Was noch fehlte, war Eye of the Tiger oder Chariots of Fire, als Jean-Claude Juncker am Montagabend an der Spitze einer Reihe christlichsozialer Honoratioren den Versammlungssaal des Hesperinger Bürgerzentrums betrat. So war es nur Justiz- und Haushaltsminister Luc Frieden, Spitzenkandidat im Bezirk Zentrum, der den unangefochtenen Wahlkampfstar begrüßte. Hunderte waren gekommen, sorgfältig herbeigetrommelte Parteimitglieder, aber auch Vorwitzige, die den aus Funk und Fernsehen bekannten Alleinunterhalter einmal hautnah erleben wollten. Und vielleicht hatten sie Glück, war es gerade an diesem Abend, wenn er zum ersten Mal Wasser in Wein verwandeln würde.
Auch wenn das Spektakel, wie die Tournee eines Rockstars, Juncker on Tour hieß, herrschte im überfüllten Saal eher Butterfahrtatmosphäre unter den meist nicht mehr ganz jungen Mittelschichtlern. Jeder Besucher war mit einer Geschenktüte für sein Kommen belohnt worden, darin die traditionelle CSV-Wahlkampflandkarte, ein orangenfarbener Kugelschreiber und eine kräftige Apfelsine. Die Frucht sollte auf die neue Parteifarbe aufmerksam machen, seit die Schwarzen nicht mehr schwarz sein wollen. Die Hesperinger Bürgermeisterin und Kandidatin Marie-Thérèse Gantenbein-Koullen hatte sich als Hausherrin sogar von Kopf bis Fuß als Apfelsine verkleidet.
Eine Orange für jeden mag den überraschend anwesenden deutschen Botschafter an die Begrüßungsgeschenke für die armen Verwandten aus dem Osten erinnert haben. Vielleicht galt zuerst dem Botschafter der Schutz der Polizeibeamten in Zivil, die während des ganzen Abends im Türrahmen zwischen schwarzen Vorhängen mit Mustern der Sechzigerjahre und traurigen Holzpanelen standen. Jedenfalls traute sich kaum jemand im Saal, seine Apfelsine zu essen.
Neu am diesjährigen Wahlkampf waren die kontinuierliche Veröffentlichung von Meinungsumfragen und der bescheidene Beginn eines Starsystems. Laut Politbarometer des Tageblatts vom 12. Mai wünschten sich 92 Prozent der im einstmals roten Südbezirk von ILReS Befragten "eine wichtige Rolle" für Juncker. Und im April hatten sich 82 Prozent der landesweit von ILReS für RTL Befragten Juncker als nächsten Premierminister gewünscht, das heißt theoretisch alle CSV-, DP- und LSAP-Wähler zusammen. Spielt es bei soviel plebiszitärer Begeisterung da noch eine Rolle, dass am 13. Juni gar kein Premier gewählt wird, sondern bloß ein Parlament? Die nach einem starken Mann rufende Bürgerinitiative Wat fir eng Zukunft fir Lëtzebuerg? verlangt bereits die Direktwahl des Premiers nach dem Vorbild der französischen Präsidentschaftswahlen.
Soviel Starrummel um den unnahbaren Patriarchen Piere Werner oder den jovialen Onkel Jacques Santer wäre kaum vorstellbar gewesen. Doch auch wenn Juncker im internationalen Vergleich lediglich ein Provinzanwalt ist, der nie plädierte, der intelligenter als gebildet ist, spielt er hierzulande einsam in einer Liga für sich, an die die Kandidaten der anderen Parteien nicht herankommen.
Dabei ist seine Bilanz als Minister nicht nur von politischen Erfolgen gekrönt. Im Kapitel "Staatsministerium" hatte das Koalitionsabkommen eine Reform des Service de renseignements und des Pressegesetzes in Aussicht gestellt. Beide wurden, nicht ohne jahrelange Mühen, wenige Tage vor Ende der Legislaturperiode verabschiedet. Gescheitert ist dagegen die ebenfalls angekündigte große Verfassungsreform, die den Wählern im Rahmen einer Volksbefragung zur Abstimmung vorgelegt werden sollte. Im Laufe der Legislaturperiode wurden einzelne wichtige Verfassungsartikel geändert, wie jene über die Ratifizierung internationaler Abkommen, bei anderen sind sich die Mehrheitsfraktionen nicht einig geworden, wie jene über die bürgerlichen Rechte und Freiheiten. Aber das ist nicht unbedingt die Schuld des Staatsministers. Das Koalitionsabkommen versprach auch ein Rahmengesetz für die Organisation von Volksbefragungen. Das Projet de loi relative à l'initiative populaire en matière législative et au référendum wurde vor einem Jahr von Juncker im Parlament deponiert, aber dort liegt es noch heute.
