Es gibt Theaterabende, an denen lässt man sich zu manchem Blick auf die Uhr hinreißen, in der Hoffnung, die Zeiger mögen schneller kreisen. Langatmige Passagen, sterile Inszenierungen blähen jede Minute zur erlebten Ewigkeit auf. Als sich an diesem Abend des 20. Mai das Ensemble des St. Pauli-Theaters auf die Bretter des Grand Théâtre begibt, um Arthur Millers Tod eines Handlungsreisenden zu spielen, fällt der Blick auch bisweilen auf die Armbanduhr. Szene für Szene nimmt die Handlung Fahrt auf, die Geschichte Gestalt an. Die fluoreszierenden Zeiger meiner Armbanduhr drehen sich an diesem Abend aber zu schnell. Als Linda die letzten Worte „Wir sind frei“ ausspricht, die ihr in der deutschen Übersetzung von Volker Schlöndorff in den Mund gelegt sind, ist ein genialer Theaterabend vorbei. Leider.
Ein Grund für diesen richtig großen Wurf lässt sich bereits an der Besetzung ablesen. Bis in die kleinsten Nebenrollen ist diese Bühnenarbeit hervorragend besetzt. Mit Burghart Klaußner ist dabei der Star des Abends genannt. Kongenial interpretiert der Berliner Darsteller und Musiker, bekannt etwa aus den Filmen Requiem (Hans-Christian Schmid, 2006) oder Das weiße Band (Michael Haneke, 2009), seine Rolle des Handlungsreisenden Willy Loman, der den Grundsätzen eines hohlen amerikanischen Traumes ohne Fertigkeit und mit leeren Phrasen nacheifert. Die ständigen Stimmungsschwankungen seines Alter Ego zwischen Hoffnung und Schmerz, Heuchelei und Bestimmung meistert Klaußner mit einer Natürlichkeit, die dem Zuschauer ein Maximum an Empathie ermöglicht. Einmal betont Willy drohend, in Neuengland „Da bin ich ’ne Größe. Ganz groß.“ Es sind nicht diese Worte, die Klaußner so mitleiderregend betont, es ist dieses bewusste Glucksen zwischen den Sätzen, ganz so, als widerstehe seine Gurgel der Artikulation einer flagranten Selbstlüge.
Es wäre jedoch unfair, die Vorstellung darstellerisch auf Klaußner zu reduzieren. Mit Margarita Broich als Ehefrau Linda Loman stellt Minks der Titelfigur einen ebenso herausragenden Gegenpart zur Seite. Als Linda ihren nichtsnutzigen Söhnen die Liebe zu ihrem Mann bekundet und von ihnen fordert, dem Vater den nötigen Respekt zu erweisen, erlebt das Publikum einen Moment, dem Zauber innewohnt. Da wird ein Darsteller zu seiner Figur. Broichs wässrige Augen drücken nicht nur die Müdigkeit eines ganzen Lebens aus, es wirkt, als lebten sie die Erschöpfung. Ihre Stimme bricht, am ganzen Körper zittert sie, ein Kostüm wird zur Kleidung.
Auch auf dem Niveau der Regie schafft es Minks hervorragend, diesen Abgesang an den amerikanischen Traum zu gestalten. Millers Text ist in Teilen wie eine Collage konzipiert. Rückblenden schleichen von der Seite ein, ohne als solche eingeführt zu werden. Figuren treten auf, die mal ein Produkt von Willys Halluzination, mal seiner Erinnerung sind. Dieses Hin und Her an Realität und Surrealem gewinnt durch Timing und subtile Lichttechnik an Kontur. Die Traumwelt tritt aus Nebenräumen, mit lichtreflektierenden Spiegeln ausgestattet. Als Willy eines nachts an der Holzwand des Hofes werkelt, im Glauben, immerzu tätig eine Mauer einzuziehen, rollt von links und rechts eine eben solche Wandhälfte herbei. Als Willy begraben wird und seine Familie im Anschluss an die vorige Szene kurzerhand einen schwarzen Mantel überwirft, sitzt der Familienvater noch immer an der Seite, abgedunkelt, aber gut erkenntlich. Nun wird er Erinnerung sein. Seine nächtlichen Selbstgespräche führt die Titelfigur manches Mal hinter einer durchsichtigen Stoffwand, an der eine Dollarnote mit der Aufschrift „In God we trust“ zu erkennen ist. Auf diese etwas zu klischeehafte Requisite beschränken sich die Schwächen der Produktion.
Der Rückblick auf diesen hervorragenden Theaterabend sollte abgeschlossen werden mit einer Textstelle von Miller, wie sie hier in zu geringer Maße Raum gefunden haben: „In diesem Hof muss man sich das Genick brechen, um einen Stern zu sehen.“ Willy Loman bricht sich das Genick. Doch wer einen Stern erblickt, der weiß, er ist eigentlich bereits Vergangenheit.