1. Mai nach dem Tripartiteabkommen

Hart und kontrovers

d'Lëtzebuerger Land du 27.04.2006

Das Herannahen des 1. Mai macht die Gewerkschaften jedes Jahr traditionsbewusst und ein wenig nostalgisch. Am Dienstagabend hatte der OGB-L ins Kirchberger Kino Utopolis zur Vorführung von Michael Glawoggers Dokumentarfilm Working Man’s Death geladen. 

Einen Tag zuvor hatte der Nationalvorstand der Gewerkschaft in Esch-Alzette über das letzte Woche ausgehandelte Tripartiteabkommen abgestimmt. Nach „harten und kontroversen Diskussionen“, wie er anschließend mitteilte, stimmten lediglich61 Prozent der Delegierten dem zu, was die Gewerkschaftsspitze ausgehandelt und der geschäftsführende Vorstand schon vier Tage zuvor als Triumph des Luxemburger Sozialmodells und „Reformpaket [...] auf einer solidarischen Basis“ gelobt hatte. Dabei gilt der Nationalvorstand nicht als besonders kritisch gegenüber der eigenen Führung. Denn ihm gehören, neben Vertretern der Berufs- und Regionalverbände, der gesamte geschäftsführende Vorstand sowie sämtliche hauptamtlichen Sekretäre an. Das Abstimmungsergebnis ist um so bezeichnender, als es längst keine organisierte Opposition mehr innerhalb der Gewerkschaft gibt. Aber fast 40 Prozent der Delegierten schienen den Titel des für anderntags angesagten Films als böse Ironie aufgefasst zu haben. Und sie drückten nur das Unbehagen aus, das sie in den Tagen zuvor von den Kollegen am Arbeitsplatz zu hören bekommen hatten: dass die Gewerkschaften den Index und die Rentenanpassungen zur Disposition gestellt haben, ohne eine handfeste Gegenleistung zu erhalten.

Auch der LCGB meldete, dass in seinem Nationalvorstand „äußerst kontrovers“ diskutiert und festgestellt worden sei, „dass die Betriebe nur ungenügend Anstrengungen machen sowohl bei den öffentlichen Finanzen als auch betreffend die Lage auf dem Arbeitsmarkt“. Die christliche Gewerkschaft hütete sich aber, das Abstimmungsergebnis publik zu machen.

Die Gewerkschaftsführungen versuchten, ihren Mitgliedern den Kompromiss damit schmackhaft zu machen, dass sie die „maximalen Forderungen“ von Regierung und Unternehmern abgeblockt hätten, wie es beim LCGB hieß. Und der geschäftsführende Vorstand des OGB-L nannte es sein Ziel, während der Verhandlungen, „das luxemburgische Sozialmodell zu verteidigen“. Stolz sind alle beteiligten Gewerkschaften darauf, dass sie Eingriffe in die Struktur des Indexsystems verhindern konnten, indem sie mit der verspäteten Auszahlung von Indextranchen einverstanden waren.

Premier Jean-Claude Juncker hatte sich mit Unterstützung einzelner LSAP-Minister dafür eingesetzt, dass die Gewerkschaftsdelegationen zu mindest ein kleines Erfolgserlebnis erhielten, damit ihre Basis die bittere Pille besser schlucken könnte. Doch die Vereinheitlichung des Arbeiter- und Angestelltenstatuts bei der Sozialversicherung war schon einmal im Frühjahr 2004 angekündigt worden. Es waren dann die Gewerkschaften, die auf ihre historische Forderung verzichtet hatten, als sie merkten, dass die Statute Gefahr liefen, nach unten harmonisiert zu werden (siehe Seite 6 in dieser Ausgabe). Ähnlich sieht es um das Angebot der Unternehmerseite aus, zusätzliche Lehrstellen im Handwerk, der Industrie und im Handel zu schaffen. Denn seit Jahren gibt es mehr Lehrstellen als Lehrlinge.

Halbwegs zufrieden ist nur die CGFP, da sie es in einer allgemein beamtenfeindlichen Stimmung verhindern konnte, dass ihren Mitgliedern „eine einseitige Belastung des öffentlichen Dienstes“ und „Sonderopfer der öffentlichen Funktion“ zur Tilgung des Staatsdefizits abverlangt wurden. Was auch vielleicht damit zu tun hatte, dass die beiden Regierungsparteien der noch immer kraftlosen DP nicht wieder die Beamten in die Arme treiben wollten.

