Sie hatte vor zweieinhalb Monaten für Aufregung vor allem in Arbeitgeberkreisen gesorgt: die Prognose der Krankenkassenunion UCM zur Ausgabenentwicklung beim Arbeiterkrankengeld. Nicht nur würden die allgemeine Arbeiterkrankenkasse CMO und die CMOA, die Arbed-Arbeiterkasse, das Jahr 2002 mit einem kumulierten Rekorddefizit von 30 Millionen Euro abschließen. Bis Ende dieses Jahres könnte es auf bis zu 52 Millionen Euro anwachsen. Das Patronat sah eine Beitragserhöhung auf sich zukommen und wehrte sich angesichts der schwierigen Wirtschaftslage schon mal dagegen (siehe d'Land, 16. Mai 2003). Premier Jean-Claude Juncker sprang ihm kurz darauf bei und erklärte in seiner Rede zur Lage der Nation am 20. Mai, man müsse nach einer umfassenden Problemlösung suchen, eine Beitragserhöhung
allein bringe es kaum.
Eine von UCM-Präsident Robert Kieffer angefertigte Studie gibt Juncker Recht. Als die UCM am 11. Juli zu ihrer alljährlichen Sommer-Vollversammlung zusammentrat, lag zum bislang ersten Mal eine Analyse zum Arbeiterkrankengeld vor, das von 71,4 Millionen Euro 1994 bis Ende 2002 auf 136,5 Millionen gewachsen war. Dafür müsse es "strukturelle Ursachen" geben, heißt es in der Studie. Denn wenn die Ausgaben pro Jahr um durchschnitlich 8,4 Prozent wuchsen, lag die durchschnittliche Inflationsrate bei jährlich 1,8 Prozent, der Zuwachs an Versicherten bei plus 2,7. Man könne also nicht behaupten, das Krankengeld wachse, weil es mehr Versicherte gibt, die krank werden können. Auch Phänomene wie länger anhaltende
Grippewellen werden als Grund ausgeschlossen, stiegen die Ausgaben doch von Jahr zu Jahr über alle Monate betrachtet, und nicht nur in der kalten Jahreszeit, sondern auch im Sommer.
Weil allein zwischen 1999 und 2002 die Steigerungsrate zwischen 9,6 und 16,8 Prozent betrug, hatte die UCM-Analyse zwei Untersuchungsgegenstände. Sie liefert erstens eine Momentaufnahme des Versicherungsjahrs 1999. Zweitens betrachtet sie den Zeitraum 1999 bis 2002, in dem die Krankengeldausgaben für Arbeiter vor allem 2001 und 2002 "explodierten".
Die Annahme, dass vor allem in Bereichen, in denen viele ältere Arbeiter tätig sind, auch ein höherer Krankenstand anfällt, scheint insbesondere für die Arbed-Kasse CMOA zuzutreffen. 1999 waren die Arbed-Arbeiter im Schnitt während 4,7 Prozent ihrer Jahresarbeitszeit krank, die bei der allgemeinen Arbeiterkasse CMO nur während 4,47 Prozent. Betrachtet man die verschiedenen Altersgruppen einzeln, kehrt das Verhältnis sich um.
Ältere Arbeiter sind überhaupt ein statistisch bedeutsamer Faktor. Einen regelrechten "Sprung" macht die UCM beim Krankengeld der über 50-Jährigen aus, vor allem bei den Männern. Bei den bei der CMO Versicherten zeigte sich 1999 ein Krankenstand von 3,5 Prozent bei den 20-Jährigen. Er stieg stetig bis auf 4,3 Prozent bei den 48-Jährigen, um dann abrupt
auf 5,5 bis 7,5 Prozent für die 50- bis 60-Jährigen zu klettern.
Weitere Erkenntnisse: Frauen sind im Schnitt um 20 Prozent häufiger krank als Männer, und Grenzpendler um zehn Prozent häufiger als Einheimische. Kombiniert man die Ergebnisse miteinander, ergeben sich zum Teil noch größere Unterschiede: Unter weiblichen Grenzpendlern lag der Krankenstand 1999 um 40 Prozent höher als bei den einheimischen Arbeiterinnen. Insbesondere in jüngeren Altersgruppen: 23- bis 44-jährige weibliche "frontaliers" waren um 50 Prozent häufiger krank geschrieben.
