Als Des Menschen bester Freund, als reines Produkt der Massentierhaltung und als religiöser Symbolträger – die Spezies Mensch hat seit jeher ein kompliziertes, wenn nicht heuchlerisch gestörtes Verhältnis gegenüber seiner Fauna. Auch in der Kinosgeschichte sind die animalischen Repräsentationsvorschläge vielfältig. Der russische Dokumentarfilmer Wiktor Kossakowski versucht sich in Gunda jeglicher anthropomorphen Tendenz, die dem Kino seiner Ansicht nach inhärent zugrunde liegt, zu entbehren. Überhaupt scheint dieser Wunsch des Sich-Entbehren-Wollens auf einigen Ebenen naheliegend gewesen zu sein. Denn das Portrait einer Sau und ihrer neugeborenen Ferkel, sowie einer Hühner- und Rinderherde ist auf das Allerwesentlichste reduziert. Keine Off-Stimme, die dem Publikum etwas nahe zu bringen versucht, kein nicht-diegetischer Soundtrack und keine Farbe. Kossakowski befreit sich von allem, was den Blick von den Tieren abwenden könnte. Vor allem ist es die (fast totale) Abwesenheit des Menschens, die die formale Konsequenz des Films unterstreicht.
Die Kameras Wiktor Kossakowskis und von seinem Kameramann Egil Håskjold Larsen halten auf Gunda – so der Name der Sau im Mittelpunkt des Geschehens – und ihre Neugeborenen. Zuerst noch aus wenigen Metern Distanz vorm Stall, doch schon mit der nächsten Einstellung löst sich diese Distanz in Luft auf. Mensch wird Zeuge, wenn sich fast ein Dutzend noch nicht ganz getrockneter Ferkel über die Euter ihrer Mutter hermachen. Es wird schrill gequiekt und aneinander geprescht um an eine Zitze zu gelangen. Die Sau wiederum liegt zur Seite im Heu und grunzt in aller Seelenruhe vor sich hin, als ob sie diese lebensunterhaltende Attacke auf ihren Körper etliche Male durchlebt hat. Der 90-Minüter gönnt seinem Publikum und der titelgebenden Sau eine Pause und lässt nach jeweils einer halben Stunde wortwörtlich befreiende Zwischenspiele zu. Beim gefiederten Intermezzo fällt der Groschen nicht gleich, dafür bei den bovinen Artgenossen schneller – der Regisseur fängt die ersten Momente ein, wenn die Tiere vielleicht das erste Mal in ihrer Existenz auf weichen, saftigen Wiesenboden treffen. Die Kühe springen wild auf den ansonsten gemächlichen Hufen und rennen durchs monochromatische Grün, während die Hühner ihrer Freiheit zu Beginn nicht trauen. Die Gründe dafür muss keine Stimme erklären, die fängt die Kamera bildlich ein.
Einen Einblick in die Seele verschaffen. Das heilige Ziel in der Kinokunst. Wiktor Kossakowskis Gunda gelingt aber genau das. Ohne die üblichen Tipps und Tricks aus, die Mensch sonst tagein und tagaus im öffentlich-rechtlich, dahinvegetierenden Nachmittagsfernsehen sehen kann, gelingt dem Russen ein überwältigendes Portrait von lebenden Existenzen. Kossakowski und Håskjold Larsen gehen vor den Tieren auf die Knie und fangen diese auf Augenhöhe ein. Es ist verblüffend, wie viel alleine davon abhängig gemacht wird. In den wenigen Einstellungen, die die Kamera die tierischen Protagonisten von oben herab einfängt, löst sich die Magie der Form in Luft auf. Nicht fly on the wall, sondern fly on the ground ist die Devise. Gunda ist jedoch nicht nur der Versuch einer filmischen Deklination des Seelenlebens der Tiere, sondern auch ein Versuch dessen, wie eben diese Tiere ihre Umwelt aufnehmen. Das beste Beispiel dafür wäre, wie die Linse auf die Läufe eines Huhnes festhält, welche die Wiese und den weichen Boden unter ihnen mit jedem Schritt auf sich wirken lassen. Die schwarz-weiß Bilder, vermischt mit der präzisen Arbeit im Ton, machen diese Sequenz haptisch erfahrbar.
Gunda öffnet mit einer Einstellung vor der offenen Stall-Luke, nur um gleich mit einer langsamen Kamerafahrt nach vorne sein Publikum mitzunehmen. Auch wenn Wiktor Kossakowski des Menschen satt ist und diesen am liebsten aus seinem Film getilgt haben will, wird er den Menschen vor dem gefilmten Rahmen nicht los. Der Film lädt auf seine unausgesprochene Art und Weise ein, das eigene Verhältnis zu diesen Tieren neu oder wenigstens anders zu bewerten. Es ist alles andere als ein Zufall, dass sich der Russe Schwein, Huhn und Rind ausgesucht hat. Obschon Joaquin Phoenix den Film mitproduziert hat – selbst veganer Militant – ist Gunda zu keinem Zeitpunkt ideologische Propaganda. Allen voran ist Gunda eine Abhandlung über das Leben von Lebensformen, die wir Menschen so nicht einmal ansatzweise zu verstehen gedenken. Eingepackt als Vertreter des slow cinema – die letzte Einstellung dauert fast 20 Minuten – und ohne einen einzigen blutrünstigen Moment ist die Schlußsequenz trotzdem brutaler, als es eine Reportage aus einem Schlachthof jemals sein könnte.