Vielleicht sind Zeitungen Spiegel, welche die Welt reflektieren. Wenn das stimmt, dann war an einem beliebigen Tag vergangener Woche die Welt schon ganz in Ordnung: „Emais[-]che: auch ohne Sonne ein Hit“, lautete die beruhigende Schlagzeile der deutschen Ausgabe von Point 24. Auch die französische Version hatte eine frohe Botschaft: „Elles se sont classées 93es à l’Aïcha des Gazelles“, über zwei luxemburgische Teilnehmerinnen einer Rallye in Marokko. Zur Verbreitung seiner guten Nachricht hatte das Kaufhaus Cora-Concorde sogar die ganze Titelseite von L’Essentiel gekauft und ließ melden: „10% / 10 jours“. Mit einem angst[-]einflößenden Titel lag nur der portugiesische Point 24 im Blechkasten: „Luxemburgo é 3a cidade mais perigosa da Europa“, Luxemburg sei die drittgefährlichste Stadt Europas.
Auch hierzulande ist der Zeitungsmarkt dabei, sich dramatisch zu verändern. In den zehn Jahren zwischen 1999 und 2009 ging die Leserzahl der verkauften Tageszeitungen von 81 Prozent auf 67 Prozent zurück. So die vom Kulturministerium finanzierte Ceps-Studie über die Pratiques culturelles au Luxembourg. Lasen 1999 noch zwei Drittel der Befragten unter 35 Jahren eine verkaufte Tageszeitung, war es 2009 nur noch die Hälfte. Zu diesen strukturellen Veränderungen kommt der konjunkturbedingte Einbruch des Anzeigenmarkts seit dem vierten Quartal vergangenen Jahres hinzu. Vergangenes Jahr musste erstmals seit der Einführung der Pressehilfe vor 37 Jahren eine staatlich subventionierte Tageszeitung eingestellt werden, die im Sankt-Paulus-Verlag erschienene La Voix du Luxembourg.
Manche sehen in dieser Entwicklung den unvermeidlichen Sieg des digitalen über das gedruckte Wort, des Internets über das Papier, des World Wide Web über die Gutenberg-[-]Galaxis. Doch das Gegenteil ist der Fall: In Wirklichkeit wurden noch nie so viele Zeitungen in diesem Land gedruckt und gelesen wie heute. Dank des durchschlagenden Erfolgs der kostenlosen Tageszeitungen ist das vor einem halben Dutzend Jahren noch für schier unmöglich Gehaltene eingetreten: Das Papier ist nicht tot, die Gesamtauf[-]lage der Tageszeitungen ist nicht gesunken, sondern hat sich seit 2007 verdoppelt!
Wurden laut Brüsseler Centre d’in[-]formation sur les médias (Cim) Ende vergangenen Jahres durchschnittlich 139 846 Exemplare pro Nummer der Tages- und Wochenzeitungen verkauft, kamen noch 184 398 gra-tis verteilte Tageszeitungen hinzu. Schon 2010 fand die Gezeitenwende statt: damals überstieg die Auflage der Gratispresse diejenige der verkauften Presse.
Die wichtigste Ursache dafür ist, dass es den Gratiszeitungen erstmals gelang, die Grenzpendler massiv als neue Leserschaft zu gewinnen und so die potenzielle Kundschaft schlagartig um 130 000 Personen oder ein Drittel zu vergrößern. Während sich die verkaufte Presse, auch durch ihre Themenauswahl, Sprachenvielfalt und Abonnementzustellung, vorwiegend an die Wohnbevölkerung und vor allem die luxemburgische Wohnbevölkerung richtet.
Laut Ceps-Studie lasen 35 Prozent der Wohnbevölkerung regelmäßig eine verkaufte Tageszeitung, 29 Prozent regelmäßig eine verkaufte plus eine kostenlose Tageszeitung und 21 Prozent lediglich eine kostenlose Tageszeitung. Unter dem Strich heißt das, dass immerhin 85 Prozent der Einwohner über 15 Jahren täglich Zeitung lesen.