Von Betrieb zu Betrieb können die Unterschiede enorm sein. 1999 wurden von Arbeitern in 21 Wirtschaftssektoren rund 90 Prozent des Krankengelds in Anspruch genommen. Aber selbst in den vier Sektoren mit besonders hohem Krankenstand differierte dieser von Betrieb zu Betrieb erheblich und innerhalb eines Sektors gar um den Faktor sechs. Insgesamt 39 Betriebe fielen mit besonders hohem Krankenstand auf - in ihnen soll nun vertieft ermittelt werden.
Zusätzliche Fragen aufgeworfen hat die Betrachtung der problematischen Jahre 1999 bis 2002. Verdoppelt hat sich der Anteil von Arbeitern, die mehr als 50 Prozent ihrer Jahresarbeitszeit krank geschrieben waren, und zwar unabhängig von Alter, Geschlecht und Wohnort. Zudem haben die Krankengeldausgaben für fünf Wirtschaftsbereiche beson-ders zugelegt: in der Luftfahrt um 30 Prozent, im Verlags- und Druckwesen um 28, in der Metallverarbeitung um knapp 25 und im Hotel- und Gaststättengewerbe um 23 Prozent. Spitzenreiterin ist die Arbed/Arcelor: Ihre Arbeiterkasse CMOA gab zwischen 1999 und 2002
zwar verhältnismäßig noch immer weniger aus als die CMO. Der Zuwachs von 32 Prozent war jedoch der höchste landesweit.
Die von UCM-Präsident Robert Kieffer getroffenen Schlussfolgerungen beschäftigen zurzeit die Sozialpartner. Zum hohen Arbeiterkrankengeld und der unerfreulichen Prognose für 2003 kommt, dass auch die Ausgaben für Sachleistungen wachsen. Zum einen wegen der steigenden Kosten für Krankenhausinfrastrukturen und -ausrüstungen. Aber auch durch die letzte Woche vom Parlament verabschiedeten Honorarverbesserungen für einzelne Medizinerbranchen. So dass damit zu rechnen ist, dass schon der im Herbst zu beschließende UCM-Budgetentwurf für 2004 Maßnahmen enthalten muss, die garantieren, dass die Reserven der UCM nicht unter das gesetzlich vorgeschriebene Limit fallen.
Vor diesem Hintergrund hat das Patronat schon sachte Abstand genommen von seiner vor drei Monaten erhobenen Forderung, Beitragserhöhungen zum Arbeiterkrankengeld dürfe es keinesfalls geben. Pierre Bley, Generalsekretär der Union des entreprises luxembourgeoises, hält "Diskussionen darüber" für "wohl unvermeidlich", obwohl weiterhin nicht für den "einzigen
Ausweg".
Denn die in der UCM-Analyse zum Arbeiterkrankengeld getroffenen Schlussfolgerungen zu den Ursachen des Ausgabenwachstums haben zum Teil weit reichende sozialpolitische Implikationen. Für die UEL, aber auch für UCM-Präsident Kieffer hat die wachsende Zahl der lange krank Geschriebenen damit zu tun, dass die vor einem Jahr per Gesetz verabschiedeten neuen Regelungen über die "Arbeitsunfähigkeit auf dem letzten Arbeitsplatz" noch nicht richtig greifen. Nicht nur sollen damit bis dahin in die Invalidität Geschickte nun mit Unterstützung aus dem Beschäftigungsfonds weiterbeschäftigt werden, weil EU, OECD und die Rentensachverständigen des BIT den Anteil von Invalidenrentnern am Pensionsaufkommen als viel zu hoch kritisierten (d'Land, 21. April 2001).
Auch sollten Antragsteller auf Berufsunfähigkeit nicht mehr bis zu 52 Wochen im Krankengeld gehalten werden, sondern schon nach vier Monaten soll der medizinische Kontrolldienst der Sozialversicherung eine Diagnose stellen. Doch: Die definitive Entscheidung trifft ein gemischtes Komitee, dem unter anderem auch Vertreter der Adem angehören. Ehe sein Verdikt nicht vorliegt, garantiert das neue Gesetz auch weiterhin den Krankengeldbezug, der unter Umständen noch immer 52 Monate betragen kann. Weil "Startschwierigkeiten" des neuen Systems festgestellt werden, hat der Druck auf die Krankenkassen zumindest
bisher noch nicht abgenommen. Weshalb die UCM-Studie nicht ausschließen will, dass auch weiterhin 50-Jährige eine Invalidität "antizipieren" und den Krankenstand unter Älteren hoch bleiben lassen.
