Maryse Krier gewann im Jahre 2000 den ersten Preis beim Concours national de littérature "Libertés" für einen Auszug aus Herzschlag. Er wurde in den Cahiers luxembourgeois (2/2001) veröffentlicht. Jetzt liegt das fertige Werk vor. Haben sich die hohen Erwartungen, die man an den vorzüglichen, aber unfertigen Text knüpfte, erfüllt? Eine Schwalbe macht schließlich nicht unbedingt einen Sommer.
Herzschlag schildert fragmentartig, in kurzen Bildern, Szenen aus dem Leben einer jungen Frau, Magda, von der Kindheit bis etwa in die Mitte ihrer Vierzigerjahre hinein. Das Besondere an diesem Text ist die Form, in der das Porträt von Magda entworfen wird. Es wird nicht geradlinig, kontinuierlich, chronologisch erzählt. Magda joggt gern. Sie läuft zu unterschiedlichen Zeiten, in den verschiedenen Jahreszeiten durch den Wald. Sie beobachtet genau, sie nimmt die sie umgebende Natur mit wachen Sinnen wahr.
Was sie während des Laufens fühlt, riecht, sieht, steht in Schrägschrift, wirkt wie eingeblendet. Das Laufen Magdas wird vom rhythmisch pochenden Herzen, vom "Herzschlag" begleitet. Ein Herz kann vor Freude "hüpfen"; es kann aber auch vor Schmerz "bluten". Die Eindrücke, die im Laufen auf Magda eindringen, assoziieren deshalb freudige und leidvolle Erinnerungen aus ferner und jüngster Vergangenheit, verbinden sich, ohne Rücksicht auf den Zeitablauf. Sie machen den eigentlichen Gehalt der Erzählung aus.
Herzschlag ist kein innerer Monolog wie in Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl; die auktoriale Erzählerin ist stets präsent, es wird in der dritten Person erzählt. Es handelt sich auch nicht um einen ungezügelten, ungefilterten stream of consciousness, im Sinne von James Joyce, wo aus dem Unbewussten manches schlagartig an die Oberfläche drängt. Das Bewusstsein sondert in dieser Erzählung aus, selektiert, verdrängt manches, lässt anderes überdeutlich erscheinen.
Fixpunkt in der Erzählung ist vor allem die Kindheit, die früheste Jugend, die bis zum Schluss der Geschichte eine beherrschende Stellung einnehmen. Hier wird eine Welt lebendig, die stark religiös geprägt war, und die viele von uns in den 50-er und frühen 60-er Jahren erlebt haben. Religion versprach Erhebung, vermittelte das Gefühl, zu den besseren, reineren Menschen zu gehören - nicht umsonst spielen die "Engel" eine große Rolle in der Erzählung; ihnen sollte das Kind nacheifern! Aber Religion bedrückt auch, vermittelt andauernd Schuldgefühle. Gottes Blick reicht nämlich bis in unser tiefstes Inneres, wir werden andauernd beobachtet, ihm ist nicht das Geringste zu verheimlichen.
Die zehnjährige Magda musste sich z.B. bei der damals üblichen wöchentlichen Beichte mit den für sie unverständlichen Begriffen "keusch" und "unkeusch" herumschlagen. Sie wusste, dass sie immer wieder schuldig wurde - sie warf schließlich immer von neuem einen verstohlenen Blick auf den eigenen Körper, sie musste immer wieder gegen das sechste Gebot verstoßen. Mit "drei Vaterunser und zwei Gegrüßet seist du Maria" wurde sie schließlich von dem zentnerschweren "Sündenberg" befreit - bis zur nächsten Woche! Die kindliche Welt der Magda ist ein beredtes Beispiel für das, was der Psychoanalytiker Tilman Moser einst in seinem bekannten Buch als "Gottesvergiftung" beschrieben hat.
Auch die erwachende Sexualität führt, religiös bedingt, zu ambivalenten Gefühlen. Die erste Menstruation ruft übergroße Freude hervor, steigert das Selbstbewusstsein, bringt aber auch weitere Schuldgefühle. Die Religion, auf abstruse Vorstellungen in Kindheit und Jugend reduziert, wird schließlich abgelegt, wie ein verschossenes Kleid weggeworfen.
Kindheit und Jugend haben Narben hinterlassen, und trotzdem kehrt Magdas Erinnerung immer wieder in diese Epoche ihres Lebens zurück; wo Sicherheit herrschte, wo die Werte klar festgelegt waren. Sie wirft manchmal einen fast verklärenden, nostalgischen Blick auf Angenehmes in ihrem frühesten Leben. Sehr detailliert, fast zu detailliert - es sind die schwächeren Passagen in dieser sonst ausgezeichneten Erzählung -, beschreibt sie den Besuch einer Tante aus Amerika und ihre Angst, der versammelten Verwandtschaft ein Lied vorzutragen; oder sie gibt ein langatmiges Gespräch mit der Großmutter in einer Eisdiele wieder, welche Eissorte man wählen sollte; oder sie geht auf ihr Lieblingskinderbuch ein...
