Gewerkschaften zum Regierungsprogramm

Schonfrist für alle

d'Lëtzebuerger Land du 16.09.2004

„Ich finde mich im Prinzip an einer Reihe von Stellen wieder, aber leider nicht genug“, resümierte OGB-L-Präsident John Castegnaro am Dienstag nach der Sitzung des Nationalvorstands seine Haltung zum Regierungsprogramm von CSV und LSAP. Als LSAP-Abgeordneter hatte er am 30. Juli auf dem Bettemburger Kongress seiner eigenen Mehrheit aus ähnlichen Gründen eine „konstruktive Opposition“ angedroht.

Die Zeiten scheinen vorüber, als eine Regierungsbeteiligung der LSAP Garantie für die Unterstützung durch den OGB-L und die FNCTTFEL und damit für den sozialen Frieden war. Als die LSAP der verlängerte Arm des LAV war, und Gewerkschafter durch Osmose sozialistische Minister wurden.

Schon im Wahlkampf war der OGB-L demonstrativ auf Distanz zur LSAP gegangen und hatte mit für die Sozialisten provokativer Begeisterung den schwarz-blauen Haushaltsentwurf gelobt. Auch das Tageblatt gab sich Mühe, nicht als Parteizeitung der LSAP zu erscheinen, sondern höchstens als persönliches Wahlkampfblatt seines Verwaltungsratsvorsitzenden John Castegnaro.Soviel war klar, als der Nationalvorstand des OGB-L am Montag im Escher Volkshaus zusammen kam, um unter anderem die bereits in einer Presseerklärung vom 5. August versuchte Analyse des Regierungsprogramms zu bekräftigen. Und der Vorschlag, der neuen Koalition eine 100-tägige „Schonfrist“ zu gewähren, war nicht nur das übliche Zeichen von Großzügigkeit, sondern auch von Eigennutz.

Denn diese Schonfrist reicht in etwa von der Vereidigung der neuen Minister am 31. Juli bis zum fünften Nationalkongress des OGB-L am 26. und 27. November auf dem Kirchberg. Bei diesem Kongress soll nach Erreichen der statutarischen Altersgrenze Präsident John Castegnaro durch seinen designierten Nachfolger Jean-Claude Reding ersetzt werden.

Während Castegnaro noch aus der Arbeiterbewegungstradition der Schwerindustrie stammt, ist Reding der erste Präsident des OGB-L und seiner Vorgängerorganisationen, der kein Arbeiter ist. Der OGB-L ist heute auch die größte Angestelltengewerkschaft des Landes, und die Gewerkschaftskultur wird sich weiter verändern. Der Pädagoge Reding interessiert sich neben den traditionellen Themen der Arbeitswelt stärker für Bildungsfragen, die Gleichstellung von Frauen und Männern oder Umweltschutz, als es in der lange von Bergleuten und Stahlarbeitern geprägten Organisation üblich war.

Doch bis zum sorgsam vorbereiteten Machtwechsel steckt die Gewerkschaft in einer Übergangsphase, die durch den Ausflug ihres aktuellen Präsidenten in die Politik ziemlich unbequem geworden ist. Die der Regierung gewährte 100-tägige Schonfrist nützt deshalb nicht zuletzt dem OGB-L selbst.

Die Verdienste des charismatischen Präsidenten John Castegnaro stellt kaum jemand in Abrede. Denn mit dem OGB-L, der entsprechend dem neuen Kollektivvertragsgesetz gerade seinen Antrag auf Zuerkennung der nationalen Repräsentativität einreichte, hinterlässt er eine mitgliederstarke und einflussreiche Gewerkschaft in Zeiten, da die von Massenarbeitslosigkeit und Neoliberalismus geschwächten Gewerkschaften im Ausland über Mitgliederschwund und Einflussrückgang klagen.

Trotzdem hatten viele Mitglieder erwartet, dass Castegnaro nach seiner Wahl zum Abgeordneten am 13. Juni sofort den Gewerkschaftsvorsitz aufgäbe oder zumindest bis zum Kongress Ende November ruhen ließe – wie zum Beispiel LSAP-Minister Jean Asselborn den Parteivorsitz. Denn damit hätte er eher dem Geist, wenn nicht dem Buchstabe der Statuten gehorcht, die in Artikel 5.4.5. besagen, dass hauptamtliche Sekretäre, aber auch hauptamtliche Ausschuss- und Sicherheitsleute, Berufskammerpräsidenten und vergleichbare Mandatäre nicht Regierungsmitglieder, Abgeordnete, Staatsräte, Bürgermeister oder Schöffen sein dürfen.

Wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand, so bezweifelten manche Militanten von Anfang an, ob Castegnaro tatsächlich seiner auf ihre Unabhängigkeit pochenden Gewerkschaft einen Dienst erwies, als er für die LSAP an den Koalitionsverhandlungen teilnahm und sich als Abgeordneter vereidigen ließ, ohne auf den Vorsitz der Gewerkschaft zu verzichten. Denn gerade in Zeiten, in denen sich die Gewerkschaften in der Defensive wähnen, gehört die Glaubwürdigkeit zu ihren wichtigsten Gütern.

Diese Bedenken scheinen inzwischen um so berechtigter, als die Koalitionsverhandlungen für den Gewerkschaftsvorsitzenden zum Desaster wurden. Seit die Verhandlungen zum offenen Streit zwischen ihm und seiner Partei über die Finanzierung der Erziehungspauschale führten, sitzt er zwischen allen Stühlen. Wenn aber der Präsident der größten Gewerkschaft des Landes sich auf dem Bettemburger LSAP-Parteitag am 30. Juli beschweren musste, von den eigenen Parteikollegen während der Koalitionsverhandlungen wie ein „Aussätziger“ geschnitten worden zu sein, droht das ungewollt auch den Ruf seiner Gewerkschaft zu schädigen. Sicherheitshalber betonte das Tageblatt am Dienstag, dass die Zeichen des bevorstehenden Machtwechsels „weder zu übersehen[,] noch zu überhören“ seien, um so wenigstens bösartigen Gerüchten die Spitze zu brechen, seit er nicht Minister geworden sei, wolle Castegnaro nun auf Lebzeiten Gewerkschaftsvorsitzender blei

Romain Hilgert
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