleiben hatten." (S. 17) Deshalb und natürlich aus Geldmangel blieben ihm Universitätsstudien versagt. Mit 18, zu Beginn der Weltwirtschafskrise, wurde er Beamte der Alters- und Invalidenversicherung: "Es war Krisenzeit; die festen Stellungen wurden gesucht." (S. 22) Doch "wiederholt habe ich in meinem Leben bedauert, dass ich nicht Professor werden konnte." (S. 25) So musste er erleben, "dass man gern auf den herabschaut, der trotz widriger Umstände etwas gelernt hat, ohne lange in der Schule gewesen zu sein". (S. 67)
Vor dem Krieg interessiert sich der junge Beamte zuerst für Literatur, lernt die einheimischen Autoren kennen und dichtet selbst expressionistisch. Im Kampf gegen den deutschen Faschismus nimmt er am Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur 1933 in Paris teil und liest bei Veranstaltungen für die Spanienkämpfer und deutschen Exilliteraten - weshalb Batty Weber ihm in der Luxemburger Zeitung Kommunismus und Deutschfeindlichkeit vorwirft. Wie vieler Intellektuelle enden seine Sympathien für die Sowjetunion spätestens mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt 1939, so dass er sich fortan "bis zu einem gewissen Grad innerlich von den Zeitereignissen distanzierte".
1930 kauft er sein erstes Kunstbuch - Edvard Munch - und entdeckt 1932 im Salon des Cercle artistique Kutter. Als 23-jähriger beginnt er mit jugendlicher Leidenschaft Kunstkritiken zu schreiben, verteidigt Kutter, "der trotz aller Widerständen des provinziellen (Un-)Geistes ein Werk von hohem Rang schuf" gegen klerikal-konservative Kritiker und findet den Cercle artistique bald "banal, rückständig, bedeutungslos, und ich schrieb es so unerbittlich, wie ich es dachte" (S. 65). Schaack und Rabinger musste er "unverblümt sagen, dass sie nun entgleist waren". (S. 66)
In Pariser Galerien und auf der Pariser Weltausstellung entdeckte er dann seine Vorliebe für die französische Moderne. Politisch desillusioniert, verlagert er sein Interesse nach und nach auf die abstrakte Malerei.
Während des Kriegs schreibt der nach außen die Gewährt bietende und in die innere Emigration geflüchtete Beamte heimlich ein Buch über Kutter, das kurz vor der Umsiedlung 1943 nach Niederschlesien und dann Maxhütte-Haudhof fertig wird und bereits 1946 erscheint.
Auf sein Drängen hin schafft der christlichsoziale Erziehungsminister Pierre Frieden im Elan des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wiederaufbaus 1945 den Posten des Chef du service d'éducation esthétique im Nationalmuseum, wo Muller mit Reproduktionen und aus Kunstbüchern kopierten Dias volkspädagogische Ausstellungen und Vorträge organisiert.
Nach einer Ausstellung des Saarbrücker Museums 1956 fordert Frieden ihn auf, eine Sammlung moderner Kunst im Nationalmuseum aufzubauen, wozu 1958 eine Ankaufkommission von Beamten und Privatsammlern gegründet wird. Doch als der erleuchtete kalte Krieger und Bekämpfer entarteter Kunst "Pierre Grégoire Minister wurde (1959-1969), wollte er nämlich der Letzte sein, der zu bestimmen hatte". (S. 94) So trägt der endgültig anerkannte Autodidakt Muller entscheidend, wenn auch nicht alleine dazu bei, dass die unverfänglich dekorative, bunt abstrakte École de Paris für mehrere Jahrzehnte staatlich anerkanntes Synonym für moderne Kunst im christlichsozialen Großherzogtum wird - die Nachkriegsvariante jener provinziellen Rückständigkeit, die Muller in den Dreißigerjahren lautstark bekämpfte.
Joseph-Émile Muller: Zuerst im Schatten, dann im Licht; Éditions des Cahiers luxembourgeois; Luxemburg 1999; 126 Seiten, 850 Franken.