In ihrem Koalitionsabkommen vom August 1999 stellten CSV und DP fest, dass die Verfassung von 1868 zwar ihre Probe bestanden habe. Doch zu Beginn eines neuen Jahrtausends halte die Regierung es für angebracht, ein neues Grundgesetz aufzusetzen, das der verfassungsrechtlichen und politischen Wirklichkeit des Landes Rechnung trage. Premier Jean-Claude Juncker sprach sogar in seiner Regierungserklärung 1999 von einem "Jahrhundertwerk".
Eine neue Verfassung ist laut Koalitionsabkommen vor allem durch die Entwicklung des europäischen und des internationalen Rechts nötig geworden. Sie müsse aber auch der Auslegung durch das neu geschaffene Verfassungsgericht Rechnung tragen.
Die neue Koalition hatte deshalb beschlossenen, eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der im Parlament vertretenen Parteien und den unvermeidlichen ausländischen Experten einzusetzen. Diese Arbeitsgruppe soll-te einen neuen Verfassungstext ausarbeiten, der zuerst vom Parlament angenommen und dann dem Volk in einem beratenden Referendum vorgelegt werden sollte. Zu diesem Zweck sollte dann auch ein Gesetz gestimmt werden, das die Organisation von Volksbefragungen regelt.
Die Revision von zwei Verfassungsartikeln genoss für CSV und DP laut Koalitionsabkommen höchsten Vorrang: Artikel 36 und 114. Nach vier Jahre stimmte das Parlament tatsächlich am vergangenen 26. November die bereits seit 1996 vorbereitete Revision von Artikel 114, um Verfassungsrevisionen ohne automatische Auflösung des Parlaments vornehmen zu können.
Die ebenfalls als vordringlich bezeichnete Revision von Artikel 36 sollte noch länger dauern. Das Parlament verabschiedete sie in einer der letzten Sitzungen der Legislaturperiode, am 12. Mai, so dass die für ein Inkrafttreten nötige zweite Lesung erst im Herbst stattfinden kann. Das Verwaltungsgericht hatte am 6. März 1998 entschieden, dass die bis dahin beliebten "arrêtés ministériels" und "règlements ministériels" gegen die Verfassung verstießen, weil der Großherzog das Monopol der Ausführungsbestimmungen von Gesetzen genieße. Durch einen Artikel 76 Absatz zwei soll die Verfassung künftig ausdrück-lich die Möglichkeit von Ausführungsbestimmungen durch die Minister vorsehen.
Doch das Jahrhundertwerk der großen Verfassungsrevision ist kläglich gescheitert. Und damit findet auch die Volksbefragung nicht statt, die den neuen, modernen Text demokratisch neu legitimieren sollte. Zuerst bildete sich Widerstand innerhalb von CSV und DP, der die Idee des im Koalitionsabkommen angekündigten Referendums zu Fall brachte. Offiziell mit der Begründung, dass ein Verfassungstext eine rechtlich derart komplexe Konstruktion sei, dass er das Verständnis des durchschnittlichen Wählers übersteige.
Der Vorschlag einer Volksbefragung wurde aber auch dadurch torpediert, dass jede öffentliche Debatte über Zweck und Inhalt eines neuen Grundgesetzes tunlichst vermieden wurde, die aber Voraussetzung und Kernstück eines Referendums sein müsste. Stattdessen verhandelten ein halbes Dutzend Abgeordnete hinter den verschlossenen Türen des parlamentarischen Ausschusses für Institutionen und Verfassungsrevision unter sich und zusammen mit dem nicht minder undurchsichtigen Staatsrat über Änderungen ausgewählter Artikel.
Dann war es bis heute nicht möglich, einen kohärenten Gesamttext vorzuschlagen. Und dies trotz Vorlagen, welche bereits vor zehn Jahren alle Parteien und danach die zur Hilfe gerufenen, sichertheitshalber sehr konservativen ausländischen Verfassungsrechtler eingereicht hatten.
Auf diese Weise wurde im Laufe der fünfjährigen Legislaturperiode im-mer-hin ein Dutzend Verfassungsartikel abgeändert. Dass diese Revision zu disparat war, um ein Referendum zu organisieren, ist möglich. Doch vielleicht wäre der politische Charakter dieser erwartungsgemäß ziemlich rechts ausgefallenen Revision auch nicht auf die ungeteilte Sympathie der Wähler gestoßen.