Doch bei den anderen Organisationen zeigen die Kritiken aus den eigenen Reihen, dass die Gewerkschaften geschwächt aus den Tripartiteverhandlungen hervorgegangen sind. Den Mitgliedern stößt besonders die Verzögerung der automatischen Indexanpassung sauer auf, da viele den gesetzlichen Inflationsausgleich als wichtigste Errungenschaft der Luxemburger Arbeiterbewegung ansehen. Doch anders als nach der brutalen Abwertung des belgisch-Luxemburger Franken 1982, empfinden sie derzeit keine vergleichbare Krisenstimmung und wollen folglich keine entsprechend drastische Notwendigkeit einer Indexmanipulation erkennen. Da die Tripartite die Auszahlung von Indextranchen bis ins Wahljahr 2009 regelte,teilen zudem viele die Ansicht des Exekutivvorstands der FNCTTFEL, dass „diese Tripartite-Runde nur eine Etappe darstellt und dass nach 2009 zum Sturm auf das gesamte Indexsystem geblasen werden soll.“ Wenig Verständnis findet auch die Verzögerung der Rentenanpassung angesichts der beachtlichen Überschüsse der Rentenkassen. 

Die Irritation ist um so größer, als die Gewerkschaften bereits durch die Entlassungswellen der letzten Wochen geschwächt sind. Hauptamtliche Sekretäre klagen, dass sie es satt haben, immer nur als Feuerwehrleute einzuspringen, um Abgangsentschädigungenauszuhandeln, und ihre Organisationen gar nicht mehr aus der Defensive herauskommen (siehe Seite 5 in dieser Ausgabe), während die Mitlieder Schlange nach juristischer Beratung stehen.Das Luxemburger Sozialmodell zu verteidigen, so als sei die Tripartite kein Mittel, sondern ein Ziel, ist schwieriger zu vermitteln geworden – auch für die LSAP-Führung, die verhindern will, dass die Unzufriedenheit in den Gewerkschaften auf die Partei übergreift. 

Dabei besteht ein Teil der OGB-L-Militanten inzwischen aus lothringischen Grenzpendlern. Unter dem Eindruck des Referendums in Frankreich hatten sie bereits vergangenes Jahr die Einstellung ihrer Gewerkschaft gegenüber dem europäischen Verfassungsvertrag als halbherzig kritisiert. Nun stehen sie unter dem Eindruck des wochenlangen Protestes gegen den Contrat première embauche (CPE), den die französischen Gewerkschaften als klaren Sieg verbuchen, und finden, dass die luxemburgischen Gewerkschaften zu nachgiebig sind.

Die Tripartite war die erste große politische Bewährungsprobe für die im November 2004 gewählte neue Leitung des OGB-L. Die Kritiken an ihrer Politik kommen zu allem Überfluss am Vorabend des 1. Mai, den die Gewerkschaft erstmals nicht mit einer öffentlichen Kundgebung, sondern mit einem Unterhaltungsprogramm im Saal feiert. Präsident Jean-Claude Reding hatte in der Aprilausgabe des GewerkschaftsmagazinsAktuell (S. 20) feststellen müssen, dass der ehemalige „Kampftag“ in den „letzen 30 Jahren immer mehr zu einem gewerkschaftlichen Ritual“ erstarrt sei.

Doch auch wenn neue Mitglieder, vermehrt jüngere, weibliche Angestellte, nur wenig Bezug zu dieser hierzulande immerhin auf den 1. Mai 1890 zurückgehenden Tradition der Arbeiterbewegung haben, wird sie doch von langjährigen Mitgliedern, insbesondere im Minette-Becken, vermisst. Nachdem der OGB-L bereits erfolglos versucht hatte, grenzüberschreitende Maikundgebungen in der Großregion zu veranstalten, verstehen sie die Welt nicht mehr, seit ihre eigene Gewerkschaft nun auf eine Maikundgebung auf der Straße verzichtet, während der LCGB einen Umzug durch die Gassen Echternachs organisiert – jene katholische Konkurrenz, die Maikundgebungen jahrzehntelang als klassenkämpferisches Teufelszeug ablehnte. Plötzlich steht die größte Gewerkschaft des Landes da, als ob sie sich daran vorbeidrücken wollte, einen Tag vor Jean-Claude Junckers Sparappell im Parlament ihre Stärke vorzuführen.

Da die Maikundgebungen bisher im Namen der CGT, des Dachverbands der freien, das heißt nicht-konfessionellenGewerkschaften, organisiert worden waren, ist das Unterhaltungsprogramm des OGB-L auch eine Absage an die oft beschworene Gewerkschaftseinheit. Die ungeliebte Schwester FNCTTFEL, die nicht zu den Tripartiteverhandlungen eingeladenwird, fand am Dienstag, dass „die beschlossenen Maßnahmen das Salariat völlig einseitig belasten“ und „eine Umverteilung von unten nach oben, ohne jegliche erkennbaren Gegenleistungen des Patronats“ darstellten. Nun muss auch sie im Saal feiern, in ihrem Bonneweger Eisenbahnerkasino. 

Romain Hilgert
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