Und trotzdem sind diese Stellen nicht bloße Füllsel: sie bilden eine Art Fluchtpunkt, einen Schutz vor den späteren Verletzungen im Erwachsenenleben, die das Bewusstsein immer wieder in die Kindheitserinnerungen einschiebt. Sie lenken ab von der künftigen Zerrissenheit, vom kommenden "Abdriften". Es drängt Magda, "sich abzuschirmen" gegen das schwarze Gewölk, das sich zu lange schon aufgebläht hat in ihr". Und dann kommt dieses "Gewölk" doch in ihr hoch, bricht durch. Sie spricht von ihren bitteren Erfahrungen mit Männern, die sie verlassen, verraten haben, die ihr untreu geworden sind
Wird die Kindheit oft liebevoll ausgemalt, anschaulich, mit Plastizität geschildert; so wird auf das Erwachsenensein eher ein kalter, distanzierter Blick geworfen. Dieses bleibt öfters bewusst konturlos. Mit einer großen Reduktion der Mittel wird diese Lebensetappe beschrieben; die Sprache ist lakonisch, verknappend. Magda fühlt sich manchmal "wie tot, lebendig tot". Sie beobachtet z.B. kühl, wie zwei Körper beim Liebesakt "ineinander verschlungen" sind. Sie tritt näher heran, sieht, dass sie diese Frau ist, die in den Armen eines Mannes liegt. Der Mann wird sie später verlassen. Oder ist dieser Mann, Rainer, nicht doch ein anderer, etwa Albert, der ihr ebenfalls untreu wird. Desillusionierend heißt es: "Wie nahtlos die Realitäten ineinander übergehen können!"
Ist die Kindheit, die Jugend von Aufbruchstimmung bestimmt, so spielt der Tod im Erwachsenenleben eine immer bestimmendere Rolle: der Tod der Großmutter, die dem Kind vom Fuchs, vom Wolf... erzählt hat und die auf dem Sterbebett beständig denselben Satz wiederholt: "Ich bin ein Tier" - ein jähes Schreien in dieser sonst leisen Erzählung; der Tod des Großvaters, der sich immer wieder an den Kopf greift, einen bedrückenden "unsichtbaren Helm" beseitigen will; der Tod der Tante, die das Sterben ihres Mannes einfach nicht zur Kenntnis nimmt, sich "in der Vergangenheit häuslich einrichtet", bis auch sie eines Tages nicht mehr da ist; der Tod des geliebten Vaters, welcher der wuchernden Wildnis in seinem Garten einfach nicht mehr Herr wird, dort stürzt, - ein Sturz, von dem er sich nicht mehr erholen wird.
Am Schluss der Erzählung steht aber nicht der Tod; das Ende ist nicht ein Abgesang auf das Leben; es herrschen nicht Verbitterung, Düsternis, abgrundtiefer Pessimismus vor.
Die Motive, welche die Erzählung tragen, haben sich gewandelt. Winter ist es am Ende, die Natur scheint erstarrt; "Eiseskälte dringt durch alles". Magda rennt nicht mehr energisch vorwärts, "sie bleibt einfach stehen". Aber: auch im Winter lebt die Natur; Schreie von Vögeln sind zu hören; eine andere Läuferin taucht auf, "die wie sie durch den Wald rennt". Magda läuft weiter.
Die an die Verworrenheit des Lebens erinnernde labyrinthartige Wildnis im Garten des Vaters weist auch Stellen auf, "wo alles prächtig gedieh, nur eben nicht mehr leicht auffindbar". Diese sucht Magda auf, sie schöpft neue Hoffnung, sie lebt weiter.
Eine besondere Uhr, eine goldene Kugel als Anstecknadel, die Magda in der Kindheit vom Vater geschenkt bekam, tickt nicht mehr. Ist Magdas Zeit abgelaufen? Soll man die scheinbar sinnlos gewordene Uhr einfach wegwerfen? Nein! Je länger sie sich die liebgewonnene Uhr ansieht, desto mehr Leben kommt "in ihre schimmernde Oberfläche". Erinnerungen an früher, die Kindheit vor allem, werden wach; die Uhr weckt frischen Lebensmut.
Lebensabschnitte von Magda werden mit allen ihren Brechungen, Überlagerungen der Realitätsebenen erzählt; es ist jedoch nicht eine mühsame, windungsreiche Lektüre. Ganz im Gegenteil! Die Form entspricht dem Inhalt. Das Erzählen ist voller Brüche. Magdas Persönlichkeit weist ebenfalls Risse auf. Es wird nicht mit großer Geste, nichts Ungewöhnliches, Einmaliges erzählt, - auch der Berufsalltag bleibt ausgeklammert; sondern Privates, Alltägliches mit den im Leben anfallenden Desillusionierungen. Aber meinte nicht schon Adalbert Stifter, dass das wirklich Große im Kleinen liegt?
Einige Verleger zierten sich, die sehr gute Erzählung zu veröffentlichen. Sind wir eine so große Kulturnation, dass man sich der guten Manuskripte kaum erwehren kann? Die Éditions Schortgen griffen schließlich zu. Danken wir es ihnen. Kaufen wir das Buch, lesen wir es! Es lohnt sich.
Maryse Krier: Herzschlag, Éditions Schortgen, Esch-Alzette 2002, 112 S., 13,95 Euro