Gleich zu Beginn der Filmfestspiele in Cannes während einer Pressekonferenz mit der internationalen Jury bot sich dem Brasilianer Kleber Mendonça Filho – Regisseur der mehr oder weniger aktivistischen Filme Neighboring Sounds, Aquarius und Bacurau – die Gelegenheit, auf die Situation des Landes aufmerksam zu machen. Vorab, dass in Brasilien über eine halbe Million Menschen mit oder an den Folgen von Covid gestorben sind. „We know from technical data that if the government had acted accordingly, 350 000 people would have been saved. (...) I could even mention what’s happening to the Brazilian cinematheque, which has been closed for just over a year now. 90 000 titles, 230 000 reels of film and television tapes. All the technicians and experts have been fired and this is a very clear demonstration of contempt for culture and cinema“, so Mendonça Filho in seiner kurzen Ansprache. Die Kritikerin und Kulturjournalistin Ela Bittencourt versuchte schon Mitte Mai im Kulturmagazin Frieze auf den desolaten Zustand der brasilianischen Kulturinstitutionen, unabhängig davon, ob nun öffentlich oder privat, aufmerksam zu machen – das British Film Institute sogar schon im August letzten Jahres – und einzuschätzen, wie realistisch ein Feuer im Filmarchiv sein könnte. Es wäre nur eine Frage der Zeit. Es sollten keine 14 Tage nach Ende des Festivals geschehen: um 18:00 Uhr Ortszeit brach in einer Lagereinrichtung der Cinemateca Brasileira ein Feuer aus.
Die Cinemateca Brasileira in São Paulo ist nicht nur das größte Filmarchiv in Brasilien, sondern auch auf dem südamerikanischen Kontinent. Seit den 1940ern sammelt es den brasilianischen audiovisuellen Output – sei dies nun der Beginn der lokalen Filmproduktion Anfang des 20. Jahrhunderts oder die Vertreter des Cinema Novo der 1960er und frühen 1970er-Jahre (das Kino von u.a Glauber Rocha) und natürlich zeitgenössisches Kino. Audiovisuell beschränkt sich jedoch nicht nur exklusiv auf kinematografische Werke. Um des Klischees Willen sei angemerkt, dass die Cinemateca Brasileira zum Teil auch Fernsehmitschnitte von Fussballspielen archiviert. Vom pädagogischen und grundsätzlichen Diffusionsauftrag des Archivs gar nicht mal zu reden. Wer von Jahrzehnte alten Filmarchiven redet, redet unmissverständlich auch von Filmen mit Zellulosenitrat als Schichtträger für die lichtempfindliche fotografische Emulsion. Und wem Quentin Tarantinos Klimaxsequenzen um das Mordkomplott der Nazispitze aus Inglourious Basterds ein Begriff ist, weiß, wie entflammbar Filmmaterialen auf Nitratbasis sein können.
Anfang des Monats jährte sich die Kündigung der ganzen Belegschaft des Filmarchivs seitens der brasilianischen Regierung. Eine Belegschaft aus über 60 Mitarbeiter/innen. Mal von der unrechtmäßigen Kündigung abgesehen wuchs die Angst um die Archivbestände. São Paulo ist jedoch nicht nur für hohe Temperaturen anfällig, sondern auch für nicht zu verachtende Schwankungen in Sachen Luftfeuchtigkeit und Niederschläge. Alles in allem Zustände, mit denen eine die Belegschaft umzugehen weiß. Wenn diese jedoch aus hanebüchenen ideologischen und politischen Gründen kastriert wird (das Archiv überlebte immerhin Jahrzehnte unter brasilianischer Militärdiktatur), können grundlegende und überlebenswichtige Wartungsarbeiten nicht durchgeführt werden. Ironisch geht Mensch davon aus, dass das Feuer ausgebrochen ist, während ein beauftragtes Drittunternehmen die Klimaanlage vor Ort überprüfen wollte. Vier Tonnen Dokumente und Zweitkopien, ein nicht-digitalisierter Teil der GlauberRocha-Sammlung, sowie wichtiges Material in Sachen Reparatur des maschinellen Bestandes sind in den Flammen verloren gegangen.
Die Budgetkürzungen sind nicht von heute auf morgen gekommen. Schon unter der Präsidentschaft Roussefs und Temets erfolgten solche Kürzungen, so wie auch die Verwaltung aus öffentlicher in private Hände einer Stiftung gingen. Unter Bolsonaro verschlimmerte sich die Situation jedoch drastisch. Nachdem dieser das Kulturministerium abschaffte und nach einem Skandal um den Direktorenposten den Vertrag mit der Stiftung kündigte, versiegten jegliche finanziellen Hilfen. Ein Gerichtsverfahren ließ einen Hoffnungsschimmer aufblitzen, doch das Feuer machte dieser Hoffnung einen Strich durch die Rechnung. So richtig überrascht war niemand, die Empörung lindert dies jedoch nicht. Regisseur/innen, Festivals und die FIAF, die Vereinigung der weltweiten Filmarchive, gaben ihrem Unmut gegenüber einem politischen Weltbild preis, welches auf dem Rücken einer globalen Krise und allgemeiner Ohnmacht politische Entscheidungen in Form von Privatisierungen oder Ausblutungen durchsetzt. Die Digitalisierung des kulturellen Erbes ist eine Methode der Konservierung, nicht das Ende der Konservierung. Und wenn Teile eines lokalen (Film)Archivs in Flammen aufgehen, ob nun aus einem Unfall heraus oder aus Missgunst seitens der politischen Entscheider – beides ist oft, und im Falle der Cinemateca Brasileira, nicht zu trennen – wird das früher oder später immer weltweite Auswirkungen auf die (film)kulturelle Kompetenzen haben.