Bis vor kurzem kaum vorstellbar war ebenfalls, dass eine oder mehrere Tageszeitungen dem im 20. Jahrhundert dominierenden Luxemburger Wort den Titel der größten Zeitung im Land streitig machen würden. Laut Plurimedia-Leserumfragen von TNS-Ilres ist das Luxemburger Wort weiterhin mit Abstand die größte Zeitung des Landes: Seine Reichweite lag vergangenes Jahr bei 43,2 Prozent der Bevölkerung, diejenige von L’Essentiel bei 30,0 Prozent, diejenige der französischen und deutschen Ausgabe von Point 24 bei 17,1 Prozent. Aber Gratiszeitungen sind überall typische Pend[-]lerzeitungen, und hierzulande sind das vor allem Grenzpendler. Die Le[-]ser[-]umfragen von TNS-Ilres interessieren sich aber lediglich für die Wohnbevölkerung über 15 Jahre.
Laut Cim wies das Luxemburger Wort im vierten Quartal 2011 eine Gesamtauflage von 72 745 Exemplaren auf. Der Essentiel druckte dagegen täglich 100 863 Exemplare, die französische, die deutsche und die portugiesische Ausgabe des Point 24 hatten gemeinsam eine Druckauflage von 89 691 Exemplaren. Aber schon bei einer verkauften Zeitung sagt die Gesamtauflage nicht unbedingt viel über die Zahl der Käufer und Leser aus. Noch unsicherer ist das Verhältnis zwischen der Zahl der kostenlos ausgelegten Exemplare der Gratiszeitungen und der tatsächlichen Leser. Wobei die möglichst hohe und notfalls aufgebauschte Zahl der ausgelegten Exem-plare das wichtigste Argument ist, um Anzeigenkunden zu gewinnen.
Bemerkenswert ist aber auch, dass die Gratispresse ihre Auflage seit ihrem Erscheinen deutlich steigern konnte, unter anderem durch den Ausbau der Infrastruktur zur Verteilung der Zeitungen. Nach eigenen Angaben verteilt L’Essentiel inzwschen ein Viertel seiner Auflage in Banken, Versicherungen, Anwaltskanzleien und anderen Unternehmen. Die verteilte Auflage von L’Essentiel stieg laut Cim zwischen Ende 2008 und Ende 2011 von 78 978 auf 94 707, diejenige von Point 24 von 56 965 auf 89 691 Exemplare. Die verkauften Tageszeitungen erlitten dagegen in derselben Zeit einen stetigen Auflagenschwund.
Die verschiedenen Studien über die Pratiques culturelles au Luxembourg interessierten sich zwar nur für die Wohnbevölkerung, aber sie geben doch Hinweise auf die Leserschaft der Gratispresse: Ältere, gebildetere Luxemburger mit höherem Einkommen kaufen eher Tageszeitungen, Jugendliche und Ausländer mit niedrigerer Bildung und niedrigerem Einkommen lesen eher Gratiszeitungen. Auch wenn das Zielpublikum von L’Essentiel „jung, aktiv, urban“ sein soll.
Gratiszeitungen werden deutlich von Jugendlichen bevorzugt. Dank ihres Angebots lasen noch nie so viele Jugendliche eine Tageszeitung wie heute. 73,5 Prozent der Einwohner unter 25 Jahren lesen eine Gratiszeitung, aber nur 33,4 Prozent der über 65-Jährigen. Mit ihrer oft vom Schicksal der Pop-Stars beherrschten Themenauswahl wenden sich die Gratiszeitungen gezielt an jugendliche Leser.
Während nut 39,2 Prozent der Luxemburger kostenlose Zeitungen lesen, sind es 77,9 Prozent der hierzulande wohnenden Franzosen, 74,5 Prozent der Portugiesen und 64,0 Prozent der Belgier. Nur die Deutschen können sich mit 25,8 Prozent Leser wenig für die Gratispresse begeistern, obwohl Point 24 eine deutschsprachige Ausgabe auslegt. Christian Lamour und Jean Langers fragen in einem Kommentar zu den Ceps-Zahlen, ob die Bild-Zeitung die Lesegewohnheiten der Deutschen beeinflusst oder die deutsche Wohnbevölkerung vielleicht älter ist.
Die Vorbehalte, die gegenüber der Gratispresse zu hören sind, haben vor allem damit zu tun, dass es sich um eine populäre Massenpresse handelt. Möglicherweise ist es überhaupt der größte Durchbruch einer populären Massenpresse in über 300 Jahren Luxemburger Pressegeschichte. Schließlich legte selbst das Luxemburger Wort, trotz seiner hohen Auflage, erst vor kurzem den Habitus eines konservativen Bürgerblatts ab.