"Zusammen mit Haushaltsminister Luc Frieden habe ich in den letzten Jahren 40 Prozent meiner Arbeitszeit auf eine für den Luxemburger Finanzplatz günstige Quellensteuerregelung verwandt", betont Juncker. Ob die Regelung tatsächlich so günstig sein wird, und ob die Rechnung auf geht, die Schweiz 2012 das Luxemburger Bankgeheimnis retten zu lassen, wird sich allerdings erst zeigen müssen. Aber weil die LSAP ihm schon in Feira einen patriotischen Waffenstillstand ge-schenkt hatte, kann der Finanzminister bis heute versuchen, sein Rückzugsgefecht als politischen Sieg darzustellen.
Die spektakuläre Senkung der Einkommens- und Körperschaftssteuer war ein Stück Kasinokapitalismus. Nicht nur weil Juncker sie um ein Jahr vorgezogen hatte, ohne seinen Kollegen rechtzeitig Bescheid zu sagen. Vor allem musste der Finanzminister, wie üblich, über den Daumen peilen, wie sich die Steuersenkungen auf die Staatsfinanzen auswirken würden. Aber für die ist bekanntlich Haushaltsminister Luc Frieden zuständig.
In seiner Wahlkampfrede am Montag bombardierte Juncker seine sichtlich überforderten Zuhörer eine Viertel Stunde lang mit Millionen und Prozenten, um ihnen als schwachen Trost vorzurechnen, dass das Wachstum noch höher und die Staatsfinanzen noch gesünder als bei den Nachbarn seien. Es kommt eben ungelegen, den Konjunktureinbruch von 2001 ein Jahr lang verschlafen zu haben, wenn man "de séchere Wee" verspricht.
Beim anderen großen Thema der Legislaturperiode, dem Rententisch, machte Juncker eine ganz einfach schlechte Figur. Er trug die Abmachungen als Regierungschef, bis sie Gesetzeskraft bekamen, und lehnte sie gleichzeitig mit seinen Warnungen vor der Rentenmauer und dem 700000-Einwohnerstaat ab. Während die von ihm forcierte Mammerent so unausgegoren ist, dass die Regierung bis heute daran herumdoktert.
Als traumatisches Erlebnis seiner Regierungszeit bezeichnet der Premier die Geiselnahme von Wasserbillig - aber auch, weil er sich mehr eingemischt hatte, als er hätte dürfen. Wenig heroisch war auch seine Position zu Beginn des derzeitigen Irakkriegs, als er sich nicht zwischen Bündnistreue und öffentlicher Meinung entscheiden wollte.
Das Bild eines riesigen Karabinerhakens im Rücken, einen weiteren Karabinerhaken vor sich am Rednerpult, zog Juncker am Montag gut gelaunt sein Publikum mit staatsmännisch Besinnlichem und den auf vielen Bezirks- und Landeskongressen erprobten Späßchen in seinen Bann. Immer in der Pose des aufgeklärten Monarchen, für den Demokratie vor allem heißt, einem noch leicht abergläubischen Volk redegewandt weiß zu machen, dass er schon am besten weiß, was sein Bestes ist - sei es Quellensteuer, Haushaltspolitik, doppelte Staatsbürgerschaft oder EU-Beitritt der Türkei.
Für seine Partei ist Juncker der Ka-rabinerhaken, der die CSV vor dem tödlichen Absturz schützt. Er ist ihr wichtigstes Wahlargument und ihr zentraler Programmpunkt. Juncker geht on Tour wie ein Rockstar, blickt als überlebensgroßer Staatsmann ernst von allen Plakatwänden, flippert jugendlich bei Planet RTL und besucht proletarisch das Grubenmuseum. Wofür die CSV außerdem steht, ist kaum noch zu erkennen.
So verdeckt sämtliche Widersprüche der Partei ein Mann, der selbst immer auch etwas Anderes sein will, als er ist. Er ist Christlichsozialer und will auch Sozialist sein, er ist Regierungschef und will auch als Opposition kritisieren, er verwaltet das Großherzogtum und will auch internationale Politik machen. Und vor allem soll er konservative Wähler mit dem séchere Wee" beruhigen und linke und liberale auf neue Bahnen führen.
Pech für die CSV, dass das Wahlgesetz auch einem Jean-Claude Jun-cker nur erlaubt, in einem einzigen Bezirk gewählt zu werden und von jedem Wähler nicht mehr als zwei Stimmen zu erhalten. Die Möglichkeit bleibt, dass tatsächlich viele Wähler im Süden zwei Stimmen an Juncker geben, aber den Rest bei der Konkurrenz panaschieren. Deshalb heißt die Losung der CSV landesweit: "Wer Juncker will, muss CSV wählen." Aber eines der Rätsel vom 13. Juni wird sein, in wieweit die Losung befolgt werden wird.
Ein anderes Rätsel, das monatelang die Gemüter bewegte und seine Glaubwürdigkeit in Zweifel stellte, ist plötzlich kein Thema mehr: Geht Juncker nach den Wahlen nach Brüssel? Vielleicht, weil er selbst nicht mehr mit seinem internationalen politischen Format kokettiert. Vielleicht, weil seine Chancen gesunken sind, ein britisches Veto zu vermeiden wie einst der Nachbar Jean-Luc Dehaene.