Denn die Modernisierung vieler Artikel besteht im Endeffekt darin, dass als überholt angesehene Sicherheitsbestimmungen aus dem 19. Jahrhundert abgeschafft wurden, welche die Bürger vor Übergriffen von Regierung und Parlament schützen sollten.
Das gilt zuerst für den erwähnten Artikel 114. Mit ihm wurde die Sicherheitsvorkehrung abgeschafft, die vorsah, dass zum Zweck einer Verfassungsrevision das Parlament erst einmal neu gewählt werden musste. So sollen künftig europäische und andere internationale Abkommen, die gegen die Verfassung verstoßen, ratifiziert werden, indem die Verfassung geändert wird, ohne dass das Parlament zuvor automatisch aufgelöst wird.
Das nicht unumstrittene Vollmachtengesetz wurde durch einen Verfassungsartikel 32 (4) ersetzt, der dem Großherzog, das heißt der Regierung, im Fall internationaler Krisen erlaubt, Gesetze drei Monate lang durch Ausnahmeerlasse außer Kraft zu setzen.
Andere Änderungen haben eher technischen Charakter und sind demnach auch weit von einem Jahrhundertwerk entfernt. So stimmte die Kammer etwa am 10. Februar in erster Lesung die Änderung der Artikel 63 und 65 der Verfassung. Dadurch braucht das Parlament Gesetze nicht mehr Artikel für Artikel abzustimmen, es sei denn, mindestens fünf Abgeordneten verlangten dies. Ausdrücklich in der Verfassung wird nun auch erwähnt, dass Abgeordnete mittels Vollmachten für Kollegen abstimmen können.
Doch während im Laufe der Legislaturperiode eine Reihe als veraltet angesehener Bestimmungen zum Schutz der bürgerlichen Freiheiten abgeschafft wurden, gewähren die Revisionen kaum neue Freiheiten: höchstens die Herabsetzung des passiven Wahlalters auf 18 Jahre und die Möglichkeit von Initiativen zu Volksbefragungen bei Verfassungsrevisionen.
Am 13. Mai wurde in zweiter Lesung eine Revision von Artikel 24 über die Pressefreiheit gutgeheißen. Sie hebt das Verbot von Kautionen und Stempelsteuern für die Presse auf und schafft das Kaskadenprinzip der presserechtlichen Verantwortung ab. Aber sie baut die Pressefreiheit nicht aus, indem sie beispielsweise ein Recht auf Information nach dem Prinzip des US-amerikanischen Freedom of Information Act verankert.
Noch karikaturaler fiel das Schicksal von Artikel 11 aus, der eine Reihe bürgerlicher Freiheiten von einem sehr liberalen Standpunkt des 19. Jahrhunderts aus gewährleistet. Er wurde vor zwei Wochen abgeändert, indem lediglich eine gegen das Gleichheitsgebot der Verfassung verstoßende, anachronistische Ausnahmeregelung für Standesorganisationen von Freischaffenden geschaffen wurde.
Dafür wurde kein einziges neues Grundrecht gewährt, gar nicht zu reden von in modernen Verfassungen üblichen Grundrechten der dritten Generation, das heißt zeitgemäßen Sozialrechten, von denen die Mehrheit und der Staatsrat fürchten, dass sie vor dem Verfassungericht einklagbar würden. Der auch von internationalen Organisationen vorgeschlagene verfassungsrechtliche Schutz des Streikrechts fand ebensowenig statt wie der versprochene Verfassungsauftrag zur Bekämpfung der Armut oder zur Integration Behinderter. CSV und DP wurden sich nicht einmal einig, positive Maßnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter verfassungsrechtlich abzusichern. Auch auf die im Koalitionsabkommen versprochene Erhebung des Umweltschutzes zum Verfassungsprinzip beziehungsweise der Nachhaltigkeit oder des von allen Parteien lebhaft gefeierten Tierschutzes wurde verzichtet.
Während sie also verschiedene als altmodisch bezeichnete Bestimmungen zum Schutz der bürgerlichen Freiheiten abschafften, haben CSV, DP und Staatsrat während der letzten Legislatur erfolgreich die liberale Ideologie des 19. Jahrhunderts in der Verfassung mit ihrer Beschränkung auf negative Rechte geschützt. Was soll man darüber noch das Volk befragen?