Unter den Arbeitern lesen 65,6 Prozent eine Gratiszeitung, unter den Angestellten, Technikern, Managern und Intellektuellen aber nur zwischen 42,5 und 43,5 Prozent. 60,2 Prozent der Einwohner mit niedrigen Einkommen lesen die Gratispresse und 39,7 Prozent derjenigen mit hohen Einkommen. Von den Einwohnern mit niedriger Schulbildung lesen 60,2 Prozent eine Gratiszeitung, von jenen mit höherer Schulbildung dagegen bloß 44,8 Prozent.
Dass die Gratispresse das Niveau der gesamten Presse senkt, ist sicher die übliche kulturpessimistische Übertreibung. Denn von den all den Schülern, die morgens an der Bushaltestelle, und den lothringischen Angestellten, die in der Eisenbahn L’Essentiel oder Point 24 lesen, käme wohl kaum einer auf die Idee, Geld auszugeben, um sich das Luxemburger Wort oder das Tageblatt – und nicht einmal Le Quotidien oder La Voix zu kaufen, wie die Erfahrung zeigt.
Bedrohlich ist die Gratispresse für die verkauften Zeitungen vor allem, wenn es um die Werbung geht. Denn beim Erscheinen neuer Me[-]dien vergrößern die Werbekunden nicht unbedingt ihre Werbeetats, sondern schichten sie lediglich um. Tatsächlich gingen laut dem vom Staat finanzierten Luxembourg Ad’Report die Bruttowerbeeinnahmen der verkauften Tageszeitungen zwischen 2008 und 2011 um 7,2 Millionen Euro zurück, während diejenigen der Gratiszeitungen um einen ähnlichen Betrag, um 8,5 Millionen Euro, zunahmen. Vergangenes Jahr überstiegen die Bruttowerbeeinnahmen von L’Essentiel erstmals diejenigen des im gleichen Verlagshaus erscheinenden Tageblatt. Das Blatt erwartet für 2011 einen Betriebsgewinn von 1,3 Millionen Euro.
Denn das Aufkommen der Gratispresse mit dem Erscheinen von L’Essentiel im Oktober 2007 war zuerst ein mit Hilfe Schweizer Know-hows gestarteter Angriff des Editpress-Verlags auf den Löwenanteil des Luxemburg Wort an den Zeitungsanzeigen. 2007 machte der Anteil des Luxemburger Wort an den Werbeeinnahmen der Tageszeitungen noch 64 Prozent aus, 2008 sank er auf 60 Prozent und 2009 auf 56 Prozent...
Mit ihrer sehr aggressiven Anzeigenbeschaffung, ihren Tarifen und Rabatten üben die Gratiszeitungen Druck auf die Anzeigentarife der ohnehin unter knappen Einnahmen leidenden verkauften Zeitungen aus. Derzeit kostet eine ganzseitige Farbanzeige im Luxemburger Wort 10 248 Euro, in L’Essentiel 4 720 Euro.
Als Reaktion auf L’Essentiel sah sich der Sankt-Paulus-Verlag gezwungen, eine eigene Gratiszeitung herauszugeben, Point 24. Doch auf dem Markt der Gratispresse hat der Zweite einen gehörigen Nachteil, und so sucht Point 24 seither die ideale Formel: erst auf Französisch, dann zweisprachig, schließlich in drei redaktio[-]nell unterschiedlichen Ausgaben auf Französisch, Deutsch und Portugiesisch, er wechselte dann das Format und testete eine Abendausgabe.
Beim Kampf um Anzeigen gerät fast in Vergessenheit, dass die konkurrierenden Verlage ursprünglich gegründet worden waren, um mittels Parteiblättern politische Botschaften zu verbreiten. Da sie weder Verkaufseinnahmen noch Pressehilfe beziehen, müssen Gratiszeitungen vor allem darauf bedacht sein, in ihren Seiten ein so genanntes werberfreundliches Umfeld zu schaffen, von einer Welt zu erzählen, in der Konsum der größte Spaß und gleichzeitig eine heilige Pflicht ist. Allerdings stellen die innenpoltischen Seiten oft das einzige Nachrichtenangebot über die Luxemburger Politik und Gesellschaft für das Zielpublikum von Jugendlichen und Grenzpendlern dar. Manchmal machen sie sogar Politik. So trug L’Essentiel mit seiner Berichterstattung wohl nicht unerheblich zum Erfolg der Grenzpendlerkundgebung gegen die diskriminierende Kindergeldregelung für Studierende bei.