Sollte das durch ein besseres Funktionieren von Verwaltungen behoben werden können, lässt sich ein Phänomen wie die sehr häufigen Krankschreibungen jüngerer Grenzgängerinnen nicht so einfach auf administrative Akte beziehen. Höchstwahrscheinlich, sagt der UCM-Präsident, würden sie sich krank melden, falls ihr Kind krank wird und schon der rasche Arztbesuch am Wohnort scheitern kann, weil der Arbeitsweg nach Luxemburg lang ist. Während die UEL sich zur Problembehebung betriebsinterne Sensibilisierungsaktionen vorstellt, die an die Fairness zwischen einheimischen und ausländischen Arbeiterinnen appellieren sollen, hält LCGB-Sozialsekretär Marcel Mersch verbesserte Kollektivverträge für den besten Weg,
die Arbeiterinnen einen bezahlten Urlaub gewähren, falls deren Kinder erkranken. Wie etwa im Spitalbereich, wo dafür acht Urlaubstage pro Jahr festgeschrieben sind.
Ablehnend reagieren der LCGB, aber auch der OGB-L auf die von seiten des Patronats zuerst von der Fedil letzte Woche erhobene Forderung, neben verstärkten Kontrollen müsse man über eine "Eigenbeteiligung" der Arbeiter nachdenken. Eine Forderung, die Pierre Bley zufolge demnächst auch von anderen Patronatsverbänden zu erwarten ist. "Wenn Rationalisierungs-
und Effizienzdruck zunehmen, ist es doch klar, dass das die Leute krank macht", sagt OGB-L-Sozialsekretär René Pizzaferri. Und immerhin: Dass auch die Arbeitsbedingungen und das soziale Klima in den Betrieben einen Einfluss auf den Krankenstand haben können, legt die UCM-Studie nahe, wenn der Krankenstand sektorintern von Firma zu Firma erheblich differiert.
Diskutiert wird die Problematik derzeit schon innerhalb der Arcelor. Deren Direktion geht davon aus, dass das spektakuläre Ausgabenwachstum der CMOA zu tun hat mit der größeren Zahl älterer Stahlarbeiter. Allein: Nur rund drei Prozent dieses Ausgabenwachstums lassen sich laut UCM auf die Altersstruktur bei der Arcelor zurückführen, knapp 27 Prozent bleiben "unerklärlich". Sie werden jetzt mit den Gewerkschaften analysiert.
Denn auffällig ist, dass das Arbeiterkrankengeld sektorenübergreifend vor allem in den Jahren 2001 und 2002 zulegte. "Les seuls conjectures plausibles sont que cette augmentation généralisée soit influencée, d'une part, par le ralentissement de la croissance économique en 2001 et 2002 et, d'autre part, par l'augmentation des refus d'attribution de pensions d'invalidité et la continuation de l'indemnité pécuniare pour ces assurés", schlussfolgert die UCM vorsichtig.
Die Frage nach einem Missbrauch von Krankschreibungen wird damit auch an die Adresse der Betriebe gerichtet. Dass Arbeiter bei ihren Hausärzten um Krankschreibungen bitten würden, weil der Chef das will, bemerkte letzte Woche während der Chamber-Debatte des Gesetzentwurfs über die Ärztehonorare der ADR-Deputierte und Mediziner Jean Colombera. "Er hat Recht", sagt Arztkollege Alexandre Krieps von der DP, "das trifft vor allem für Arbeiter aus Handwerksbetrieben zu."
"Einfach nicht glaubhaft" ist Krankenscheinmissbrauch durch den Arbeitgeber zwar für UEL-Generalsekretär Bley. Doch allem Anschein nach werden von den Sozialpartnern dennoch Sanktionsmodelle diskutiert, die nicht nur in Richtung der Versicherten, sondern auch der Betriebsleiter gehen, wenngleich man sie zurzeit noch unter Verschluss hält. Deadline ist jedenfalls im Spätherbst.